Camera Austria International

140 | 2017

  • SHVETA SARDA
    Raqs Media Collective: Manifeste Texte und latente Bilder: Anmerkungen und Einträge zur nahen Vergangenheit einer Praxis
  • RAQS MEDIA COLLECTIVE
  • YASMINE EID-SABBAGH
    Miki Kratsman: Bürgerrechte wiederherstellen
  • MIKI KRATSMAN
  • ESTELLE BLASCHKE
    Armin Linke: Eine Fülle an Möglichkeiten
  • ARMIN LINKE

Vorwort

»Es gibt Leute, die wollen, dass die Vergangenheit sich wiederholt, und die sorgen entsprechend dafür, dass wir uns nicht an sie erinnern«, zitiert Priya Basil Paul Krugman im aktuellen Lettre International Nr. 118. Ich kann mir kaum eine treffendere Beschreibung der sich nun auch in Österreich nach den letzten Nationalratswahlen abzeichnenden Konsolidierung reaktionärer politischer Kräfte vorstellen, die sich immer mehr in eine sich abschottende, ethnisch reine Gegenwart als Vergangenheit träumen, und deren Gewalt in der Verdrängung der Erinnerung an die sich ständig im Fluss, in Veränderung, Durchmischung, Auflösung und Neuerfindung befindliche Region besteht, die sich Europa nennt. Wohlstandsgetriebene Angst vor Verlust, vor einem Anderen, das, obwohl im Grunde unbekannt, als Gefahr erachtet wird für eine Identität, die es nie gegeben hat. Was tun angesichts einer Scheinpolitik, die nur mehr durch Gesetzesverschärfungen regiert, im Gewand von Medienkampagnen, Twitter und Selfies?

Volltext

Camera Austria International 140 | 2017
Vorwort

»Es gibt Leute, die wollen, dass die Vergangenheit sich wiederholt, und die sorgen entsprechend dafür, dass wir uns nicht an sie erinnern«, zitiert Priya Basil Paul Krugman im aktuellen Lettre International Nr. 118. Ich kann mir kaum eine treffendere Beschreibung der sich nun auch in Österreich nach den letzten Nationalratswahlen abzeichnenden Konsolidierung reaktionärer politischer Kräfte vorstellen, die sich immer mehr in eine sich abschottende, ethnisch reine Gegenwart als Vergangenheit träumen, und deren Gewalt in der Verdrängung der Erinnerung an die sich ständig im Fluss, in Veränderung, Durchmischung, Auflösung und Neuerfindung befindliche Region besteht, die sich Europa nennt. Wohlstandsgetriebene Angst vor Verlust, vor einem Anderen, das, obwohl im Grunde unbekannt, als Gefahr erachtet wird für eine Identität, die es nie gegeben hat. Was tun angesichts einer Scheinpolitik, die nur mehr durch Gesetzesverschärfungen regiert, im Gewand von Medienkampagnen, Twitter und Selfies? Müssen wir – ein zugegebenermaßen hegemonialer Begriff für eine in höchstem Maße diversifizierte Landschaft von KulturproduzentInnen – uns nicht ständig daran erinnern, dass unsere Agenden in den letzten Dekaden genau dieser Entwicklung entgegenzuwirken versucht haben? Welche instituierenden und institutionalisierenden Prozesse haben wir diesbezüglich auf den Weg gebracht, die gegenwärtig durch Kürzungen von Finanzierungsbeiträgen und politischen Druck schon wieder an den Rand ihrer Existenzfähigkeit gebracht werden? Und – vielleicht nur ein Nebenschauplatz – was bedeuten die massiven Kritiken an der documenta 14 für die Rahmenbedingungen, diese Fragen in Zukunft auf der Ebene von kulturellen Großveranstaltungen verhandeln zu können – oder auch nicht? Welche Spielräume bleiben uns in den nächsten Jahren, um Räume bereitstellen zu können, in denen Fragen nach dem Gemeinwohl, nach Gemeinschaft, nach den Möglichkeiten von Kritik und nach der alles entscheidenden Vorstellung, alles könnte auch anders sein, überhaupt noch gestellt werden können?

