Presseinformationen
Oliver Ressler
Barricading the Ice Sheets
Infos
Pressevorbesichtigung
3.9.2021, 11:00
Eröffnung
3.9.2021, 18:00
Zeitraum
4.9. – 21.11.2021
Öffnungszeiten
Di – So und an Feiertagen
10:00 – 18:00
Kuratiert von
Reinhard Braun
Pressedownloads
Pressetext
Oliver Ressler: Archivar des Kapitalozäns
Oliver Resslers Œuvre stellt ein beeindruckendes filmisches Archiv sozialer Bewegungen dar. Die Ausstellung Barricading the Ice Sheets bildet ein weiteres Kapitel in diesem Werkkomplex, dessen Schwerpunkt auf Klimagerechtigkeitsbewegungen in Europa und darüber hinaus liegt. Schon in dem sechs Filme umfassenden Zyklus Everything’s Coming Together While Everything’s Falling Apart (2016 – 2020) sowie in noch früheren Werken, wie Leave It in the Ground (2013) und der Dia-Installation For a Completely Different Climate (2008) hatte sich dieser Fokus herauskristallisiert.
Einer der Hauptaspekte von Resslers Arbeiten ist ihr archivarischer Charakter, der in seiner gesamten Filmproduktion über soziale Kämpfe klar erkennbar ist, aber auch in seinen Einzelausstellungen, die oft als mehrkanalige Projektionen angelegt sind, also mehrere Filme gleichzeitig zeigen. Die Radikalität archivarischer Methoden ist ein Thema, das in der zeitgenössischen Kunst häufig verhandelt wird, selten aber so eindeutig wie in Resslers Werk (und das vorliegende Projekt stellt keine Ausnahme dar), das ein Speicher für Diskurse, Methoden und Geschichten ist, subalterne Subjektivitäten, Wahrheiten und Kämpfe legitimiert und das globale Ausmaß sozialer Bewegungen über politische und geografische Brüche hinweg verbildlicht.
Barricading the Ice Sheets thematisiert die Klimagerechtigkeitsbewegungen und könnte daher als Teil einer möglichen Kapitalozän-Abteilung innerhalb dieses Archivs gesehen werden – oder, genauer, dieses Gegen-Archivs, da »Kapitalozän« selbst ja ein Gegenbegriff ist, den Jason W. Moore in seinem Buch Anthropocene or Capitalocene? von 2016 geprägt hatte. Mit dem Begriff soll die Definition des Anthropozäns kritisch hinterfragt werden, die implizit davon ausgeht, dass alle Menschen in gleichem Maße für die globale Klimakrise verantwortlich sind. Dagegen verdeutlicht die durch Moore popularisierte Formel, inwiefern, historisch betrachtet, die Hauptursache der heutigen Klimakrise im Prozess der kapitalistischen Akkumulation zu finden ist. Die politische Ökologie vollzieht eine Erneuerung des historischen Materialismus. Der Kapitalismus wird nicht als ein System beschrieben, das sein eigenes ökologisches Regime schafft, sondern als ein eigenständiges ökologisches Regime, in dem die Akkumulation auf der Aneignung der Arbeit von Fabrikarbeiter*innen fußt und, ebenso wichtig, von Frauen, von versklavten, rassifizierten Menschen und von nichtmenschlicher Natur.
Im Mittelpunkt von Resslers Film Not Sinking, Swarming (2021) steht eine Versammlung, die 2019 in Madrid stattfand und bei der Delegierte verschiedener spanischer Gruppen anlässlich einer internationalen Woche des Aufstands für Klimagerechtigkeit die Organisation einer Aktion zivilen Ungehorsams diskutieren. Ein wiederkehrendes Merkmal von Resslers Arbeiten ist seine Entscheidung und seine Fähigkeit, Beispiele der Selbstorganisation zu dokumentieren. Schon mehrmals filmte er Versammlungen, etwa gemeinsam mit Dario Azzellini zu Beginn des 21. Jahrhunderts während der Bolivarischen Revolution in Venezuela und in verschiedenen selbstverwalteten Fabriken in Italien, Frankreich und Griechenland. In Take the Square (2012) lud Ressler Aktivist*innen von Occupy Wall Street, der spanischen 15M-Bewegung und der Syntagma-Platz-Bewegung in Athen ein, für seinen Film das Format der Arbeitsgruppen aufzugreifen, die während der »Occupy-Welle« von 2011 so wichtig geworden waren, und über die Rolle der Selbstorganisation zu reflektieren.
