Presseinformationen
Peggy Buth
Vom Nutzen der Angst – The Politics of Selection
Infos
Pressevorbesichtigung
13.9.2019, 11:00
Eröffnung
13.9.2019, 19:00
Zeitraum
14.9.–17.11.2019
Öffnungszeiten
Di – So, 10:00 – 17:00
Kuratiert von
Reinhard Braun
Pressedownloads
Pressetext
Im dreiminütigen Schwarz-Weiß-Video »Pruitt-Igoe Fallow Area« von Peggy Buth aus dem Jahr 2015 folgt man der Kamera durch ein Brachland, einen verwilderten Wald, in dem immer wieder Schutt von ehemaligen Gebäuden auftaucht. Das Video entstand im Zusammenhang mit ihren Recherchen zur Wohnanlage Pruitt-Igoe im Norden von St. Louis im Bundesstaat Missouri. Die ursprünglich als Mustersiedlung des ohnehin schwachen sozialen Wohnbaus in den USA vom Architekten Minoru Yamasaki (der auch das World Trade Center entwarf) geplanten 33 elfstöckigen Gebäude wurden ab 1954 bezogen – 1972 wurden sie unter medialer und politischer Aufmerksamkeit gesprengt, ein aus architektonischer und städteplanerischer Sicht denkwürdiges Datum, das für Charles Jencks das Ende der Nachkriegs-Moderne bedeutete. Ursprünglich sollten die einzelnen Gebäude nach Rassen getrennt bezogen werden, doch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 1954, kurz vor Beendigung der Bauarbeiten, erklärte diese Absicht für gesetzeswidrig – mit dem Ergebnis, dass die weißen Bewohner*innen binnen zwei Jahren aus Pruitt-Igoe wegzogen. Nachdem keine Mittel mehr zur Aufrechterhaltung der Infrastruktur zur Verfügung gestellt wurden, traten die verbliebenen Bewohner*innen in einen neunmonatigen Mietstreik.
Für die Nachkriegsmoderne ist dieses Wohnbauprojekt somit ein zweifaches Symbol: zunächst für die politischen Utopien der Armutsbekämpfung, der Gleichstellung, der Bürgerrechte und Versuche zur Überwindung der Rassentrennung, und schließlich für das vermeintliche Scheitern dieser politischen und sozialen Ansprüche. Peggy Buth bewegt sich für das Video » Pruitt-Igoe Fallow Area« somit buchstäblich auf den Ruinen der Moderne, in einem Brachland zwischen Natur und Stadt, das von den Geistern dieser Moderne bevölkert zu sein scheint, denn nichts wurde an deren Stelle realisiert, sie wurde nicht durch ein anderes städtebauliches Konzept ersetzt, sie wurde einfach zum Verschwinden gebracht, wenn auch nicht vollständig. Die Brache in »Pruitt-Igoe Fallow Area« ist demnach ebenso symbolisch: Sie bedeckt ein Ende ohne Neuanfang, sie kaschiert und überwuchert ein Scheitern, dessen Ursachen nicht analysiert wurden, sondern das lediglich willkommenen Anlass bot, um Sozialausgaben zu kürzen und eine strafrechtliche Nulltoleranz-Strategie einzuführen.
