Camera Austria International

66 | 1999

  • MICHAEL WETZEL
    Fotografie als Handwerk und Mythologie. Thomas Demand's Zeigzeugenschaften
  • RUEDI WIDMER
    Thomas Demand: Den Tatort bauen. Ein Interview von Ruedi Widmer
  • DIEDRICH DIEDERICHSEN
    Fotografie und Gedenken: Feldmann, RAF, Schlick, Kippenberger usw.
  • VRÄÄTH ÖHNER
    Vom Sehen, Fliegen und Träumen. "dial H-I-S-T-O-R-Y" von Johan Grimonprez
  • JOHAN GRIMONPREZ
  • HANS-ULRICH OBRIST
    Interview mit Johan Grimonprez
  • MAIA DAMIANOVIC
    Interview mit Joachim Koester
  • CATSOU ROBERTS
    Joachim Koester: Blauer Schleier: Bilder aus einem kürzlich geträumten Traum
  • JOACHIM KOESTER
  • FERDINAND SCHMATZ
    Constanze Ruhm: Umgesetzte Gebung
  • CHRISTA BLÜMLINGER
    Constanze Ruhm: Das Trauma feststellen
  • MAREN LÜBBKE
    Die Logik des verheerenden Moments. Constanze Ruhm interviewt von Maren Lübbke
  • CONSTANZE RUHM
  • ROLF SACHSSE
    Marginalien zur bundesdeutschen Fotografie
  • WOLFGANG VOLLMER
    Referenzen

Vorwort

Der Realisierung des vorliegenden Heftes stellten wir den internen Arbeitstitel „Tatort“ voran. Tatort bezeichnet einen Schauplatz, der durch die Ereignisse, die sich an ihm zugetragen haben, mit Bedeutung aufgeladen ist. Allerdings geht es hier freilich nicht um dokumentarische Tatortfotografie – Tatorte regen vielmehr zu einer weiterreichenden Spurensuche an, sie fordern uns zur Denkarbeit auf und appelieren an uns, Bewußtseins- oder Erinnerungsarbeit zu leisten. Dabei schießen uns spezifische Bilder durch den Kopf, Bilder, die jedem vertraut sind, Bilder, die sich in unseren Köpfen festgesetzt haben und die uns – auch – emotional bewegen. Wo kommen diese Bilder her, wie sind sie beschaffen und vor allen Dingen: Welche Formen der Übertragung sind prägend für die Herausbildung dieses „visuellen Speichers“, über den sich eine Art von Kollektivbewußtsein manifestiert? Die Künstler, die wir in diesem Heft vorstellen – Thomas Demand, Johan Grimonprez, Joachim Koester und Constanze Ruhm – sowie der Textbeitrag von Diedrich Diederichsen beschäftigen sich mit der Entstehung und dem “Weiterleben” von Tatort-Bildern in der kollektiven Erinnerung beziehungsweise in den Massenmedien. Thematisiert werden also die Mechanismen dieser Prozesse, jene Verkettungen, Verschiebungen und Leerstellen, wie sie etwa die Politik der Berichterstattung, die Formen des Gedenkens oder auch die Erzählstrukturen des Kinofilms prägen. Dabei bewegen sich die vorgestellten Arbeiten ganz bewußt auf dem schmalen Grat zwischen Dokument und Drama, zwischen Fiktion und Realität – sie sind einerseits kritisch / reflexiv, andererseits subjektiv / suggestiv.
Die Grundlage für Thomas Demands fotografische – und neuerdings filmische – Arbeit ist jenes medial vermittelte und kollektiv erinnerte Reservoir an Bildern von spezifischen Tatorten (etwa das „Barschel-Badezimmer“ oder das Führerhauptquartier …) oder auch von banalen, scheinbar bedeutungslosen Orten (Balkone, Garagen …). Diese Orte rekonstruiert Demand aus Papier für seine fotografischen Aufnahmen. In einem Reduktionsprozeß verfolgt er den „Code der Authentizität“, seine Modelle (wie auch seine Bilder) beschränken sich auf die substanziellen Informationen, die notwendig sind, um diesen Ort als Typus- gewissermaßen zwischen dem vermeintlich authentischen Tatort(foto) und dem Allgemeinplatz – zu bauen. Für CAMERA AUSTRIA stellte Demand eine Bildfolge von Stills aus seinem erstem Film „Tunnel“ zusammen – (auch) eine Anspielung auf den Tunnel, in dem Diana starb. Auch Constanze Ruhm arbeitet mit der Entleerung von Bildräumen. Ausgangspunkt für ihre Arbeiten ist jedoch die „Fiktionsmaschine“ Kino. Die Szenen, die sie verwendet und in ihren computergenerierten Arbeiten auf Architektur und Licht reduziert, referieren auf Filme von Jean-Luc Godard oder Francois Truffaut. Die Analyse eines Ausschnitts filmischer Darstellungsweisen gerät dabei zur suggestiven Plattform: Das verwendete Filmmaterial dient ihr als Projektionsfolie für eine zweite (offene) Erzählung, die über eine bereits existierende gelegt wird. Für CAMERA AUSTRIA erarbeitet Constanze Ruhm gerade eine Edition, die sie ab Juli über unsere Redaktionsanschrift beziehen können.

