SANDRA KRIŽIĆ ROBAN

Chrystel Lebas: Die Übersetzerin der Natur

Simon Schama zufolge gibt es zwei Arten von Arkadien: das eine ist glatt, langsam, gänzlich beruhigt, das andere von Unkraut überwuchert, dicht und unerschlossen. Das eine ist ein idyllischer Ferienort, das andere ein Ort der Unsicherheit, des Unbehagens, wenn nicht gar der Panik. An den Orten, die Chrystel Lebas aufgesucht hat, kann man beide Arten erleben, oder zumindest erahnen. In ihren früheren Serien brachte sie ein anderes Zeitgefühl zum Ausdruck als heute; sie bestand auf Immobilität, auf eine Qualität der Dauer, die den jeweiligen Ort, für den sie sich entschied, auszeichnete. Die Künstlerin lauerte oft stundenlang auf Hochsitzen auf den besonderen Moment, wie ein Jäger auf seine Beute („The Wait“, 2007). Bei „Abyss“ (2003 – 2006) und „Blue Hour“ (2005 – 2006) interessierte sie die Landschaft, die sie aufsuchte, vor allem wegen ihrer Verbindung zu historischen Ereignissen, Erzählungen und Erinnerungen, die sie ererbt hat oder die ihr in ihrer Kindheit zugewachsen sind. Große Wälder sind oft frei von jeglicher menschlichen Präsenz, so dass dort selbst der temporäre Aufenthalt der Künstlerin kaum auffällt. Weil wir wissen, wie viele Stunden sie tatsächlich auf eine bestimmte Farb- und Lichtstimmung gewartet und sie unter äußerster Ausreizung ihrer Mittel festgehalten hat, interpretieren wir ihre fotografietypisch nicht-interventionistischen, zurückhaltenden Arbeiten vor allem als Dokumente der Dauer und Beständigkeit; als Einlösung ihrer Haltung, dass man nur lang genug beobachten muss, um etwas zu sehen.

Ihre Aufnahmen aus vergangenen Jahren wurden meist in der Abenddämmerung gemacht, der Zeit zwischen Tag und Nacht, die man in Frankreich die „Stunde zwischen Hund und Wolf“ nennt, in der man eine Szene mit narrativen Elementen auffüllen und sie zu einem imaginären Komplex verweben kann, in dem die Grenzen zwischen Vorstellung, Erleben und Erwartung aufgehoben sind. Die französische Redewendung entre chien et loup beschreibt die Grauzone, in der das Beobachtete verschwimmt und „neue Grenzen zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, und vielleicht sogar Unerkennbaren, schafft, zwischen Intellekt und Instinkt“.

Textbeitrag in Camera Austria International 110/2010, S. 11–22.

FLORIAN EBNER

Arno Gisinger: Ein Gespräch mit Florian Ebner

Florian Ebner: Konstellation. Walter Benjamin en exil lautet der Titel Ihrer jüngsten Publikation, mit der ein mehrjähriges »Work in progress« seinen vorläufigen Abschluss in Buchform gefunden hat.Es sind Fotografien von den Exilorten des Philosophen Walter Benjamin zwischen 1933 und 1940, ausgehend von Zitaten aus seinen Briefen. Die Arbeit erscheint mir als eine – wenn auch ungewöhnliche – Form der Hommage. Mit dem Wissen um Ihre über fünfzehnjährige künstlerische Auseinandersetzung mit der visuellen Darstellbarkeit von Geschichte ist die Wahl Benjamins gewiss kein Zufall, und daher interessiert mich zunächst, welche Momente in dieser „Konstellation“ aufeinander treffen.

Arno Gisinger: Tatsächlich bündelt Konstellation. Walter Benjamin en exil viele Aspekte jener zentralen Frage, die mich seit Jahren beschäftigt: Welche Rolle spielt das Medium Fotografie in der Konstruktion von Geschichte und Gedächtnis? Die Idee war, an jenen Orten zu fotografieren, die Benjamin während seines Exils aufsuchte und von denen aus er Briefe schrieb. Aus der Konfrontation von Text und Bild entstand ein besonderes Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart, sozusagen eine neue »Konstellation« von Ort und Zeit. Denn nach Walter Benjamin ist ein Bild immer „ein Augenblick, in dem das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer ‚Konstellation‘ zusammentritt“.

FE: Und diesen „blitzhaften Augenblick“ halten Sie fotografisch fest, oder besser, Sie provozieren oder konstruieren ihn erst durch die besondere Anordnung von Bild und Text. Wie lädt – um beim Bild vom elektrischen Spannungsverhältnis zu bleiben – der Text das Bild und das Bild den Text auf? Und was entlädt sich dann? Denn Ihre Bilder verzichten auf den empathischen Blick „des auf den Spuren Wandelnden“, auf das alte, nostalgisch-suggestive Modell. Sie gehen radikal vom Heute aus.

