REINHARD BRAUN

Eine Belichtung der Fotografie: Die "Exposures" von Barbara Probst

In Barbara Probsts Serie „exposure“ wird ein flüchtiger Moment für mehrere Kameras ausgestellt: Belichtung, Freilegung, Aufdeckung und Enthüllung als Synonyme für die fotografische Praxis werden inszeniert und zugleich relativiert. Die Künstlerin bezieht sich damit gerade auf das fotografische Paradigma der Faktizität des Augenblicks, doch fächert sie diesen Augenblick in unterschiedliche Perspektiven auf, die jede für sich zugleich wahr und ungenügend sind. Die Faktizität wird in den mehrteiligen und großformatigen Tableaus als ein Konstrukt der Fotografie selbst in Szene gesetzt. Die „exposures“ zeigen, dass Auslassungen und Widersprüche, dass jedenfalls Ersetzungen und Aneignungen Teil der fotografischen Praxis selbst sind, sie verweisen darauf, wie ein Bild nicht einfach nur etwas zeigt, sondern zugleich etwas anderes, ein anderes Bild zum Verschwinden bringt – andere Bilder, die bei Barbara Probst dann auch nicht bloß eine »genauere« Beschreibung liefern, sondern zum Teil gänzlich andere Lesarten der – im übrigen in jedem Fall für die Kameras inszenierten – Situation nahelegen. In dieser sich zum Teil widersprechenden Konfrontation von „Belichtungen“ ein und derselben Situation kommentieren sich die Bilder nicht gegenseitig, sie verweisen mitunter auf völlig entgegengesetzte Kontexte und eröffnen damit einen Kommentar zur Konnotation des Fotografischen, indem sie das Denotat nicht bloß verzeichnen, sondern geradezu auflösen: Ist die nächtliche Szene im Wald („exposure #8“) nun als abenteuerlicher und spielerischer Ausflug eines jungen Mädchens zu lesen oder als „crime scene“? Ist die flüchtig skizzierte Situation dreier Personen auf einem Hausdach („exposure #17“) das Resultat einer ästhetischen Idee oder sind wir Zeugen der bevorstehenden Eskalation einer Dreiecksbeziehung, deren Bedeutug uns bloß nicht einsichtig werden kann in den zwei Bildern, die uns die Künstlerin zu sehen gibt? Warum die abwehrende Geste einer der beiden Frauen? Hat es eine Bedeutung, dass gerade sie zusammen mit dem Mann im Vordergrund aus demselben „Blickwinkel“ en face in die Kamera blickt (und nicht die zweite Frau im Vordergrund)?
Barbara Probst verstrickt uns in verschiedene mögliche Leseweisen; gerade, indem sie offensichtlich einen bestimmten Zeitpunkt in den jeweiligen Serien fokussiert, lenkt sie das Augenmerk auf ein zeitliches Davor oder Danach, lenkt sie von der Bedeutung dieses verbildlichten Augenblicks ab und die Aufmerksamkeit auf die Konstruktion einer Dauer, die den Sinn der Handlung oder der Szene überhaupt erst herstellen, d.h. nicht zu sehen, aber zu denken geben vermag.

Textbeitrag in Camera Austria International 85/2004, S. 7–18.

HERTA WOLF

Thomas Ruff: Der Historiker des Fotografischen

Auf dem jüngsten Werkzyklus von Thomas Ruff sind zum einen Fotografien von Maschinen zu sehen, deren Funktion es war, Werkzeuge anzufertigen, zum anderen Fotografien von Werkzeug, das mit Hilfe dieser Maschinen erzeugt worden ist. Neben Darstellungen von Drehbänken, von Maschinen mit eingespannten Bohrern, also Fotos von Maschinen, die Bohrköpfe schleifen, werden Werkstücke eben dieser Maschinen und zu Bildtafeln arrangierte Bohrer und Fräsen gezeigt. In ihrer Bildkomposition, die Maschinen sind leicht schräg angeschnitten, folgen die Fotos der Werkzeugmaschinen den Abbildungskonventionen technischer Zeichnungen. Die freigestellten Fotos der Werkstücke dagegen erinnern an die in und durch die Tafeln der Diderot / D’Alembert’schen Enzyklopädie vorgeformte Anordnung von technischen Gerätschaften, werden doch die unterschiedlich großen, aus unterschiedlichen Perspektiven aufgenommenen Bohrer und Fräsen in Reih und Glied präsentiert.
Setzt man sich mit diesen neuen Ruff’schen Bildwelten auseinander, ist dies einfach und kompliziert gleichermaßen. Einfach, weil Ruff nichts anderes zu tun scheint, als ein gefundenes Bildarchiv zu recyclen. Kompliziert, weil sich die Bilder, die er durch und dank dieses Recyclen erzeugt, nicht verstehen lassen, wenn man sie einzig als großformatige Kopien von fotografischen Glasnegativen begreift. Auch darf nicht vergessen werden, dass Thomas Ruff die Vorlagenbilder einer – digitalen und piktoralen – Transformation unterzogen hat: Gescannt und in einer neuen, an die Hammerschlagfarben industrieller Maschinen angelehnten Farbgebung freigestellt, wurden aus den kleinen 13 cm x 18 cm messenden Negativplatten großformatige Bilder.

