Pierre Bourdieu: Ausstellungsübernahmen
Infos
Die Ausstellung: »Pierre Bourdieu: In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung.«
wurde in Zusammenarbeit mit Pierre Bourdieu vorbereitet und von Christine Frisinghelli und Franz Schultheis, Fondation Bourdieu konzipiert.
Der Ausstellung in Graz 15.11.2003 – 6.2.2004 ging die Präsentation des Projekts in Paris voran: »Pierre Bourdieu. Images d’Algérie. Une affinité élective«, 23.1. – 2.3.2003, Institut du Monde Arabe, Paris.
Mittlerweile wurde die Ausstellung an 30 Orten gezeigt.
Das Projekt war ein Beitrag von Camera Austria zu »Keep in Touch: Der soziale Gebrauch von Bildern« und wurde realisiert durch die finanzielle Unterstützung von Graz 2003 – Kulturhauptstadt Europas.
Intro
Der Austausch zwischen Camera Austria, der Fondation Bourdieu und dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu zwischen 2000 und 2002 mündete in ein weit reichendes Projekt: Pierre Bourdieu hat Camera Austria sein gesamtes Archiv von Fotografien, die während seiner Feldforschungsarbeiten in Algerien zwischen 1958 und 1961 entstanden sind und wie er sagt, sein frühestes und zugleich aktuellstes Werk darstellen, mit dem Ziel anvertraut, diese Fotografien in einer Ausstellung und Publikation erstmals der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In Zusammenarbeit mit Pierre Bourdieu (der zu Beginn des Jahres 2002 Jahres leider verstorben ist) und Franz Schultheis, Fondation Bourdieu, wurden die fotografischen Dokumente gesichtet und strukturiert und zu zeitgleich in Algerien entstandenen ethnographischen und soziologischen Studien in Beziehung gesetzt.
Diese Fotografien aus Algerien stellen zunächst wichtiges ethnographisches Primärmaterial dar, sollen also nicht losgelöst vom spezifischen Erkenntnisinteresse, das der Selektion der Motive, dem jeweiligen Blickwinkel, dem Einbezug des Kontextes und somit der Konstruktion des festzuhaltenden Gegenstandes selbst zugrunde lag, betrachtet und interpretiert werden, will man nicht einem ahistorischen ästhetischen Purismus huldigen und die kontextspezifische gesellschaftliche Bedeutung und politische Dimension dieser Bilder ignorieren. Diese sind schon von ihren Entstehungsbedingungen her »gerahmt« und datiert, stehen in einem klaren sozio-historischen Zusammenhang und zielen darauf ab, diesen in einer spezifischen Art und Weise zu dokumentieren bzw. in Bourdieus eigener Sprache: zu objektivieren.
Alle grundlegenden Themen der Bourdieu’schen Soziologie sind schon in diesem frühen Stadium präsent: Er fragt nach den unterschwelligen Regeln des Tauschs, nach der sozialen Einbindung des Wirtschaftens, dem Verhältnis von Zeitstrukturen und Rationalität, den symbolischen Ordnungen der Gesellschaft und Herrschaftsbeziehungen zwischen den Geschlechtern, Generationen und sozialen Klassen: Fragen also, die auch in seinen jüngsten Schriften erkenntnisleitend sind. Die Fotografien werden als »Achsenwerk« verstanden und dienen als Katalysatoren, verschiedene Themenkomplexe, die im theoretischen Werk Pierre Bourdieus angelegt sind, herauszuarbeiten.
