Camera Austria International

98 | 2007

  • ARNO VAN ROOSMALEN
    Călin Dan: Emotionale Architektur
  • CALIN DAN
  • WOLFGANG BRÜCKLE
    Timm Rautert: Ein Gespräch über "Deutsche in Uniform" und andere Arbeitsfelder
  • TIMM RAUTERT
  • BRETT ASHLEY KAPLAN
    Susan Silas: Über "Helmbrechts walk"
  • SUSAN SILAS
  • KIRSTY BELL
    Christine Würmell
  • CHRISTINE WÜRMELL
  • RAINER BELLENBAUM
    Dispositiv-Wechsel

Vorwort

W.J.T. Mitchell hat in seinem Aufsatz „Imperial Landscape“ die Landschaft „als Ort der Amnesie und Auslöschung, als strategischen Schauplatz zum Begraben der Vergangenheit und zur Verschleierung der Geschichte durch ‚Naturschönheit'“ erforscht. Für die Künstlerin Susan Silas und ihr Projekt „Helmbrechts walk, 1998 – 2003“ fungiert sie ganz im Gegenteil als ein möglicher Ort zur Entzifferung von Gewalt, mit ihr ruft sie in ihrer Arbeit zum Widerstand gegen die Amnesie auf. In der zu einer Mappe zusammengefassten Fotoserie dokumentiert Silas Ausschnitte der Route eines Todesmarsches von 580 jüdischen Frauen, ausgehend von Helmbrechts in Bayern bis in die damalige Tschechoslowakei, knapp nach Kriegsende im Frühjahr 1945. 53 Jahre nach diesem Ereignis ist Silas den Weg dieser Frauen noch einmal gegangen. Das Drama dieses Marsches kombiniert sie mit gewaltgesättigten Nachrichten aus demselben Zeitraum, womit ihr eine vielschichtige künstlerische Analyse dieser größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts gelingt. Autorin Brett Ashley Kaplan liest die Theorien W.J.T. Mitchells und die Kunst Susan Silas‘ gegen- und nebeneinander, um Kongruenzen und Differenzen herauszuarbeiten, aber auch, um am Ende zu zeigen, dass die Bilder in Silas‘ „Helmbrechts walk“ die häufige Verschleierung von Gewalt in der traditionellen Landschaftsdarstellung enthüllen, dass sie so das Potenzial der Landschaft als Schauplatz des Vergessens hinterfragen und zugleich die Landschaftstradition von ihrer ästhetischen Beschmutzung durch die Ideologie des Faschismus befreien können.

Volltext

Camera Austria International 98 | 2007
Vorwort

W.J.T. Mitchell hat in seinem Aufsatz „Imperial Landscape“ die Landschaft „als Ort der Amnesie und Auslöschung, als strategischen Schauplatz zum Begraben der Vergangenheit und zur Verschleierung der Geschichte durch ‚Naturschönheit'“ erforscht. Für die Künstlerin Susan Silas und ihr Projekt „Helmbrechts walk, 1998 – 2003“ fungiert sie ganz im Gegenteil als ein möglicher Ort zur Entzifferung von Gewalt, mit ihr ruft sie in ihrer Arbeit zum Widerstand gegen die Amnesie auf. In der zu einer Mappe zusammengefassten Fotoserie dokumentiert Silas Ausschnitte der Route eines Todesmarsches von 580 jüdischen Frauen, ausgehend von Helmbrechts in Bayern bis in die damalige Tschechoslowakei, knapp nach Kriegsende im Frühjahr 1945. 53 Jahre nach diesem Ereignis ist Silas den Weg dieser Frauen noch einmal gegangen. Das Drama dieses Marsches kombiniert sie mit gewaltgesättigten Nachrichten aus demselben Zeitraum, womit ihr eine vielschichtige künstlerische Analyse dieser größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts gelingt. Autorin Brett Ashley Kaplan liest die Theorien W.J.T. Mitchells und die Kunst Susan Silas‘ gegen- und nebeneinander, um Kongruenzen und Differenzen herauszuarbeiten, aber auch, um am Ende zu zeigen, dass die Bilder in Silas‘ „Helmbrechts walk“ die häufige Verschleierung von Gewalt in der traditionellen Landschaftsdarstellung enthüllen, dass sie so das Potenzial der Landschaft als Schauplatz des Vergessens hinterfragen und zugleich die Landschaftstradition von ihrer ästhetischen Beschmutzung durch die Ideologie des Faschismus befreien können.

