Camera Austria International

112 | 2010

  • RAINER FUCHS
    Wahrnehmung in Bewegung. Zu den Arbeiten von Ruth Anderwald + Leonhard Grond
  • RUTH ANDERWALD + LEONHARD GROND
  • WALTER SEIDL
    Für eine memorierende Aneignung von Bildern: Zu den Arbeiten von Šejla Kamerić
  • ŠEJLA KAMERIĆ
  • MERCEDES VICENTE
    Zu den Arbeiten von Ann Shelton
  • ANN SHELTON
  • MERCEDES VICENTE
    Zu den Arbeiten von Mark Adams
  • MARK ADAMS
  • FOUAD ASFOUR
    Wiederholte Unterbrechungen und anhaltendes Schweigen. Überlegungen zum Werk des südafrikanischen Fotografen Ernest Cole
  • ERNEST COLE

Vorwort

Wir freuen uns, Ihnen in der vorliegenden Ausgabe von Camera Austria wiederum eine Reihe sehr unterschiedlicher künstlerischer Positionen vorzustellen. Diese Beiträge führen auf eine Reise, die in Österreich ihren Anfang nimmt, über Sarajevo und Neuseeland leitet und schließlich in Südafrika endet. Tatsächlich ist es die Auseinandersetzung mit Orten, Schauplätzen und Landstrichen – an die Geschichte, individuelle und kollektive Erfahrung geknüpft sind – die zwischen diesen Arbeiten Verbindungen herstellt. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass nahezu alle KünstlerInnen, denen dieses Heft monographische Beiträge widmet, – oft Jahre zurückliegend – bereits im FORUM dieser Zeitschrift präsentiert worden sind.
Die Arbeit des österreichischen Künstlerpaars Ruth Anderwald + Leonhard Grond wird von Rainer Fuchs vorgestellt, der insbesondere auf die Medien- und Wahrnehmungsreflexion in ihrem fotografischen und filmischen Werk eingeht. Die KünstlerInnen entwerfen in ihren Arbeiten neue Perspektiven der Darstellung und Wahrnehmung, indem sie gewohnte Ordnungen destabilisieren oder sonst – meist verborgene – Schauplätze und Situationen beleuchten. Spielerisch trotzen ihre Aufnahmen der Schwerkraft oder wenden sich Übergangszonen und Zwischenbereichen zu (zum Beispiel in ihrer Arbeit „Notes on a Coast“, wo sie sich der Küste Israels vom Meer aus annähern), um dem Instabilen, Flüchtigen und Veränderlichen Realität und Sichtbarkeit zu verleihen.
Walter Seidl führt in die Arbeit der bosnischen Künstlerin Šejla Kamerić ein. In der Diskussion ihrer Fotoarbeiten, Installationen und Filme argumentiert er, dass die Bedeutung von Kamerićs Arbeit in ihrer zeithistorischen Bedingtheit rund um die Ereignisse des Balkankrieges liegt, der den historischen Hintergrund von zahlreichen Arbeiten der Künstlerin bildet. Immer wieder setzt sie ihre Erfahrungen während der dreieinhalbjährigen Belagerung und Beschießung der Stadt Sarajevo zu Beginn der 1990er Jahre in Bezug zu den widersprüchlichen, sich nach dem Krieg neu etablierten gesellschaftlichen Wertesystemen des post-kommunistischen Bosnien-Herzegowina. Die Arbeit von Šejla Kamerić wird Anfang 2011 auch in einer Ausstellung (gemeinsam mit Tatiana Lecomte) bei Camera Austria zu sehen sein.