Volltext →Pierre Bourdieu: Ausstellungsübernahmen
Der Austausch zwischen Camera Austria, der Fondation Bourdieu und dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu zwischen 2000 und 2002 mündete in ein weit reichendes Projekt: Pierre Bourdieu hat Camera Austria sein gesamtes Archiv von Fotografien, die während seiner Feldforschungsarbeiten in Algerien zwischen 1958 und 1961 entstanden sind und wie er sagt, sein frühestes und zugleich aktuellstes Werk darstellen, mit dem Ziel anvertraut, diese Fotografien in einer Ausstellung und Publikation erstmals der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In Zusammenarbeit mit Pierre Bourdieu (der zu Beginn des Jahres 2002 Jahres leider verstorben ist) und Franz Schultheis, Fondation Bourdieu, wurden die fotografischen Dokumente gesichtet und strukturiert und zu zeitgleich in Algerien entstandenen ethnographischen und soziologischen Studien in Beziehung gesetzt.
Diese Fotografien aus Algerien stellen zunächst wichtiges ethnographisches Primärmaterial dar, sollen also nicht losgelöst vom spezifischen Erkenntnisinteresse, das der Selektion der Motive, dem jeweiligen Blickwinkel, dem Einbezug des Kontextes und somit der Konstruktion des festzuhaltenden Gegenstandes selbst zugrunde lag, betrachtet und interpretiert werden, will man nicht einem ahistorischen ästhetischen Purismus huldigen und die kontextspezifische gesellschaftliche Bedeutung und politische Dimension dieser Bilder ignorieren. Diese sind schon von ihren Entstehungsbedingungen her »gerahmt« und datiert, stehen in einem klaren sozio-historischen Zusammenhang und zielen darauf ab, diesen in einer spezifischen Art und Weise zu dokumentieren bzw. in Bourdieus eigener Sprache: zu objektivieren.
Alle grundlegenden Themen der Bourdieu’schen Soziologie sind schon in diesem frühen Stadium präsent: Er fragt nach den unterschwelligen Regeln des Tauschs, nach der sozialen Einbindung des Wirtschaftens, dem Verhältnis von Zeitstrukturen und Rationalität, den symbolischen Ordnungen der Gesellschaft und Herrschaftsbeziehungen zwischen den Geschlechtern, Generationen und sozialen Klassen: Fragen also, die auch in seinen jüngsten Schriften erkenntnisleitend sind. Die Fotografien werden als »Achsenwerk« verstanden und dienen als Katalysatoren, verschiedene Themenkomplexe, die im theoretischen Werk Pierre Bourdieus angelegt sind, herauszuarbeiten.
Die nun erstmals um ihre fotografische Komponente ergänzten wegweisenden Feldforschungen Bourdieus bieten Einblick in den Status nascendi der Bourdieu’schen Soziologie. Neben dieser werkgeschichtlichen Dimension bleibt den Fotografien Bourdieus aber auch der Charakter eines beeindruckenden sozio-historischen Dokuments. Sie zeugen von einer gesellschaftlichen Welt voller Ungleichzeitigkeiten, deren Menschen auch heute noch nicht ihre Heimatlosigkeit und Entwurzelung – eine Entfremdung gegenüber Tradition und Moderne zugleich – überwunden haben. Vielleicht liegt die hier zum Ausdruck kommende Tragik Algeriens ja gerade darin, dass sie auch nach vier Jahrzehnten nichts an Aktualität und Realismus eingebüßt haben.