Diese Vorliebe für Versammlungen ist in verschiedener Hinsicht wichtig. Erstens, weil die Temporalität von Not Sinking, Swarming und von Resslers Filmen generell auf die Langzeitlichkeit der Selbstorganisation abgestimmt ist. Die »Choreografie« sozialer Bewegungen geht in der Darstellung des österreichischen Künstlers über den Moment hinaus, wo direkte Aktion sich auf der Straße manifestiert (ohne diesen auszuschließen), und beinhaltet vielmehr den scheinbaren Stillstand der Versammlungen: die langsame Arbeit des Diskutierens und der kollektiven Entscheidungsfindung, die nicht-filmische Zeit des Organisierens. Ressler filmt »in den Kulissen« und geht so über eine oberflächliche Darstellung des performativen Charakters der Klimagerechtigkeitsgruppen als typisch theatralisches Merkmal hinaus. Vielmehr erfasst Not Sinking, Swarming die Zeitlichkeit der Vorabbildung im Auftritt der sozialen Bewegungen und legt den Schwerpunkt auf direkte, nicht-hierarchische Formen der Organisation statt auf die Umgestaltung der Gesellschaft nach einer hypothetischen zukünftigen Machtergreifung. Natürlich ist sich Ressler der Tatsache bewusst, dass die Versammlung eines venezolanischen consejo communal (Kommunalen Rats) im Jahre 2009 etwas anderes ist als eine Zusammenkunft von Klimaaktivist*innen im Madrid von 2019 und dass jegliche Kongruenz vereinfachend wäre. Diese Versammlungen finden zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kontexten statt und sind wohl auch Teil sehr unterschiedlicher politischer Genealogien. Letztlich aber geht es dem Künstler darum, das partizipative Moment und die Zeitlichkeit der Selbstorganisation herauszustellen.
Jene Sequenzen, in denen der Film die spanische Versammlung dokumentiert, sind vollständig verpixelt. Die Zuschauer*innen können dem Dialog und Diskussionsverlauf folgen, dabei aber nur erahnen, was sich hinter dem Pixelraster verbirgt. Tatsächlich ist diese Entscheidung in der Notwendigkeit begründet, die Anonymität der Teilnehmer*innen zu wahren, um rechtlichen Folgen vorzubeugen und die Sprecher*innen nicht als Anführer*innen oder herausragende Einzelpersonen darzustellen. Über diesen praktischen Aspekt hinaus erinnert mich dieses Beispiel von Abstraktem Realismus an den Zusammenhang zwischen finanzieller Abstraktion und Extraktion (oder Extraktivismus). Ein Zusammenhang, der offensichtlich wird, wenn man bedenkt, dass beide ohne eine direkte Beteiligung von Kapital aus schon bestehendem Reichtum Wert extrahieren. In ihrem Buch Assembly (2017) betrachten Antonio Negri und Michael Hardt die Rolle des Finanzwesens nicht nur als eine eng mit dem Abbau (extraction) von Bodenschätzen verknüpfte Infrastruktur, sondern auch als das Mittel, das es dem Kapital ermöglicht, Profit aus Zusammenarbeit und sozialer Produktivität zu schlagen (extract). Data-Mining etwa ist ein Begriff, der die Wertschöpfung (extraction of value) aus (sozial erzeugten) Daten direkt mit dem untertägigen Abbau (extraction) von Mineralien und Ölen in Verbindung bringt. Da Pixel nichts anderes als Ansammlungen elektronischer Information in der visuellen Form kleiner Quadrate sind – der digitale Stoff fast aller Bilder, die heutzutage im Umlauf sind –, birgt das abstrakte Erscheinungsbild von Resslers Film einen Hinweis auf die Herausforderung, die das kapitalistische Paar Abstraktion-Extraktion für soziale Bewegungen darstellt.