Manfred Willmann und Team
Juni 1999

Volltext

Camera Austria International 66 | 1999
Vorwort

Der Realisierung des vorliegenden Heftes stellten wir den internen Arbeitstitel „Tatort“ voran. Tatort bezeichnet einen Schauplatz, der durch die Ereignisse, die sich an ihm zugetragen haben, mit Bedeutung aufgeladen ist. Allerdings geht es hier freilich nicht um dokumentarische Tatortfotografie – Tatorte regen vielmehr zu einer weiterreichenden Spurensuche an, sie fordern uns zur Denkarbeit auf und appelieren an uns, Bewußtseins- oder Erinnerungsarbeit zu leisten. Dabei schießen uns spezifische Bilder durch den Kopf, Bilder, die jedem vertraut sind, Bilder, die sich in unseren Köpfen festgesetzt haben und die uns – auch – emotional bewegen. Wo kommen diese Bilder her, wie sind sie beschaffen und vor allen Dingen: Welche Formen der Übertragung sind prägend für die Herausbildung dieses „visuellen Speichers“, über den sich eine Art von Kollektivbewußtsein manifestiert? Die Künstler, die wir in diesem Heft vorstellen – Thomas Demand, Johan Grimonprez, Joachim Koester und Constanze Ruhm – sowie der Textbeitrag von Diedrich Diederichsen beschäftigen sich mit der Entstehung und dem “Weiterleben” von Tatort-Bildern in der kollektiven Erinnerung beziehungsweise in den Massenmedien. Thematisiert werden also die Mechanismen dieser Prozesse, jene Verkettungen, Verschiebungen und Leerstellen, wie sie etwa die Politik der Berichterstattung, die Formen des Gedenkens oder auch die Erzählstrukturen des Kinofilms prägen. Dabei bewegen sich die vorgestellten Arbeiten ganz bewußt auf dem schmalen Grat zwischen Dokument und Drama, zwischen Fiktion und Realität – sie sind einerseits kritisch / reflexiv, andererseits subjektiv / suggestiv.
Die Grundlage für Thomas Demands fotografische – und neuerdings filmische – Arbeit ist jenes medial vermittelte und kollektiv erinnerte Reservoir an Bildern von spezifischen Tatorten (etwa das „Barschel-Badezimmer“ oder das Führerhauptquartier …) oder auch von banalen, scheinbar bedeutungslosen Orten (Balkone, Garagen …). Diese Orte rekonstruiert Demand aus Papier für seine fotografischen Aufnahmen. In einem Reduktionsprozeß verfolgt er den „Code der Authentizität“, seine Modelle (wie auch seine Bilder) beschränken sich auf die substanziellen Informationen, die notwendig sind, um diesen Ort als Typus- gewissermaßen zwischen dem vermeintlich authentischen Tatort(foto) und dem Allgemeinplatz – zu bauen. Für CAMERA AUSTRIA stellte Demand eine Bildfolge von Stills aus seinem erstem Film „Tunnel“ zusammen – (auch) eine Anspielung auf den Tunnel, in dem Diana starb. Auch Constanze Ruhm arbeitet mit der Entleerung von Bildräumen. Ausgangspunkt für ihre Arbeiten ist jedoch die „Fiktionsmaschine“ Kino. Die Szenen, die sie verwendet und in ihren computergenerierten Arbeiten auf Architektur und Licht reduziert, referieren auf Filme von Jean-Luc Godard oder Francois Truffaut. Die Analyse eines Ausschnitts filmischer Darstellungsweisen gerät dabei zur suggestiven Plattform: Das verwendete Filmmaterial dient ihr als Projektionsfolie für eine zweite (offene) Erzählung, die über eine bereits existierende gelegt wird. Für CAMERA AUSTRIA erarbeitet Constanze Ruhm gerade eine Edition, die sie ab Juli über unsere Redaktionsanschrift beziehen können.