»Den verstehenden Blick des Ethnologen, mit dem ich Algerien betrachtet habe, konnte ich auch auf mich selbst anwenden, auf die Menschen aus meiner Heimat, auf meine Eltern, die Aussprache meines Vaters und meiner Mutter, und mir das alles so auf eine völlig undramatische Weise wiederaneignen, denn hier liegt eines der großen Probleme entwurzelter Intellektueller, welchen oft nur die Wahl zwischen Populismus und verschämter Selbstverleugnung (als Reaktion auf die symbolische Gewalt der Klassengesellschaft) zu bleiben scheint. Ich bin diesen Menschen, die den Kabylen sehr ähnlich sind und mit denen ich meine Kindheit verbracht habe, mit dem Blick des Verstehens begegnet, der für die Ethnologie zwingend ist und sie als wissenschaftliche Disziplin definiert. Die Fotografie, die ich zunächst in Algerien und dann im Béarn betrieb, hat als Begleiterin auf diesem Weg zweifellos viel zu dieser Konversion des Blickes beigetragen, die eine wahre – und ich glaube, das Wort ist nicht zu stark – Sinnesänderung voraussetzte. Denn die Fotografie ist Ausdruck der Distanz des Beobachters, der Daten speichert und sich dabei immer bewusst bleibt, dass er Daten speichert (was in so familiären Situationen wie der eines Dorfballes nicht immer einfach ist), aber zugleich setzt die Fotografie auch Vertrautheit, eine Aufmerksamkeit und Sensibilität selbst für kaum wahrnehmbare Details voraus, Details, die der Beobachter nur durch eben diese Vertrautheit unmittelbar zu verstehen und zu interpretieren vermag, eine Sensibilität für das unendlich kleine Detail einer Situation, das selbst dem aufmerksamsten Ethnologen zumeist entgeht. Die Fotografie ist aber auch eng verwoben mit dem Verhältnis, das ich zu jedem Zeitpunkt zu meinem Gegenstand unterhalten habe, und ich habe keinen einzigen Augenblick lang vergessen, dass es sich dabei um Menschen handelte, Menschen, denen ich mit einem Blick begegnet bin, den ich – auch wenn ich befürchte, mich dadurch lächerlich zu machen – als liebevoll, ja als oft gerührt bezeichnen möchte.«
(Pierre Bourdieu im Gespräch mit Franz Schultheis. In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung, S. 11)
Jeu de Paume / Château de Tours, Tours, (FR)
ENS / Lettres et sciences humaines, Lyon, (FR)
Deichtorhallen, Hamburg, (DE)
Centre Culturel Français, Algier, (DZ)
Shedhalle, Rote Fabrik, Zürich, (CH)
Centre de la Photographie, Genf, (CH)
Daelim Contemporary Art Museum, Seoul, (KR)
weitere Ausstellungsorte
MACBA, Barcelona, 2008, Projektion
Diese Zusammenstellung ist ein Ausschnitt aus der Ausstellung und dem Buch:
»Pierre Bourdieu: In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung.«, Camera Austria, Graz 2003.
Produziert von Camera Austria, Graz und Museu d’Art Contemporani de Barcelona, 2008
© Fondation Bourdieu. Courtesy: Camera Austria, Graz
Interview mit den Kuratoren
Ein Interview mit den Kuratoren Christine Frisinghelli & Franz Schultheis,
Château de Tours
© Jeu de Paume, 2012.
Materialien
- Franz Schultheis: Pierre Bourdieu und Algerien. Eine Wahlverwandschaft.
- Ein Gespräch zwischen Pierre Bourdieu und Franz Schultheis.
- Christine Frisinghelli: Anmerkungen zu den fotografischen Dokumentationen von Pierre Bourdieu.
- Ein Interview von Cathren Müller, Textbeitrag in Camera Austria International 73/2001, S. 4–8.
- Franz Schultheis, Pierre Bourdieu: Objektivierung als Beruf, Textbeitrag in Camera Austria International 76/2001, S. 3–7.
- Ausstellungsübernahmen
- Franz Schultheis: Pierre Bourdieu et l'Algérie. De l'affinité élective à l'objectivation engagée.
- Entretien entre Pierre Bourdieu et Franz Schultheis: Photographies d'Algérie.
- Christine Frisinghelli: Observations concernant les documentations photographiques de Pierre Bourdieu
Kontakt
Kustodin
Christine Frisinghelli
frisinghelli@camera-austria.at
Ausstellungsmanagement
Angelika Maierhofer
T. +43 / (0) 316 / 81 55 50 16
exhibitions@camera-austria.at
© Fondation Pierre Bourdieu / Camera Austria, Graz.