Volltext

Camera Austria International 112 | 2010
Vorwort

Wir freuen uns, Ihnen in der vorliegenden Ausgabe von Camera Austria wiederum eine Reihe sehr unterschiedlicher künstlerischer Positionen vorzustellen. Diese Beiträge führen auf eine Reise, die in Österreich ihren Anfang nimmt, über Sarajevo und Neuseeland leitet und schließlich in Südafrika endet. Tatsächlich ist es die Auseinandersetzung mit Orten, Schauplätzen und Landstrichen – an die Geschichte, individuelle und kollektive Erfahrung geknüpft sind – die zwischen diesen Arbeiten Verbindungen herstellt. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass nahezu alle KünstlerInnen, denen dieses Heft monographische Beiträge widmet, – oft Jahre zurückliegend – bereits im FORUM dieser Zeitschrift präsentiert worden sind.
Die Arbeit des österreichischen Künstlerpaars Ruth Anderwald + Leonhard Grond wird von Rainer Fuchs vorgestellt, der insbesondere auf die Medien- und Wahrnehmungsreflexion in ihrem fotografischen und filmischen Werk eingeht. Die KünstlerInnen entwerfen in ihren Arbeiten neue Perspektiven der Darstellung und Wahrnehmung, indem sie gewohnte Ordnungen destabilisieren oder sonst – meist verborgene – Schauplätze und Situationen beleuchten. Spielerisch trotzen ihre Aufnahmen der Schwerkraft oder wenden sich Übergangszonen und Zwischenbereichen zu (zum Beispiel in ihrer Arbeit „Notes on a Coast“, wo sie sich der Küste Israels vom Meer aus annähern), um dem Instabilen, Flüchtigen und Veränderlichen Realität und Sichtbarkeit zu verleihen.
Walter Seidl führt in die Arbeit der bosnischen Künstlerin Šejla Kamerić ein. In der Diskussion ihrer Fotoarbeiten, Installationen und Filme argumentiert er, dass die Bedeutung von Kamerićs Arbeit in ihrer zeithistorischen Bedingtheit rund um die Ereignisse des Balkankrieges liegt, der den historischen Hintergrund von zahlreichen Arbeiten der Künstlerin bildet. Immer wieder setzt sie ihre Erfahrungen während der dreieinhalbjährigen Belagerung und Beschießung der Stadt Sarajevo zu Beginn der 1990er Jahre in Bezug zu den widersprüchlichen, sich nach dem Krieg neu etablierten gesellschaftlichen Wertesystemen des post-kommunistischen Bosnien-Herzegowina. Die Arbeit von Šejla Kamerić wird Anfang 2011 auch in einer Ausstellung (gemeinsam mit Tatiana Lecomte) bei Camera Austria zu sehen sein.
Mercedes Vicente führt in die Arbeit von zwei der führenden ­FotokünstlerInnen Neuseelands ein – Mark Adams und Ann ­Shelton. Beide setzen sich in besonderen Formen des Dokumentarischen mit den sozialen, kulturellen und historischen Kontexten der von ihnen fotografierten Schauplätze auseinander. Während sich Adams vor dem Hintergrund kulturhistorischer und ethnografischer Referenzen mit Neuseelands umkämpfter und komplexer postkolonialer Geschichte beschäftigt, untersucht Shelton Orte, die von ­Gewalt und Traumen der jüngeren Geschichte gekennzeichnet sind. Dabei bezieht sie sich oft auf Quellen der Populärkultur. Mercedes Vicente verweist in ihrem Text auf den für die Diskussion zeitgenössischer dokumentarischer Haltungen sehr brauchbaren Begriff von David Campany einer „verspäteten“ Fotografie, einer Fotografie, „die nicht mehr die Spur eines Ereignisses, sondern die Spur einer Spur eines Ereignisses“ sei.
Bei unserem Besuch in Südafrika, wo wir Anfang dieses Jahres die Ausstellung „I am not afraid. The Market Photo Workshop ­Johannesburg“ und die Ausgabe Camera Austria Nr. 100 an der Johannesburg Art Gallery vorstellen konnten, sind wir im Haus David Goldblatts auf das Buch „The House of Bondage“ von ­Ernest Cole gestoßen – das Buch eines jungen Schwarzen Fotografen über das Leben der Schwarzen in Südafrika, an dem der 1940 geborene ab 1964 gearbeitet hat, und das ihm nach der Veröffentlichung 1967 den unmittelbaren Landesverweis eingebracht hat. Das tragische persönliche Schicksal Ernest Coles und sein früher Tod haben dazu geführt, dass seine Fotografien nicht mehr zugänglich waren und einzig dieses Buch in der politischen Diskussion präsent geblieben ist – so ist großen Reproduktionen daraus im Apartheid-Museum in Johannesburg ein eigener Raum gewidmet. Erstmals überhaupt wurden in diesem Jahr unbeschnittene Originalabzüge, die Cole 1966 der Hasselblad Foundation überlassen hat, in Südafrika in einer Ausstellung gezeigt und in einer Monografie veröffentlicht. (Erst während der Arbeit an diesem Beitrag wurde ich wieder daran erinnert, dass Allan Sekula am Ende seines 1986 erschienenen Essays „The Body and the Archive“ dieses Buch eingehend kommentiert und darauf verwiesen hat, wie abhängig das Verstehen eines einzelnen Fotobildes von Kontext und Information bleibt.) Wir haben den in Johannesburg lebenden Autor Fouad Asfour gebeten, dieses wichtige, und auch für die aktuelle Diskussion relevante Werk vorzustellen.