Das narrative Potential der Bilder ist auch für die Arbeit Joachim Koesters zentral. Seine frühen Arbeiten beziehen sich auf die Filme Alfred Hitchcocks, aber auch Francois Truffauts. In CAMERA AUSTRIA präsentiert er eine Reihe von Fotografien aus seiner Serie „Day for Night, Christiania 1996“. Über das konventionelle Mittel der Dokumentarfotografie – verschränkt mit einem Illusionismus durch die vom Film adaptierte „day for night“-Technik – gelingt ihm eine spezifische Perspektivierung dieses von Mythen überladenen Ortes im Zentrum Kopenhagens: In der Konzentration auf Details gerät die doppelte Identität Christianias – Militärbasis im 17. Jahrhundert einerseits, Hippiekommune in den Siebzigern andererseits – zum Abstraktum, ein Erzählzusammenhang muß sich im Kopf des Betrachters erst neu konstruieren. Johan Grimonprez verbindet in seinem Videofilm „Dial H-I-S-T-O-R-Y“ die Geschichte der Fluzeugentführungen mit jener der Nachrichtenmedien. In raschen Schnittfolgen, die das Zapping zwischen den einzelnen Kanälen aufgreifen, wechseln Bilder aus Fernsehberichten und Aufklärungssendungen mit Filmsequenzen, begleitet von einem Soundtrack mit literarischen Zitaten und Popmusik. Für CAMERA AUSTRIA stellte Grimponprez eine Abfolge von Ausschnitten aus einzelnen Stills zusammen. Man »überfliegt« die Kultur der Katastrophe zur Zeit des Kalten Krieges – das Flugzeug wird zur Metapher für Geschichte. Anhand dieser Analyse wird zwischen Desinformation und einem Überangebot an spektakulären Bildern „Geschichte als Feld virtueller (Neu-)Verknüpfungen beschreibbar.“ (Vrääth Öhner)
Das Buch „Die Toten 1967 – 1993. Studentenbewegung, APO, Baader-Meinhof, Bewegung 2. Juni, Revolutionäre Zellen, RAF …“ von Hans-Peter Feldmann sowie das von Wolfgang Bauer, Jörg Schlick und Peter Weibel in Erinnerung an Martin Kippenberger erarbeitete Buch „Martin“ schließlich hat Diedrich Diederichsen dazu angeregt, sich mit dem Thema Fotografie und Gedenken auseinanderzusetzen. Sein Aufsatz reflektiert einerseits auf theoretisch-historischer Ebene die Verhältnismäßigkeit von Fotografie und Tod (und Ort) und plädiert andererseits für einen politisierten Umgang mit den Bildern der Toten.
Abschließend möchten wir darauf hinweisen, daß Sie das FORUM mit dieser Ausgabe in neugestalteter Form vorfinden. In der Auswahl beschränkten wir uns auf vier KünstlerInnen, denen wir mehr Raum für die Darstellung ihrer Arbeiten gegeben haben.
Es ist uns ein Anliegen, in CAMERA AUSTRIA neuere künstlerische Entwicklungen zu reflektieren und unsere LeserInnen durch unterschiedliche theoretische Zugangsweisen umfassend und genau zu informieren. Für die Zusammenarbeit mit den KünstlerInnen und AutorInnen bedanken wir uns an dieser Stelle herzlich; Kommentare und Anregungen zu unserer Arbeit sind jederzeit willkommen.

