WENDY TRONRUD

Susanne Kriemann: Möglichkeiten, Steine zu betrachten

Susanne Kriemanns Künstlerbuch-Praxis ist im Wesentlichen eine literarische. Von ihren dreizehn Büchern kommen viele im Literaturformat daher, einer Größe, bei der man leicht den Buchkörper umgreifen, schnell die Seiten durchblättern und sich bequem zum Lesen hinlümmeln kann. So gesehen ist das Format von Kriemanns Büchern ein Hinweis darauf, dass sich der Leser oder die Leserin – nicht nur in diesen Büchern, sondern im Werk der Künstlerin insgesamt – auf Geschichten gefasst machen kann. Das Künstlerbuch fungiert also als Schlüssel zu Kriemanns gesamter künstlerischer Praxis. Das soll nicht heißen, dass es das Rätsel löst; es signalisiert uns vielmehr, dass Kriemanns Werk das mysteriöse Gemenge aus Kriminologie, Fotografie, Staatssicherheit, Vogelbeobachtung, Archiv und neuerdings auch radioaktiven Steinbrocken zugleich aufdeckt und narrativ entfaltet. Kriemanns Werk lotet diese Gemengelage aus, und ihre Künstlerbücher teilen uns mit, dass sie als Künstlerin nach einem vorher unsichtbaren, mehrfach verschlungenen Faden tastet und daran zieht. Als Künstlerin ist sie Agatha Christie, die sich dem Kreis aus unterschiedlichen Richtungen nähert, die Krimiautorin, die sich nebenbei als Fotografin betätigt.

Textbeitrag in Camera Austria International 124/2013, Seite 9–20.

JENS ASTHOFF

Jochen Lempert: Naturerscheinungen

Lempert ist studierter Biologe, arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre als Fotokünstler. Mit diesem besonderen, durch seine wissenschaftliche Tätigkeit geschulten und geprägten Blick auf Naturerscheinungen hat er bis heute ein umfangreiches fotografisches Œuvre geschaffen. Dabei bezieht sein bildnerisches Forschungsinteresse ausdrücklich auch menschliche Projektionen aufs Tier- und Pflanzenreich mit ein. Wobei sich Projektion und Gegenstand oft untrennbar durchdringen, von der froschförmigen Seifenschale bis zur Pseudo-»Naturhaftigkeit« des ausgestopften Tierpräparats. Tatsächlich ist Lemperts künstlerische Tätigkeit, darin der Arbeit eines Forschers ähnlich, durch kontinuierliches Beobachten, Sammeln und Sichten bestimmt – also dem, was Lempert gern auch als »Feldarbeit«¹ bezeichnet. Und wie in wissenschaftlichen Verfahrensweisen entfaltet er auch künstlerisch die Themen seiner Fotografie an permanent weiterentwickelten, neu in den Blick kommenden Fragestellungen.
In Lemperts künstlerischer Praxis geht es stets sowohl um die Motive selbst als auch um eine darauf aufbauende Konstruktion von Bildkontexten. Von Beginn an stehen Fotos entweder für sich – Zufälle, Momentaufnahmen, singuläre Motive – oder sind in sich bereits entlang der Logik bestimmter Motiv- und Themengruppen erfasst. Doch immer gibt es bei Lempert jenes sekundäre, quasi befragende Verfahren, mit dem er motivisch und formal ganz heterogene Motive zu Gruppen verknüpft und so überraschende, neue Zusammenhänge aufscheinen lässt. Darauf greift Lempert sowohl bei der Hängung, also der »Komposition« von Ausstellungen zurück als auch im Umgang mit einer stärker linearen Lesart, die in seinen Büchern eine Rolle spielt.

¹ Das spiegelt sich im Titel von Lemperts Buch Recent Field Work, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2009.

Textbeitrag in Camera Austria International 124/2013, Seite 21–32.

RAINER BELLENBAUM

Robert Frank: They demand no attention / They are not empty. Robert Franks neue Fotobücher