»If you live on or near one of the nearly 900 streets in the U.S. named after Martin Luther King, Jr., you’re more likely to be poor, and you’re more likely to be black. And some might argue that your street serves more as a symbol of inequality than of progress made since King’s death.« (Adele Peters) Peggy Buth hat ihre Recherchen im Raum St. Louis nicht nur auf Pruitt-Igoe beschränkt, sondern auch in Kinloch fotografiert, eine Kleinstadt, die an St. Louis sowie Ferguson grenzt und die die älteste schwarze Gemeinde in Missouri beherbergte. 1950 hatte Kinloch an die 6 000 Einwohner*innen, 2012 waren es gerade einmal 300. Durch den Bau des St. Louis Lambert International Airport verlor Kinloch in den 1990er-Jahren 80 Prozent der Bevölkerung. In Kinloch fand Buth auch das Straßenschild eines Martin Luther King Boulevard, Ecke Fifth Street. Es scheint ebenfalls in einer Art Brache zu stehen, schief, neben Müll, einem alten Reifen und Betonblöcken, die den Zugang zur Fifth Street einschränken. Der städtische Niedergang entlang der zahlreichen Martin Luther King Boulevards ist ein überregionales Phänomen in den USA, von Houston über Milwaukee bis hin zu Washington, D. C. Die Boulevards gehören in den meisten Städten zu den gefährlichsten Straßen, die geprägt sind von Bandenkriminalität, Drogenhandel und Autodiebstählen. Das Durchschnittsalter, in dem die Jugendlichen, die in diesen Straßen leben, die Schule verlassen, liegt bei 13 Jahren. Ein Straßenname, der unzertrennlich mit der Bürgerrechtsbewegung verbunden ist und der die Hoffnung auf die Teilhabe der schwarzen Bevölkerung am gesellschaftlichen Wohlstand und auch die Hoffnung auf die Teilhabe am politischen Leben der USA zum Ausdruck brachte, zeugt heute vom Niedergang dieser Hoffnungen, er markiert vielmehr die anhaltende soziale und rassistisch motivierte Segregation der amerikanischen Gesellschaft.
Wiederum befindet sich Peggy Buth mit der fotografischen Serie über die Martin Luther King Boulevards in einer Art Ruine, einer gesellschaftlichen Ruine, und die Geister, die sich dort herumtreiben, sind nicht nur neoliberaler oder postdemokratischer Natur, sie sind recht lebendige Geister des Rassismus, oder vielleicht eher rassistische Untote. Peggy Buth legt in ihren Arbeiten den Finger in die Wunde des Kapitals und der Rasse, sie umkreist diese Wunde, hält sie offen, um den überwältigenden Rhetoriken der postmodernen Diskussionen, all dies sei mittlerweile Geschichte, etwas entgegen zu halten. All diese Projekte, und zahlreiche weitere (um manche davon wird es in diesem Text noch gehen) konzentrieren sich auf eine Art Archäologie der vertanen politischen und sozialen Chancen, eine andere Gegenwart ermöglicht zu haben. Und für Buth genügt es nicht, sich an der Gegenwart abzuarbeiten, sie erkennt in allem die historische Dimension, die weit zurückreichende Geschichte, die longue durée, wie sie der Historiker Fernand Braudel bezeichnet hat, die es benötigt hat, um gesellschaftliche Strukturen zu verschieben, oder aber der lange Atem, die überaus große zeitliche Reichweite von Ideologien, Überzeugungen und kulturellen Konstruktionen, die in vielleicht veränderter Form – aktualisiert, instagrammisiert – dennoch auf gegenwärtige politische, soziale und kulturelle Paradigmen einwirken, Überzeugungen, von denen wir glauben, wir hätten sie lange überwunden.
Dies sind möglicherweise die Geister, denen Peggy Buth auf der Spur ist. Sie können kaum unmittelbar gezeigt werden, sie lassen sich nicht direkt repräsentieren, in ein Bild zwingen, mit dem ihre Präsenz in der Gegenwart dokumentiert werden könnte. Sie müssen vielmehr rekonstruiert, zusammengesetzt werden, wichtiger noch, sie müssen eine Erfahrung gebildet haben. Buth liefert keine kritischen visuellen Essays mit einer Aussage, ihre Serien sind Berichte eines Aufenthalts, einer Erforschung, bei der sich die Künstlerin selbst zum Ort in ein Verhältnis setzt und dabei ihre eigene Rolle befragt und ihre eigene Handlungsfähigkeit ins Spiel bringt. Die Bilder gehören zu diesem Bericht eines Aufenthalts, einer Reise, eines Aufsuchens und Abschreitens, das möglicherweise von den erwähnten Geistern begleitet wird. Diese nisten sich auch in den Assoziationen ein, die sich bei den Betrachter*innen einstellen, sie sind flüchtig und nahezu transparent, dennoch sind sie auch die Sprengladungen, die im Video »Demolition Flats« (2014) zahlreiche moderne Wohnbauten und Architekturensembles zum Einsturz bringen. Wir sprechen hier nicht von Geistern einer anderen Welt, es geht vielmehr darum, das Augenmerk auf die Phantome unserer Gegenwart zu legen, ihre irritierende und fortdauernde Präsenz, die eine Abwesenheit in den Ordnungen visueller Erscheinungen erzeugt und uns einlädt, die Konflikte, die Spaltungen, die Kriege, das Leiden und die dysfunktionalen Bedingungen unseres Lebens zu vergessen, die den Antrieb des globalen neoliberalen Kapitalismus (T. J. Demos) bilden.