Barricade Cultures of the Future (2021), ein weiterer Film, der als Teil von Barricading the Ice Sheets gezeigt wird, ist als dialogische Befragung zum Status der Kunst heute, zur Beziehung zwischen Ästhetik und Politik, strukturiert.
Nnimmo Bassey, Jay Jordan, Steve Lyons, Marta Moreno Muñoz und Aka Niviâna sind allesamt Künstler*innen und Klimaaktivist*innen. Sie nehmen an einer gefilmten Gesprächsrunde teil, die im Umfeld der von Ressler konzipierten Konferenz Barricading the Ice Sheets im Februar 2020 bei Camera Austria stattfand, und sprechen über ihre Rollen in sozialen Bewegungen im Allgemeinen und innerhalb der Klimagerechtigkeitsbewegungen im Besonderen. Sie diskutieren, wie wichtig es ist, die künstliche Trennung zwischen Künstler*innen (als jenen, die ein Monopol auf Kreativität haben) und Aktivist*innen (als jenen, die ein Monopol auf soziale Veränderung haben) abzubauen, die Dringlichkeit, von indigenen Bewegungen zu lernen, dass »das Gemeinsame« wichtiger ist als »das Neue« (und dabei das radikale Potenzial alter Traditionen in der Gegenwart wiederzuentdecken), und wie notwendig es ist, bei Diskussionen über gewaltfreie oder gewaltsame Strategien des Widerstands alle Voreingenommenheiten abzulegen. Sie sprechen auch über die Möglichkeit, außerhalb von Institutionen zu arbeiten (also über den eng gefassten politischen Horizont neoliberaler Kunstorganisation hinauszugehen) und dabei gleichzeitig Kämpfe für radikale Demokratie in den institutionellen Raum hineinzubringen.
Im Film alternieren Bilder der fünf Sprecher*innen mit Ausschnitten direkter Aktionen, die von Klimagerechtigkeitsbewegungen organisiert wurden. In einer Sequenz sieht man eine Gruppe von Demonstrant*innen, die bei den COP21-Protesten im Dezember 2015 in Paris mit riesigen aufblasbaren Silberblöcken um sich wirft (zahlenmäßig stark reduziert nach Erklärung des Ausnahmezustandes wegen der Attacke im Nachtclub Bataclan nur wenige Wochen zuvor). Diese Silberblöcke – große, leichte, reflektierende Objekte – bilden die »Red Line Barricade« (Fabriqué à Paris – Made in Paris, 2015), entworfen vom Kollektiv Tools for Action und konzipiert als effektive und spielerische Barrikade für Demonstrant*innen. Den Choreografen und Theoretiker Moritz Frischkorn erinnern diese aufblasbaren Objekte an Andy Warhols Silver Clouds (1968): reflektierende, heliumgefüllte Kissen, die der Künstler als Bühnenbild für Merce Cunninghams Tanzstück RainForest (1968) geschaffen hatte. José Esteban Muñoz betrachtet diese Arbeit Warhols als ein gutes Beispiel einer queeren utopischen Ästhetik. Bezug nehmend auf Herbert Marcuses Interpretation des Mythos von Narziss verdeutlicht Muñoz, wie Silver Clouds das Leistungsprinzip hinterfragt, das die kapitalistische Gesellschaft untermauert, und ein anderes Verhältnis zwischen menschlicher und nichtmenschlicher Natur nahelegt: »Wir können also Warhols silberne Kissen, die in Cunninghams RainForest auch Bäume sind, als Bestandteile einer narzisstischen Szene betrachten: Der Blick in die reflektierende Oberfläche eines Kissens impliziert die Teilhabe am Modus des Nachdenkens, welcher die vom Leistungsprinzip verordneten Arbeits-, Schuft- und Verzichtsmandate unterbricht« (Muñoz, 2009). Zudem zeugt die Blumenwerdung von Narziss nach seinem Tod von einem Vorgang totaler Vereinigung mit der Natur; dies untergräbt das Subjekt-Objekt-Verhältnis zwischen menschlicher und nichtmenschlicher Natur, einen der philosophischen und epistemischen Grundsteine des Anthropozentrismus und des modernen Extraktivismus.