Ein auffälliges Moment seiner in jüngster Zeit edierten Fotobücher besteht darin, dass in ihnen Zeugnisse der früheren wie auch einzelner zwischenzeitlicher Werkphasen auf unprätentiöse Weise wiederkehren. Wie im Serienmodus erscheinen neue Bücher von ihm derzeit jährlich. Gewissermaßen sind es Hefte, mit jeweils rund 30 bis 40 Fotos, fast immer schwarzweiß, auf festem semimatten Papier, luxuriös und tiefgedruckt, ein Bild pro Seite, oft sogar nur pro Doppelseite. Der olivgraue, strukturgeprägte Kartondeckel sowie die Blätter im Inneren haben stets dasselbe Format: für ein schnelles, vom Daumen abspringendes Durchblättern ebenso geeignet wie für ein langsames, geduldiges Umschlagen. Und mit jeder Folge mischen Frank und seine beiden Buchmitmacher, der Verleger Gerhard Steidl und die junge Fotografin und Frank-Verehrerin A-chan, den biografischen Wechsel des Künstlers von Neuem: gespeist von melancholischer Street Photography und Interieuransichten, von filmischer Montageform und konzeptuellen Verweisen, von Refotografien, Assemblagen, vereinzelten Textfragmenten und vor allem von den Porträts der langjährigen Freunde- und Familienchronik. Das mag den einen wie ein sentimental eklektizistisches oder narzisstisches Schubladenziehen vorkommen; andere veranlasst es zur Spurensuche nach hintergründigen Narrationen.

Textbeitrag in Camera Austria International 124/2013, Seite 33–44.

HESTER KEIJSER

Erik van der Weijde: Lieber wäre ich Architekt

»I’d rather be an architect.« In den diversen Online-Interviews mit dem Künstler über die von ihm gepflegte Praxis, seine Werke eher in Buchform zu veröffentlichen als sie auszustellen, wird die Bedeutung dieser Worte meist übersehen – was vielleicht nicht überrascht angesichts der vielen scheinbar unzusammenhängenden Sujets, die er behandelt: in der Nazizeit errichtete Wohnsiedlungen, Autounfälle, Tiere, Porträts von Frau und Sohn in gestellten und nachgestellten Familienschnappschüssen, Korruption in der brasilianischen Politik, appropriierte Bilder von Panzern, Schusswaffen, Kampfflugzeugen und Bonsaibäumen, Prostitution, von Albert Speer entworfene Straßenlaternen, mächtige Bäume an ominösen Orten, seinen schlafenden Sohn, die Amsterdamer Kanäle vom Boot aus gesehen, rekurrierende Elemente in der brasilianischen Alltagsarchitektur oder VW-Käfer.
Auf die Frage des Lightra-Betreibers Sebastian Thewes, wie das alles zusammenhängt, antwortete Van der Weijde: »Ich betrachte die Dinge, die ich veröffentliche, als U-Bahnstationen: Ich bin ständig auf all diesen verschiedenen Linien unterwegs, und manchmal steige ich an einer bestimmten Station aus. In meinem Kopf können Nationalsozialismus und Prostitution oder Familie durchaus auf derselben Linie liegen, aber die Betrachterin oder der Betrachter sehen nur die Stationen über der Erde, sodass das vielleicht keinen Sinn ergibt, stimmt’s? Statt eines durchgehenden Fadens gibt es bei mir eben verschiedenfarbige Linien, die alle Themen oder Sujets verbinden. Aber manchmal muss man dazwischen umsteigen, um das zu verstehen …«¹

¹ Sebastian Thewes, »Erik van der Weijde: Interview«, Lightra, http://lightra.com/front/feature/17.

Textbeitrag in Camera Austria International 124/2013, Seite 45–56.

T.J. DEMOS

Spektro-Ästhetik 4/4 Nicht länger tatenlos

In Ursula Biemanns Video-Essay »Deep Weather« (2013) sehen wir uns mit einer postapokalyptischen Landschaft konfrontiert, wie sie der fossil betriebene Kapitalismus mit seinen neuesten Erschließungsversuchen immer schwerer auszubeutender Erdöllagerstätten produziert. Das Gelände wirkt auf den ersten Blick wie ein Horrorszenario aus einem Science-Fiction-Film, existiert aber hier und heute. Das neunminütige Video umfasst unter anderem Aufnahmen von einem gewaltigen Tagebau im nordkanadischen Teersand-Gebiet, um das ein Streit zwischen UmweltaktivistInnen, UreinwohnerInnen, Energiekonzernen sowie den Regierungen Kanadas und der Vereinigten Staaten tobt (das Rohöl soll – unter enormen Umweltrisiken – mit der raumgreifenden »Keystone XL Pipeline« von Alberta an den Golf von Mexiko, zu den Raffinerien in Houston, Texas, befördert werden). In einem langsamen Schwenk mit einer Luftbildkamera über das Land zeichnen sich durch die verschmutzte Luft organische Konturen ab. Eine grünlose Landschaft wird erkennbar, entfärbt bis auf die matten Industrietöne Preußischblau, Schmutzigrosa und Metallgrau, in denen die paradox schönen Umrisse eines denaturierten Ökosystems erscheinen.

Textbeitrag in Camera Austria International 124/2013, Seite 71–72.