Arbeitet Kaplan in ihrem Beitrag zu Susan Silas heraus, dass der Wald für die deutsche Kultur ein signifikantes Leitmotiv des Nationalismus war, so ließe sich diese Deutung in abgewandelter Form sicherlich auch auf das Phänomen der Uniform anwenden. Umso interessanter nimmt sich vor diesem Hintergrund ein Projekt von Timm Rautert aus den Jahren 1974 – 1975 aus: „Deutsche in Uniform“. In einem Gespräch mit Rautert widmet sich Autor Wolfgang Brückle diesem Fotozyklus und anderen Arbeitsfeldern des Künstlers. Rauterts Werk zeichnet sein forschender Blick auf die aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängten gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsbereiche aus, der Untertitel zu einer jüngeren Serie könnte über der Mehrzahl seiner Arbeiten stehen: „Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben“ (1995). Rautert geht es mit seiner dokumentarischen und konzeptuellen Fotografie um das Herausarbeiten eines spezifischen habituellen Moments, um Haltungen und Obrigkeitshörigkeiten, um den Einzelnen, der sich in der Uniform verstecken und in der Masse aufgehen konnte. Der Aspekt, inwieweit in der Uniform etwas spezifisch Deutsches potenziert auftritt, hat den Künstler in dieser Arbeit dabei auch begleitet.

Mit einem Beitrag von Arno van Roosmalen über das Werk des rumänischen Künstlers Calin Dan möchten wir Ihnen in dieser -Ausgabe den abschließenden Beitrag von Camera Austria zum documenta 12 Magazine project zur Diskussion vorschlagen. Seit einem Jahr – in der Auseinandersetzung mit der sozialaktivistischen und fotopolitischen Arbeit von Jo Spence (Camera Austria Nr. 94/2006), mit dem Projekt eines nationalen Bild-Archivs für Kurdistan der amerikanischen Künstlerin Susan Meiselas (Camera Austria Nr. 95/2006), mit dem Projekt der „NSK Garde“ der slowenischen Künstlergruppe IRWIN (Camera Austria Nr. 96/ 2006), mit den bildpolitischen Themen der deutschen Konzeptkünstlerin Anna Oppermann (Camera Austria Nr. 96/2006), zuletzt mit den Inszenierungen von Körpersprache des estnischen Künstlers Mark Raidpere (Camera Austria Nr. 97/2007) – wird hier eines der zentralen Themen unserer Arbeit: die sozialen Verwendungsweisen der Fotografie, anhand exemplarischer künstlerischer Positionen zur Diskussion gestellt. Die genannten Beiträge zur Fragestellung der documenta 12 „Was ist das bloße Leben?“ möchten wir nun mit der Präsentation der Arbeit von CalinDan abschließen und sie unseren LeserInnen zur kritischen Lektüre zur Verfügung stellen.
Calin Dans künstlerische Arbeit muss vor dem Hintergrund der schwierigen politischen Lage des Ceausescu-Regimes in Rumänien gesehen werden, die den Historiker Calin Dan dazu herausgefordert hat, sich von Beginn an politisch zu Wort zu melden. Schon früh versuchte er deshalb, mit seinen kunstpolitischen Interventionen nicht nur ein Forum für seine eigene künstlerische Arbeit zu etablieren, sondern betätigt sich gleichermaßen als Kurator und Kunst- bzw. Kulturkritiker. Bald nach der Revolution im Dezember 1989 konnte er so 1992 die Leitung des Soros Center for Contemporary Art in Bukarest übernehmen und avancierte binnen kürzester Zeit zu einer der zentralen Figuren der rumänischen Kunstszene – um nur wenig später Rumänien zu verlassen. Gleichwohl beschäftigt er sich in seiner künstlerischen Arbeit nahezu ausschließlich weiterhin mit der Geschichte, Struktur und Architektur der Stadt Bukarest und des Landes Rumänien. In seinen Fotografien und Videoarbeiten – denen oftmals ein performativer Zugang zugrunde liegt, und die er mit dem Stichwort „emotional architecture“ zusammenfasst – verbinden sich sehr persönliche Momente seiner Beziehung zur Stadt, zu der nach vielen Seiten hin offenen folkloristischen Tradition seines Landes, zu historischen Gegebenheiten, die er mit der Analyse der vorgefundenen (Macht-)Architektur verknüpft, wie unser Autor Arno van Roosmalen ausführt: „Calin Dans Ansatz ließe sich als eine Mischung aus analytischer Untersuchung und persönlicher Empfindung charakterisieren. Er nimmt Funktion, Erfahrung, Bedeutung und emotionalen Wert von Architektur und urbaner Umwelt unter die Lupe. Mit seinen Stadtbeobachtungen, Kiezerkundungen, dem Kontakt mit BewohnerInnen und BesucherInnen und der intensiven Auseinandersetzung mit der Tradition entwickelt er eine nahezu psychoanalytische Betrachtungsweise.“