Wie hängen also Städteplanung, Ökonomie, Rassismus und deren Repräsentationen um solche Phantome herum zusammen? Von welchen Utopien haben sich zumindest »unsere« westlichen Gesellschaften verabschiedet, wie lässt sich dieser politische Kurswechsel ganz unmittelbar in Stadtbildern ablesen und nachvollziehen? Welche Widerstände gegen diese Desintegrationsprozesse hat es gegeben und gibt es noch gesellschaftliche Kräfte, die versuchen, die Frage nach einer anderen Ordnung auf der politischen Tagesordnung zu halten? Diesen Fragen geht Buth spätestens seit 2013 nach, als sie begann, in den nördlichen Pariser Vorstädten wie La Courneuve – einer der Ausgangspunkte der Unruhen in Paris im Jahr 2005 – zu fotografieren und zu recherchieren. In der Diaprojektion »91, 92, 93, 94 / 75« (2017) zeigt Buth ihre Aufnahmen aus den Pariser Banlieues gemeinsam mit gefundenem und Archivmaterial der kolonialen Spuren der französischen Geschichte. Die Départements 91 bis 94 entstanden ebenso wie das heutige Département 75, welches die Innenstadt von Paris umfasst, durch die Neugliederung des ehemaligen umfangreicheren Départements Seine, das in den 1960er-Jahren zu groß und komplex für eine vernünftige Verwaltung geworden war. Durch die Unabhängigkeit Algeriens 1962 wurden die heutigen Départementzahlen verfügbar, da sie ursprünglich Gebiete in Algerien wie Algier, Oran, Constantine und die Territoires du Sud bezeichnet hatten. Diese neuen um Paris liegenden Départements beherbergten seit der Nachkriegszeit zahlreiche Migrant*innen aus den Maghreb-Staaten und des sub-saharischen Raums. Umfangreiche Wohnbauprojekte, die Folgen der Deindustrialisierung und der Abbau des Wohlfahrtsstaates verwandelten diese peripheren Stadtgebiete in verarmende, infrastrukturarme Wohn- und Schlafstädte mit wenigen Arbeitsmöglichkeiten und schlechter Verkehrsanbindung an die Innenstadt, die außerdem durch den Boulevard périphérique von diesen Stadtgebieten isoliert ist.
Die koloniale Vergangenheit Frankreichs hat sich dem Grundriss der Stadt eingeschrieben, Zentrum und Peripherie bilden gesellschaftliche und ethnisch definierte Hierarchien ab, die wiederum dem Leben der Bewohner*innen eingeschrieben sind. Die räumliche Organisation der Stadt betreibt eine Organisation von Identitäten, eine unausgesetzte Produktion der »Anderen« und deren Verteilung. In »91, 92, 93, 94 / 75« zeichnet Buth stereotype Repräsentationen nach und markiert Widersprüche zwischen offiziellen Rhetoriken und konkreten urbanen Umgebungen, zwischen den Botschaften von Zeitungsartikeln – »Le ras-le-bol«, diejenigen, die die Schnauze voll haben, oder »Schluss mit der Methode Sarkozy« – und Bildern von – arbeitslosen? gelangweilten? – Jugendlichen in Parks. Es entsteht eine Sequenz von Bildern, die voller Gegensätze ist, sowohl hinsichtlich ihrer Ästhetik als auch ihrer »Thematiken«. Die Künstlerin konfrontiert uns auch mit unseren eigenen Vorurteilen und Unsicherheiten beim Deuten dieser Bilder. Wie sehr sind wir selbst immer schon voreingenommen von unserem situierten Wissen? Welcher ist unser Standpunkt, von welchem sozialen Raum aus schauen wir auf diese widersprüchlichen Bilder? Von welchem sozialen Raum wird unser Wissen über diese anderen sozialen Räume organisiert und bestimmt?