AG: Ich habe für dieses Projekt mit der französischen Benjamin-Biografin Nathalie Raoux zusammengearbeitet. Neben ihren historischen Forschungen begleitete uns die benjaminsche Korrespondenz auf allen Reisen und beeinflusste den Akt des Fotografierens nachhaltig. Die Briefe legten in gewisser Weise nahe, was und wie ich fotografierte. Diese „Standbilder“ sind – durch das Stativ verlangsamt und mit grosser Präzision und Tiefenschärfe ausgestattet – der dokumentarischen Bildtradition des 19. Jahrhunderts verpflichtet. Ich hatte die Fotografien von Eugène Atget und den benjaminschen Vergleich mit „Tatortfotografien“ im Kopf. Dabei sind die Exilorte Benjamins, wenn man sie heute besucht, eigentlich Nicht-Orte. In nahezu allen Fällen spricht aus den Fotografien die Vergeblichkeit einer Spurensuche nach der Vergangenheit in der Gegenwart. Das Lesen der Spuren wird nur durch die Briefe und das historische Wissen suggeriert. Deshalb erzeugt erst die Montage ausgewählter Zitate mit den Fotografien die eingangs erwähnte „Konstellation“ aus Chronologie und Topografie. Die Fotografie ist, wie Benjamin selbst meinte, ein ideales Mittel zur Ent-Mystifizierung, zur Ent-Auratisierung der Kunst. Sie bietet die Möglichkeit zur Abbildung von Wirklichkeit und gleichzeitig zur Distanzierung in der Wahrnehmung. So wie das Theater eines Erwin Piscator oder Bertold Brecht mit der reinen Einfühlung bricht, um die Bühne als Instrument der Aufklärung zu retten. In diesem Sinne benütze ich meine Kamera weniger als Produktionsmittel zur Erzeugung schöner Bilder, sondern als ein Lesegerät, das mir hilft, die Welt anders zu sehen und über die Methode der Montage neu anzuordnen.

Textbeitrag in Camera Austria International 110/2010, S. 23–34.

MAREN LÜBBKE-TIDOW

Arne Schmitt: Provisorische Gebiete

In einem fortlaufenden Projekt fotografiert Arne Schmitt aus Zügen heraus. Es sind Aufnahmen, die in der Anfahrt auf größere Städte entstanden sind. In kaum einem der Bilder wird in diesen ausschnitthaften Ansichten der konkrete Ort erkennbar. Der Blick aus dem Zugfenster erlaubt keinen repräsentativen Blick auf den städtischen Raum, im Gegenteil: Die Sicht ist verstellt. Das untere Drittel der Bilder allein ist den Bahndämmen mit ihren Gleiskörpern und der Ruderalflora gewidmet. Städtebauliche Konzeptionen sehen die visuelle Gestaltung von Baugrund in diesen Gebieten nicht vor, die hinter den Gleisen liegenden Gebäude ragen so anarchisch wuchernd auf. Die Fotografien führen die visuellen Phänomene in überraschender Raumdichte nüchtern vor, der Blick aber prallt im Betrachten der Serie zunehmend an der Oberfläche ab, wird leer. Arne Schmitt könnte dem entgegen arbeiten und etwa durch Titel Orte angeben, um zur Spurensuche anzuregen. Stattdessen aber macht er den für die Fotografie paradoxen Moment der Verweigerung Informationen zu senden stark – paradox deswegen, weil mit einer Fotografie alle visuellen Fakten naturgemäß stets offen da liegen. Schmitt aber hebt diesen Aspekt des „unlogischen“ Sehens hervor, indem er die Serie mit „Fatigue“ (franz.: Müdigkeit, Erschöpfung) überschreibt. Dieser Kontrast von fotografisch präzise recherchiertem städtischen Raum und gleichzeitig über den Titel poetisch kodifiziertem Raum (Sehen) beschreibt eine typische Strategie von Arne Schmitt. Seine Arbeitsweise lässt über eine Auseinandersetzung Fotografie nach wie vor umstrittene Frage des Verhältnisses von Wirklichkeit und Sichtbarkeit zur Disposition steht.

Textbeitrag in Camera Austria International 110/2010, S. 35–41.

JEFF DERKSEN

Kunst und Städte bei Mega Ereignissen. Zur Überschneidung von Kultur, Alltag und den Olympischen Spielen in Vancouver und darüber hinaus. Teil III

In den ersten beiden Teilen dieser Kolumne habe ich über die große Erwartung reflektiert, dass die Olympischen Spiele die Stadt als Zombie-Armee besetzen würden, dass ihre Straßen vom 900 Millionen Dollar teuren „Integrated Security Unit“, dem mit Misstrauen gesehenen Olympischen Komitee (VANOC) und internationalen Touristen erstickt und erdrosselt werden würden. Dagegen bildete sich eine Koalition von KünstlerInnen, AktivistInnen, zivilgesellschaftlichen Gruppierungen und Kämpfern für soziale Gerechtigkeit als Spitze einer Opposition heraus, die die Stadt mit all ihren Widersprüchen und Möglichkeiten vor der flachen und fühllosen Vision eines Markenzeichens namens Vancouver zu retten versuchte, einem naturgesättigten Lockmittel für globale Bürger, die in einer grünen, vor postfordistischen Investitions- und Tourismusfreuden strotzende Stadt ihr Kapital anzulegen hofften. Aber, wie schon Henri Lefebvre zu Beginn seiner Betrachtungen über die Ereignisse und Situationen von 1968 sagte: „Ereignisse strafen Vorhersagen Lügen: insofern sie historisch sind, werfen Ereignisse Rechnungen über der Haufen“. Auf die Spiele und die eruptiven, affektiven und annullierten Ereignisse in der Stadt übertragen heißt das, dass die Vorhersagen nicht immer eintrafen und die Rechnungen beider Seiten nicht so gut aufgingen wie sie es versprochen hatten.

Textbeitrag in Camera Austria International 110/2010, S. 60–61.