Es entspricht nicht unserem Selbstverständnis der Kooperation mit KünstlerInnen, diese Fragen stellvertretend für die Verantwortung der Institution Camera Austria auf diese abzuwälzen, sich der criticality der Kunstproduktion zu bedienen, um für sich selbst einen – zweifelhaften – Status der Widerständigkeit zu reklamieren. Deshalb wird an dieser Stelle erstmals seit vielen Jahren nicht auf die besondere Bedeutung der in dieser Ausgabe vorgestellten künstlerischen Positionen oder deren politische Relevanz eingegangen, oder versucht, diese zu vermitteln. Wir denken, dass deren Stoßrichtungen durch ihre Beiträge selbst nachvollziehbar sind. Doch in welchen gesellschaftlichen Raum stoßen diese Beiträge heute, wenn, wie Benjamin Buchloh in seinem in Artforum publizierten Nachruf auf Allan Sekula konstatierte, eine totale Depolitisierung scheinbar Voraussetzung für kulturelle Anerkennung ist?

Immer wieder haben wir in den letzten Jahren das Verhältnis von Kunst/fotografischen Praktiken und Politik angesprochen – und dabei schon befürchtet, die Geduld unserer LeserInnen überzustrapazieren. Vor nicht allzu langer Zeit hat etwa Tom Holert das politische Potenzial von Kunst gerade in »einer Nichtidentität von Kunst und Politik« gesehen. »In der Berührung, die eine Modifikation der Art und Weise hervorruft, wie die Möglichkeiten des Handelns, der Intervention in bestehende Ordnungen, imaginiert werden können, liegt eine entscheidende Aufgabe der Kunst. Eine solche Wirkung entzieht sich der Messbarkeit. Sie verweist auf Momente des Politischen, die am Anfang von Veränderungen stehen, deren Bezug zur Kunst nie offensichtlich, immer fragwürdig ist. Und dennoch unbestreitbar.« (Camera Austria International Nr. 129 / 2015). Wo aber zeichnen sich diese Anfänge ab, angesichts der unbestreitbaren Revisionismen, die dabei sind, die politischen, gesellschaftlichen, sozialen, feministischen etc. Projekte seit 1968 zu demontieren?

Im Jahr 2000 hat für uns der Grazer Künstler Jörg Schlick angesichts der Regierungskoalition von ÖVP und FPÖ in Österreich die »schwarze Ausgabe« Camera Austria International Nr. 69 gestaltet: ein schwarzes Cover, schwarz bedruckte Seiten auf den damals üblichen unterschiedlichen Papiersorten im Kern. Neben dem Impressum lautete der einzige Text auf jeder rechten Seite: »ÖSTERREICH 2000«. Beigelegt war ein Brief des Herausgebers Manfred Willmann und der Chefredakteurin Christine Frisinghelli, in dem im Namen des Redaktionsteams die fragile Autonomie künstlerischer Äußerungen angesprochen wird und die umkämpfte Position, von der aus gesprochen werden kann. Das Cover der vorliegenden Ausgabe blickt buchstäblich auf dieses Cover zurück, nimmt es nochmal in den Blick, versucht, es neu zu befragen und neu in Umlauf zu bringen, gleichzeitig konsterniert über seine Aktualität. In den drei folgenden Ausgaben desselben Jahres, Nr. 70, 71 und 72, wurden Reaktionen, Statements, Briefe und künstlerische Beiträge veröffentlicht, die einerseits auf die Zeitschrift, andererseits natürlich auf die damalige politische Situation reagierten. Das Team der Fotoabteilung des Stadtmuseums in Münster schrieb etwa: »Wir befürworten die Konsequenz Ihrer politischen Haltung. Wir hoffen auch in Zukunft auf Ihre eindeutige Meinung zur politischen Lage in Europa«. Haben wir in den Jahren seither dieser Aufforderung entsprochen? Eine damalige Grazer Gemeinderätin der FPÖ fragte: »Die Farbe Schwarz, sehr geehrter Herr Stadtrat [damals Helmut Strobl, ÖVP, Anm. d. A], mag für Sie vielleicht einen gewissen Reiz haben, ich stelle daher […] die Anfrage […], ob es in Ihrem Sinn ist, dass Förderungsmittel der Stadt Graz dafür eingesetzt werden, Druckwerke wie die letzte Ausgabe von Camera Austria herauszugeben?« Nun, die Stadt Graz hat damals ihre Förderung nicht gekürzt, sehr wohl ist es aber in den letzten Jahren zu Kürzungen der Förderungen gekommen.