Fast fünfzig Jahre nach 1968 dokumentieren die von Ressler bei den COP21-Protesten in Paris gefilmten Bilder, wo Demonstrant*innen mit riesigen aufblasbaren Silberblöcken um sich warfen, eine soziale Choreografie, bei der die große Verweigerung zu einer Verweigerung des Extraktivismus aufgerüstet wurde und wo die Aussicht auf ein anderes Verhältnis zur nichtmenschlichen Natur, das mittlerweile auf einer radikalen Kritik des westlichen Anthropozentrismus basiert, jegliche Naivität verliert.
Die Ausstellung wird durch eine Reihe fotografischer Arbeiten ergänzt, bei denen Botschaften über die Auswirkungen der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise auf die Biosphäre über Bilder von arktischem Eis, Permafrost, Kohleabbaustätten, Himmel und Ölteppichen gelegt sind. Passend zu Resslers militantem Kunstverständnis scheinen diese Drucke eher dazu geeignet, bei einer Demonstration in die Höhe gehalten zu werden als in irgendeinem Wohnzimmer zu hängen. Es lässt sich nicht ausschließen, dass sie bald zu neuen Plakaten werden oder vielleicht neue kollektive Gesten und Methoden inspirieren, die dann wiederum das Archiv des Kapitalozäns bereichern werden.
Marco Baravalle
Barricading the Ice Sheets ist ein Projekt von Oliver Ressler und wird mit Unterstützung des Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF: AR 526) sowie Camera Austria als Forschungsinstitution realisiert. Barricading the Ice Sheets wird im Rahmen von Einzelausstellungen bei Camera Austria, Graz (AT, 4. 9. – 21. 11. 2021); Museum of Contemporary Art, Zagreb (HR, 30. 11. 2021 – 30. 1. 2022); Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.), Berlin (DE, Juni – August 2022); Tallinn Art Hall, Tallinn (EE, 9. 9. – 13. 11. 2022); The Showroom, London (GB, Oktober – Dezember 2022) präsentiert. Forschungsassistentin: Lisbeth Kovačič
Oliver Ressler (geb. 1970, lebt und arbeitet in Wien, AT) produziert Installationen, Projekte im öffentlichen Raum und Filme zu Themen wie Ökonomie, Demokratie, der Klimakrise, Formen des Widerstands und gesellschaftlichen Alternativen. Bisher hat er 36 Filme fertiggestellt, die bei Tausenden Veranstaltungen von sozialen Bewegungen, in Kunstinstitutionen und bei Filmfestivals gezeigt wurden. Ressler hatte umfassende Einzelausstellungen bei CAAC, Sevilla (ES) und SALT Galata, Istanbul (TR) und nahm an den Biennalen in Taipeh (TW, 2008), Lyon (FR, 2009), Gyumri (AR, 2012), Venedig (IT, 2013), Quebec (CA, 2014), Jeju (KR, 2017), und an der documenta 14, Kassel (DE, 2017) teil.
www.ressler.at
Bildmaterial
Die honorarfreie Veröffentlichung ist nur in Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Ausstellung und die Publikation gestattet. Wir ersuchen Sie die Fotografien vollständig und nicht in Ausschnitten wiederzugeben. Bildtitel als Download unter dem entsprechenden Link.