Peggy Buth zeigt alle diese Arbeiten unter dem Titel »Vom Nutzen der Angst – The Politics of Selection«. Denn der vermeintliche Niedergang von großen Teilen der zeitgenössischen Städte geschieht nicht aufgrund sozialer Automatismen, sondern aufgrund politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen: Politiken der Auswahl und der Erwählung, Politiken der Verteilung und Umverteilung, der Produktion »überflüssiger Menschen«, wie es Zygmunt Bauman bezeichnet hat. Und in seinem Buch Krise der Politik (1999) führt er aus: »Die einzigen Gemeinschaften, auf deren Entstehung die Einsamen hoffen können und die die Organisatoren des Öffentlichen ernsthaft und verantwortungsbewusst anbieten können, sind auf Angst, Argwohn und Hass gegründet.« Es ist ein Allgemeinplatz geworden, im Zusammenhang mit der politischen Sprache vor den Mechanismen der Spaltung zu warnen. Doch sind dies nicht nur Mechanismen der Sprache, sondern auch Mechanismen der Architektur und der Organisation von Stadt (und vielleicht hat diese Spaltung sogar die Bilder selbst längst erreicht). Auf manchen Bildern Peggy Buths scheint sich diese Teilung und Spaltung offensichtlicher darzustellen – in der grundsätzlichen Vernachlässigung der Straßen, in den Zäunen und der Leere, den Schlaglöchern und den fehlenden Dächern, den geschlossenen Gemeindezentren, den vom Gras überwucherten Treppen und dem Geröll der gesprengten Gebäude. Doch die Spaltung und Desintegration reichen tiefer, sie übersteigen alles, was Bilder zeigen könnten, sie sind nicht primär visuell, sondern in einem umfassenderen Sinn materiell und organisieren und desorganisieren die Dinge und die Menschen, die Körper und die Sprachen. Wie lässt sich unter diesen – post-dokumentarischen – Bedingungen die Bedeutung von Solidarität und Empathie, die Bedeutung der Geschichte von und der Erinnerung an emanzipatorische Bewegungen und Selbstermächtigungen aufrechterhalten und deren Zerstreuung im Zuge von (De-)Industrialisierung und Globalisierung entgegenarbeiten? Wie lässt sich die Idee einer Utopie zurückgewinnen?
Peggy Buth studierte Fotografie und Bildende Kunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (DE, Abschluss 2002) und war 2003 – 2005 Fellow der Jan van Eyck Academie Maastricht (NL). Seit 2016 hat sie die Professur für Medienkunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig inne. Ihre Arbeiten wurden im In- und Ausland gezeigt, u.a.: Exhibition Research Centre, John Moores University, Liverpool (GB); Parc Saint Léger – Centre d’art contemporain, Pougues-les-Eaux (FR); Württembergischer Kunstverein, Stuttgart (DE); CAC Vilnius (LT); Weltkulturen Museum, Frankfurt am Main (DE); K21, Düsseldorf (DE); Kestnergesellschaft, Hannover (DE); Bétonsalon, Paris (FR); La Synagogue de Delme, Delme (FR); Brussels Biennial (BE) sowie zuletzt im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, Berlin. Buth erhielt zahlreiche Arbeitsstipendien in Deutschland, den USA, Frankreich und Belgien. 2014 erhielt sie das Stipendium für »Zeitgenössische deutsche Fotografie« der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung mit einer anschließenden Einzelausstellung im Museum Folkwang, Essen (DE). 2018 wurde sie für den Deutsche Börse Foundation Photography Prize 2019 nominiert.
Bildmaterial
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