Manfred Willmann und Team
Juni 1999

Beiträge

Forum

GRÜBL & GRÜBL

MICHAEL DANNER

KATRIN FREISAGER

BRUECKL/SCHMOLL

Ausstellungen

Gordon Parks, Midway. Portrait of a Daytona Beach Neighborhood
The Southeast Museum of Photography, Daytona Beach
ANNE BARCLEY MORGAN

Dream City
Museum Villa Stuck, Siemens Kulturprogramm; Kunstraum München, Kunstverein München
MICHAEL HAUFFEN

Ursula Wevers, Fotografie
KunstRaum Hinrichs, Trier
BARBARA HESS

Double Portraits, Fotografie von Tina Bara, Gerhard Kassner und Andrew Phelps
Galerie Christa Burger, München
PIA LANZINGER

Photowork(s) in Progress 2. Constructing Identity
Netherlands Foto Instituut, Rotterdam
RIK SUERMONDT

Sophie Calle, Double Game
Camden Arts Centre, London

Steve McQueen
Institute of Contemporary Arts, London
JOHN TOZER

How to do Things with Photographs? Ordnungen – Photographien von Tamara Grčić und Christopher Muller
Kunstwissenschaftliches Institut, Essen
CHRISTINE KARALLUS

Pierre Huyghe, Barbara Holub, Octavian Trauttmansdorff
Secession, Wien
BRIGITTE HUCK

Insight Out. Landschaft und Interieur als Themen zeitgenössischer Fotografie
Kunstraum Innsbruck; Kunsthaus Hamburg; Kunsthaus Baselland
INES TURIAN

Aufnahmen. Fotografische Recherchen in der Stadt
Atelier im Augarten, Wien; Österreichische Galerie Belvedere, Wien
MAREN LÜBBKE

Bücher

Alfredo Jaar: Let there be Light / It is difficult
Actar, Barcelona 1998
ANNE BARCLEY MORGAN

Art, Activism and Oppositionality, Essays from Afterimage
Duke University Press, Durham/London 1998
MATTHIAS MICHALKA

Martha Rosler: Beobachtungen einer Vielfliegerin
Cantz Verlag, Ostfildern 1998
GERHARD FROMMEL

Mirror Images, Women, Surrealism, Self-Representation
MIT Press, Cambridge/Mass. 1998
SIGRID ADORF

Karl Gernot Kuehn, Caught: The Art of Photography in the German Democratic Public
University of California Press, Berceley, London 1997

Michael Ruetz: 1968
Verlag Zweitausendundeins, Frankfurt a. M. 1997
JUDITH SCHWENDTNER

Impressum

Herausgeber, Verleger und für den Inhalt verantwortlich: Manfred Willmann. Eigentümer: Verein CAMERA AUSTRIA, Labor für Fotografie und Theorie
Alle: Sparkassenplatz 2, A-8010 Graz

Redaktion: Christine Frisinghelli
Assistenz: Maren Lübbke, Maria Röbl

Übersetzungen: Bärbel Fink, Warren Rosenzweig, Wilfried Prantner, Richard Watts