Einmal mehr stellt auch der neue Werkzyklus von Thomas Ruff die Beziehung von analogen und digitalen Bilderzeugungsverfahren dar. Die „Maschinen“ zeigen uns, wie sehr das Digitale in den Verfahren des Analogen verhaftet, wie sehr die digitale der analogen Fotografie verpflichtet ist, wenn letztere durch und als Fotografisches in die neuen Bildwelten des Digitalen Eingang findet. In diesem Sinne können wir den Fotografen Thomas Ruff als Historiker des Fotografischen bezeichnen.

Textbeitrag in Camera Austria International 85/2004, S. 19–30.

MANISHA JOTHADY

N.I.C.J.O.B.: Sampling, Mixing, Cutting, Looping: Bilder nach den Bildern

N.I.C.J.O.B. recycled Sequenzen von Spielfilmen, setzt Zeitabläufe des Ausgangsmaterials außer Kraft. Wie ein Biotechniker die DNA zerlegt er Zeit in kleine übersichtliche Teile, ordnet Abläufe neu an, hält diese durch Wiederholung in ihrem Fortschreiten an oderdoped die bewegten Bilder durch Loops bis zum Stillstand. Ursprüngliche narrative Zusammenhänge verlieren dadurch buchstäblich ihren Plot. Helden großer Erzählfilme mutieren in N.I.C.J.O.B.s Arbeiten zu Gefangenen in einer geheimnisvollen Endlosschleife. Emotional aufgeladene Musiksamples des Künstlers oder nachbearbeitete Tonspuren des via TV konsumierten Filmmaterials evozieren einen Synergieeffekt von Bild und Ton.
N.I.C.J.O.B. erzeugt Videoloops mit unterschiedlichen Wiederholungsintervallen und unterläuft auf diese Weise unsere gängige Vorstellung vom Phänomen Zeit. Durch die von konventionellen Animationen abweichende Beschleunigung der Wiederholungsfrequenz durchbricht der Künstler bekannte Wahrnehmungsmuster.

Die Suche nach kausalen Zusammenhängen als Mittel zum Verständnis der Welt macht einen grundlegenden Teil unseres Lebens aus. Wenn die Protagonisten in N.I.C.J.O.B.s Arbeiten in der Bilderschleife gefangen sind oder die Filmeinstellung zum Standbild gefriert, und wir uns dennoch nicht von den Bildern loslösen können, dann wird, obschon der Künstler uns kein vorgekautes narratives Schema anbietet, im übertragenen Sinn klar, wie willenlos wir uns selbst dem Mechanismus des Immergleichen hinzugeben imstande sind. N.I.C.J.O.B. überlässt uns existentiellen Grundstimmungen, um zu einer Art „atmosphärischer Kohärenz“ als letzter Zuflucht der Bedeutungsfindung zu gelangen. Und diese entsteht in den Leerstellen, die wir aufgefordert sind zu füllen. Der Künstler zielt damit bewusst auf eine selbstreflexive BetrachterInnenposition ab, denn tatsächlich ertappen wir uns hier ständig bei der Konstruktion von Sinn. Wenn N.I.C.J.O.B. selbst seine Arbeiten mit Haikus vergleicht, dann verdeutlicht er, dass sich deren metaphorisches Potenzial ebenso rasch und lapidar wie das eines Dreizeilers erfassen lässt, es aber in der Folge vor allem darum geht, einen tieferen Sinn zu entschlüsseln. So entsprechen auch die Werktitel und schließlich das Pseudonym selbst der Form eines Denkspiels und nicht zuletzt liegt auch darin die Faszination an seinen Arbeiten begründet. Denn die Strategie des Rätsels beinhaltet das Potenzial, beunruhigender und sublimer zu sein als jene Kunst, die lediglich zur Kontemplation einlädt oder aber auch nur sich selbst vorführt.

Textbeitrag in Camera Austria International 85/2004, S. 31–42.

ROBERTA VALTORTA

Archivio dello Spazio. Interview von Thilo Koenig

Von 1987 bis 1997 koordinierte Roberta Valtorta für die Kulturverwaltung der Provinz Mailand sieben fotografische Kampagnen innerhalb einer von dem Urbanisten Achille Sacconi geleiteten Bestandsaufnahme der architektonischen und landschaftlichen Kulturgüter. Ausgehend u.a. vom französischen Projekt „DATAR“ (1984 – 88) beauftragte »Archivio dello Spazio« (Archiv des Raumes) mit vergleichsweise geringen Mitteln insgesamt 58 FotografInnen, im Umraum Mailands die Situation der Kulturgüter zu fotografieren und mindestens 36 Bilder zu liefern; die meisten Beteiligten gaben weit mehr ab. Im Zeitraum von zehn Jahren entstanden 7558 Abzüge. Sieben große und rund 100 kleinere Ausstellungen, vier internationale Tagungen sowie über 50 Konferenzen begleiteten das Langzeitprojekt. Hieraus erwuchs ab 1995 die Idee, ein ständiges Zentrum mit regelmäßigen Aktivitäten, einer Fachbibliothek und Auftragsvergabe zu gründen. Das »Archivio dello Spazio« bildet künftig einen wesentlichen Grundbestand des jetzt eröffnenden Museo di Fotografia Contemporanea in der Villa Ghirlanda, Cinisello Balsamo bei Mailand.

Textbeitrag in Camera Austria International 85/2004, S. 43–48.