Die Arbeit von Christine Würmell haben wir bereits in der Ausstellung „First the artist defines meaning“ im Sommer letzten Jahres in den Ausstellungsräumen von Camera Austria im Kunsthaus Graz vorgestellt. Hier verschränken sich verschiedene Zitate aus dem Feld der zeitgenössischen Kunstgeschichte sowie dem der alltagskulturellen, gesellschaftlichen und politischen Gegenwart zu einem dichten Tableau von Erzählungen, mit denen die Künstlerin neue Situationen konstruiert und überraschende Denkräume öffnet. Durch das komplexe Zusammendenken und Zusammenführen unterschiedlicher Referenzsysteme aus Kunst und (mediatisiertem) Alltag bildet sich eine Folie, vor deren Hintergrund sich der Raum für neue Narrationen des Politischen bzw. einer Re-Politisierung ästhetischer Diskurse eröffnet. Zentral für ihre für Graz entwickelte vielteilige Installation „Who’s Afraid of Magenta, Yellow and Blue?“ war das Arbeiten mit „Farbbomben“, die sie an die Wand des Ausstellungsraumes warf. Die aus diesem performativen Prozess gewonnenen Farbflächen dienten ihr als Grund für die zu konstruierenden Geschichten, die Kirsty Bell zum Ausgangspunkt nahm für eine Einführung in das Werk der in Berlin lebenden Künstlerin.

In der ab dieser Ausgabe erscheinenden vierteiligen Kolumne setzt sich unser Autor Rainer Bellenbaum mit den variablen Dispositiven von Kino- und Ausstellungsraum sowie den daran gekoppelten bildnerischen, dramatischen und erzählerischen Praktiken auseinander: Wie produziert das Nebeneinander von Laufbildern (im Dunklen) und ausgestellten Bildern (im Hellen) die Aufteilung des Sinnlichen? Was ermöglicht die variable Sichtbarmachung an neuer Subjektivierung? Für den ersten Teil seiner Kolumne setzt er sich beispielhaft mit den Präsentationsweisen von Fotografien und Filmen des französischen Dokumentaristen Raymond Depardon auseinander.

Abschließend möchten wir Sie auf die Art Basel und das Art Forum in Berlin hinweisen, auf denen Sie Camera Austria auch in diesem Jahr wieder mit einem Messestand antreffen können. Außerdem wird Camera Austria auch im Rahmen des documenta 12 Magazine project während 100 Tagen in Kassel sichtbar sein: Wir laden Sie in die documenta-Halle zu Gesprächen und Vorträgen ein, um den kritischen Diskurs um künstlerische Praxis mit unseren KünstlerInnen, AutorInnen und LeserInnen in einem öffentlichen Forum fortzuführen.

Christine Frisinghelli

Beiträge

Forum

NICOLE BOGENDORFER

LIZ COCKRUM

MICHELLE SANK

MARRIGJE DE MAAR

ANNE LASS

JOSEF KLEINE

JEANNE FRISCIA

ROBERT BALL

Ausstellungen

Regarder VU. Magazine Photographique 1928 – 1940
MIRIAM ROSEN

Abstracts of Syn
MANISHA JOTHADY

FERRY RADAX: Fotografische Arbeiten 1995 – 1970 / Konzeptuelle Fotografie aus Sammlungsbesitz
TANIA HÖLZL

Fotografie aus Kroatien: PETAR DABAC, MARE MILIN
MANISHA JOTHADY

HERWIG KEMPINGER: Digital Sky and Flat Space
MAREN RICHTER

L’Événement. Les images comme acteurs de l’histoire
STEVEN HUMBLET

ANDREAS GURSKY
KERSTIN STREMMEL

MIROSLAV TICHÝ: Photographs
CLINT BURNHAM

The Maghreb Connection. Movements of Life across North Africa
SØNKE GAU

Female Diaspora. Global Feminisms. New Directions in Contemporary Art
RACHEL BAUM

CERITH WYN EVANS: Bubble Peddler
JENS ASTHOFF

Dutch Eyes. A Critical History of Photography in the Netherlands / Panorama Las Palmas

Prater – Ein Film von ULRIKE OTTINGER
RAINER BELLENBAUM

The Ghosts of Songs. A Retrospective of the BLACK AUDIO FILM COLLECTIVE
ANNETT BUSCH

Bücher

Kunst in der Schwebe.
Wolfgang Tillmans: Manual
Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2007
MARTIN PRINZHORN

Alexander Kluge: Geschichten vom Kino.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007
KRYSTIAN WOZNICKI

Kunst ausstellen, aufstellen oder abstellen?
Spektakel – Kunst – Gesellschaft
Guy Debord und die Situationistische Internationale
Verbrecher Verlag, Berlin 2006
GISLIND NABAKOWSKI

Gilles Saussier: Studio Shakhari bazar
Le Point du Jour Éditeur, Cherbourg 2006
ANNE BERTRAND

Xavier Ribas: Santuario
Editorial Gustavo Gili, Barcelona 2005
ALBERTO MARTÍN

Impressum

Herausgeber, Verleger und für den Inhalt verantwortlich: Manfred Willmann. Eigentümer: Verein CAMERA AUSTRIA, Labor für Fotografie und Theorie
Alle: Lendkai 1, A-8020 Graz

Redaktion Graz: Christine Frisinghelli, Tanja Gassler, Simone Kocsar
Redaktion Berlin: Maren Lübbke-Tidow

Lektorat: Marie Röbl
Übersetzungen: Wilfried Prantner, Richard Watts, John Doherty, Don Mader, Josephine Watson, Marina Vishmidt