Jüngst wurde das Forum Stadtpark in Graz, Ausgangspunkt des Projektes Camera Austria, wegen einer Konferenz zum zivilen Ungehorsam mit gleichzeitig stattgefundenen Sachbeschädigungen in der Stadt in Zusammenhang gebracht: Der politische Druck auf Kulturinstitutionen, die den Status quo, das Vergessen der Geschichte, um ihre Wiederkehr – als Farce? – zu ermöglichen, in Frage stellen, steigt. Sie mögen dies als lokale Ereignisse abtun, die Veränderung der politischen Rhetorik der letzten 17 Jahre, von »ordentlicher Arbeitspolitik«, »Sozialtourismus«, »Leitkultur«, »Lügenpresse« oder »Obergrenze« und »Überfremdung« bis »Gutmensch«, ganz zu schweigen von den unsäglichen und großteils nicht sanktionierten Äußerungen der AfD in Deutschland, spricht eine andere Sprache.

Auch das, was einmal Kulturpolitik war, blieb und bleibt davon nicht unbeeinträchtigt. Wir rufen Sie mit diesem Vorwort daher auf, den Kunst- und Kulturinitiativen Ihrer unmittelbaren Umgebung jene Aufmerksamkeit und Unterstützung zu schenken, die sie sich angesichts des veränderten politischen Zugriffs auf ihre devianten, randständigen, minoritären, unverständlichen, idiosynkratischen, autonomistischen und möglicherweise kaum vermittelbaren Themen, Formate und Inhalte verdienen – sonst drohen sie zu verschwinden.

Reinhard Braun
und das Camera Austria-Team
Dezember 2017

Cover: Camera Austria International Nr. 69 / 2000.

Beiträge

Forum

Vorgestellt von der Redaktion:
Christina Werner
Dieter De Lathauwer
Carmen Catuti
Eva O’Leary
Alexandra Lethbridge
Verena Winkelmann

Ausstellungen

Warsaw Gallery Weekend
Verschiedene Orte
JAKUB MAJMUREK

G. R. A. M.: Der Regenschirm, die Schaufeln und der koreanische Tanz
Fotohof Salzburg
BRIGITTE KOVACS

Wolfgang Tillmans’ Plakate zur deutschen Bundestagswahl
RAIMAR STANGE

War of Pictures 1945 – 1955. Pressefotografie und Bildkultur im befreiten/besetzten Österreich
Tagung an der Universität Wien
SABINE WEIER

Where Are We Now? Retrospective views, presentiments & departures into the unknown. steirischer herbst 2017
Verschiedene Orte
MARGIT NEUHOLD

Hildegarde Duane: Western Woman
Künstlerhaus Stuttgart
MARIE HIMMERICH

Trigger: Gender as a Tool and a Weapon
New Museum, New York
LARA ATALLAH

Stealing from the West – Cultural Appropriation as Postcolonial Retaliation
Pluriversale VII, Köln
JENS MAIER-ROTHE

Christoph Draeger und Heidrun Holzfeind: From Without And From Within [The Auroville Project]
Tiroler Künstler*schaft – Kunstpavillon, Innsbruck
CHRISTINA TÖPFER

