MAREN LÜBBKE-TIDOW

Annette Kelm: Wir wissen eigentlich nicht, was wir sehen: Fotografieren fotografieren

Mit der Betitelung »Belichtung und Farbwerte / Exposure and Chro­maticity « ihrer editorischen Arbeit für dieses Heft legt Annette Kelm eine Fährte zu einer Form des Lesens der von ihr organisierten Beiträge, die sich mit der Frage nach dem konkreten Tun als Fotograf oder Fotografin verbindet. Weniger unmittelbar verbindet sich mit »Belichtung und Farbwerte« die Frage nach dem Denken über Fotografie oder fotografische Bilder – jedenfalls nicht in einer Weise, wie es für diesen Publikationszusammenhang vielleicht typisch ist. Sie macht etwas sehr Logisches und setzt Schritt 1 vor Schritt 2. Vor einem diskursiven Zusammenhang steht eine begründete technische Setzung fotografisch Handelnder, mit der ein Bild erst generiert wird. Oder ist es umgekehrt? Wo setzt das Denken über das fotografische Bild ein? Vor den Fragen nach dem technisch-medialen Zugriff, im Prozess des Herstellens oder dann, wenn das Bild da ist und einen Kontext findet? Natürlich ist diese Frage nicht zu beantworten, die Räume des gedanklichen Vorformulierens, die Räume des Entstehens und die Räume des Betrachtens greifen ineinander. Annette Kelm kehrt mit ihrer Titelgebung genau das um, was das Betrachten ihrer Bilder so exzellent macht – einen Raum für das Denken über ihr fotografisches Handeln anbieten –, führt aber in dieser Umkehrung hin auf Fragen nach basalen Entscheidungen im (apparativen) Umgang mit dem Medium wieder exakt in diesen Denkraum. Wie in einer Wohnung, in der alle Zimmer miteinander verbunden sind und der erste Raum gleichzeitig der letzte ist.

 

Textbeitrag in Camera Austria International 131/2015, S. 7–13.

Gastredaktion
ANNETTE KELM

Belichtung und Farbwerte / Exposure and Chromaticity
Shannon Ebner
Sabine Reitmaier
Morgan Fisher
Judith Hopf
Horst P. Horst
Josephine Pryde
Louis Ducos du Hauron
Michael Schmidt
Barbara Kasten
Henrik Olesen
Sylvia Sleigh
Christopher Williams
David Lieske
Jan Groover
Arthur Ou
Dirk von Lowtzow
Lucie Stahl
Herbert Tobias

HENDRIK SCHWANTES

Hans Hansen im Gespräch mit Hendrik Schwantes: Das Studio

Hendrik Schwantes   Hans, du hast von den 1960ern bis in die 1990er Jahre viele Werbekampagnen für Automobilhersteller fotografiert. Dabei entstanden Bilder wie der fliegende Fiat (1973), der in seine Einzelteile zerlegte VW Golf (1987) und auch der farbig angestrahlte Mercedes (1989), den wir für dieses Heft ausgesucht haben. Bei der Durchsicht deines Bildarchivs haben wir länger über die Zusammenarbeit mit den Autofirmen gesprochen. Dabei erwähntest du eher beiläufig ein Fotostudio, das du für Volkswagen entworfen hast. Es entstand 1974 im Zusammenhang mit der Kampagne für die Markteinführung des ersten VW Golf. Wie kam es zu diesem Projekt?
Hans Hansen   Volkswagen hatte bereits ein Fotostudio auf dem Firmengelände in Wolfsburg, aber aufgrund der Größe, der technischen Ausstattung sowie eines für die Kampagne erforderlichen Model-Castings sollten die Aufnahmen in einem Filmstudio bei Hamburg gemacht werden. Ich war früh in die Planung miteinbezogen worden, und die Kostenschätzung für die zweiwöchige Produktion war extrem hoch. Verursacht wurden die Kosten durch die Miete für das riesige Studio und vor allem durch den Set-Aufbau und die dafür benötigten Mitarbeiter. Das Set wäre nach der Produktion abgebaut worden, um ein halbes Jahr später für weitere Motive wieder komplett neu aufgebaut zu werden. Das hätte dann nochmal das Gleiche gekostet. So habe ich den Vorschlag gemacht, gleich ein neues Studio auf dem Betriebsgelände in Wolfsburg zu bauen, das die Qualitäten des Hamburger Studios übertrifft und der Firma dauerhaft zur Verfügung steht. Das war für VW zunächst eine schwierige Entscheidung, weil es natürlich erst einmal eine hohe Investition war. Die Produktion in Hamburg wäre aber eine so unvernünftige Entscheidung gewesen, dass VW schließlich zugestimmt hat.

Textbeitrag in Camera Austria International 131/2015, S. 68–71.

CINENOVA FEMINIST FILM AND VIDEO DISTRIBUTOR

KAROLIN MEUNIER, MARINA VISHMIDT: »Deine Ohren werden zittern« – Futuristische Mikrokosmen

Die Gegenwart einer in den späten 1970er Jahren gegründeten feministischen Organisation kann zum Anlass genommen werden für einen kollektiven Versuch, nicht nur deren Erbe zu bewahren, sondern auch über eine längerfristige Perspektive feministischer Filmdistribution nachzudenken. Sie könnte auch eine breitere Diskussion über die Zukunft des Feminismus eröffnen. Im Fall von Cinenova impliziert das Bestehen auf der heutigen Relevanz der Organisation auch eine Neubetrachtung ihrer Vergangenheit, ihrer Entstehungsumstände und der Auswahl der heute verfügbaren Filme und Videos. Was es heißt, diese Bilder zu aktualisieren, ohne sie zu historisieren – sie anzuwenden, zu übersetzen und zu reaktivieren, ohne sie sich anzueignen – ist ständiger Gegenstand der Diskussion.
»Wach auf! Wir werden auf den Straßen getötet. Bevor du dich zurücklehnst und das passieren lässt, Schwester, verbünde dich und wach auf.«¹ Dieser Aufruf, zur Tat zu schreiten und sich der Stadtguerilla »Women’s Army« anzuschließen, wird von einer unabhängigen Radiostation in Lizzie Bordens Spielfilm »Born in Flames« (US 1983) verbreitet. Der Film spielt in einer nicht näher bestimmten Zukunft und schild

¹ Quote from “Born in Flames” by Lizzie Borden (US 1983).

Textbeitrag in Camera Austria International 131/2015, S. 71–72.