Farewell Photography. Biennale für aktuelle Fotografie
Heidelberg, Ludwigshafen, Mannheim, verschiedene Orte
MAREN LÜBBKE-TIDOW

Jan Groover
GAK Gesellschaft für Aktuelle Kunst Bremen
ANDREAS PRINZING

Stefan Burger
Kunsthalle Bern
JÖRG SCHELLER

Sascha Weidner: It’s all connected somehow. Nachlasssichtung I
Sprengel Museum Hannover
MORITZ SCHEPER

The Still Point of the Turning World. Between Film and Photography
FOMU Antwerpen
TACO HIDDE BAKKER

Agnès Geoffray: Before the Eye Lid’s Laid
Centre photographique d’Ile de France, Pontault-Combault
MICHÈLE COHEN HADRIA

Bücher

Reportagen, historisch-kritisch editiert
Richard Whelan: This is War! Robert Capa at Work
International Center of Photography, New York; Steidl, Göttingen 
Gordon Parks: A Harlem Family 1967
The Studio Museum in Harlem; The Gordon Parks Foundation, New York; Steidl, Göttingen
David Campany: Walker Evans. The Magazine Work
Steidl, Göttingen
JAN WENZEL

Pía Elizondo: The Fall
Eigenverlag, Paris 2017
MIRIAM ROSEN

Carlos Spottorno und Guillermo Abril: Der Riss
avant-verlag, Berlin 2017
SOPHIA GREIFF

Katharina Sykora, Kristin Schrader, Dietmar Kohler, Natascha Pohlmann, Daniel Bühler (Hg.): Das fotografische Dispositiv. Valenzen fotografischen Zeigens
Kromsdorf/Weimar: Jonas Verlag
GISLIND NABAKOWSKI

Abigail Solomon-Godeau: Photography after Photography. Gender, Genre, History
Duke University Press, Durham
WENDY VOGEL

Herta Wolf: Zeigen und / oder beweisen? Die Fotografie als Kulturtechnik und Medium des Wissens
de Gruyter, Berlin
PAUL MELLENTHIN

ÖsterreichBilder – Facing Austria
Fotohof edition, Salzburg
ULRIKE MATZER

Martine Stig: Noir
Fw:Books, Amsterdam 2016
ORIT GAT

Oliver Decker, Frank Berger, Falk Haberkorn: Vom KZ zum Eigenheim. Bilder einer Mustersiedlung
zuKlampen, Springe
SUSANNE HOLSCHBACH

Impressum

Herausgeber: Reinhard Braun

Verlag, Eigentümer: Verein CAMERA AUSTRIA. Labor für Fotografie und Theorie.
Lendkai 1, 8020 Graz, Österreich

Redaktion: Margit Neuhold, Christina Töpfer, Sabine Weier.

ÜbersetzerInnen: Dawn Michelle d’Atri, Nicholas Huckle, Amy Klement, Wilfried Prantner.

Englisches Lektorat: Dawn Michelle d’Atri.

Dank: Estelle Blaschke, Carmen Catuti, Dieter De Lathauwer, Yasmine Eid-Sabbagh, Susanne Gamauf, Vassiliki Gortsas, Ferial Karrasch, Hannes Klug, Zoran Koletic, Miki Kratsman, Eva O’Leary, Alexandra Lethbridge, Armin Linke, Sonia May, Yasmin Meinicke, Megan Mulry, Klaus Nellen, Raqs Media Collective, Shveta Sarda, J. Emil Senne-wald, Maren Lübbke-Tidow, Franziska von Plocki, Barbara Wais, Christina Werner, Verena Winkelmann.

Copyright © 2017
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit vorheriger Genehmigung des Verlags. Für übermittelte Manuskripte und Originalvorlagen wird keine Haftung übernommen.

ISBN 978-3-902911-38-4
ISSN 1015 1915
GTIN 4 19 23106 1600 5 00140