Diese Ausgabe Nr. 112 von Camera Austria – die vierte des Jahrganges 2010 – ist auch gleichzeitig das letzte von Manfred Willmann und mir als Herausgeber und Redaktionsleiterin verantwortete Heft. Wie viele von Ihnen bereits wissen, werden ab Anfang des kommenden Jahres Reinhard Braun und Maren Lübbke-Tidow die Arbeit des Vereins „Camera Austria. Labor für Fotografie und Theorie“ übernehmen und zukünftig die Programmatik der Zeitschrift Camera Austria International wie auch der Ausstellungsvorhaben definieren. Die beiden haben als RedakteurInnen und als AutorInnen zahlreicher Beiträge diese Zeitschrift ebenso geprägt, wie sie als KuratorInnen einer Reihe von Ausstellungen (so auch der zurzeit laufenden Schau „Milk Drop Coronet. 30 Ausstellungen zur Virtuosität des Dinglichen“) unser Programm seit den 1990er Jahren entscheidend mit gestaltet haben. Ist eine solche Phase der Übergabe und des Abschließens für uns auch nicht ohne Emotionen, so freut es uns doch außerordentlich, dass bei aller neuen Ausrichtung unserer Institution dieser Übergang durch Kontinuität gekennzeichnet sein wird.
Dass Camera Austria als von Künstlern gegründetes und geleitetes Projekt tatsächlich zu einer Institution werden konnte, hat mit Fotografie-spezifischen und institutionellen Faktoren in Österreich zu tun, ist aber auch unserer Hartnäckigkeit, der Bereitschaft (in künstlerischer wie finanzieller Hinsicht) Risiko zu übernehmen, und nicht zuletzt auch dem Glück geschuldet: Dem Glück, über jetzt 35 Jahre Arbeits- und Lebenszeit verbunden und (ich darf hier auch für Seiichi Furuya und Manfred Willmann sprechen) ebenso lange einem gemeinsamen Vorhaben verpflichtet geblieben zu sein.Unser offener Blick auf die Fotografie und unser Verständnis von Kunst als gesellschaftlich notwendige Arbeit hat das Projekt ­Camera Austria sehr früh von Konzepten unterschieden, die Fotografie als künstlerisches Mittel allein über ästhetische Kriterien zu definieren suchten. Die Verankerung am Beginn unserer Tätigkeit in der Künstlervereinigung Forum Stadtpark hat zudem vermieden, dass wir zu einer „reinen“ Fotoinstitution wurden. In einem medien­spezifisch engeren Rahmen hat uns dies ermöglicht, konzeptuelle Positionen ebenso wie dokumentarische neben hermetisch poetischen Äußerungen als relevante künstlerische Beiträge zu allgemein gesellschaftlichen Fragestellungen zu verstehen.
Der Stellenwert der Fotografie ist seit dem Beginn unserer Arbeit sehr viel höher geworden. Trotzdem bleibt (besonders in Österreich) noch viel zu tun: Öffentliche Institutionen und Universitäten sind gefordert, das spezifische (auch historische) Wissen, das den unterschiedlichen Praxisansätzen in der Fotografie zugrunde liegt, zugänglich zu machen und – wie wir es in dieser Zeitschrift immer wieder praktiziert haben – wichtige künstlerische Positionen der letzten Jahrzehnte mit dem zeitgenössischen Diskurs zu verbinden.
Unser Dank gilt allen, die an unserem Projekt von Anfang an beteiligt waren: Den Künstlerinnen und Künstlern, Autorinnen und Autoren, deren Erfahrungen wir teilen durften und von denen wir lernen konnten. Den zahlreichen MitarbeiterInnen, deren Engagement und Identifikation mit unserem Projekt diese Arbeit überhaupt erst möglich gemacht haben. Ganz besonders danken wir – neben den Förderern, institutionellen Partnern und Inserenten – unseren Leserinnen und Lesern, Abonnentinnen und Abonnenten, deren kontinuierliches Interesse für uns die wichtigste Motivation gewesen ist und die, so hoffen wir, auch in Zukunft die Arbeit von ­Camera Austria mit tragen werden.

Beiträge

Forum

EVZEN SOBEK

BORIS FARIC

SAMUEL HENNE

ADAM LAMPTON

NICHOLAS WINTER

NAK GYUN KIM

KATHARINA TIMNER

SIMONA ROTA

Ausstellungen

A State Beyond Time
Dolenjski muzej, Novo mesto
SEBASTJAN LEBAN

Daido Moriyama and the Fondazione Fotografia in Modena
GIGLIOLA FOSCHI

Der schaffende Mensch. Welten des Eigensinns
Schloss Trautenfels, Universalmuseum Joanneum
ULRICH TRAGATSCHNIG

Human Condition. Mitgefühl und Selbstbestimmung in prekären Zeiten
Kunsthaus Graz, Universalmuseum Joanneum, Graz
ULRICH TRAGATSCHNIG

Brighton Photo Biennial
New Documents – Photography as Social Reality
FATOS ÜSTEK

Opening of Le Bal, Paris
Anonymes. Unnamed America in Photography and Film
ANNE BERTRAND

Anti-Photojournalism
Palau de la Virreina, Barcelona
ALBERTO MARTÍN

Valie Export: Zeit und Gegenzeit
Unteres Belvedere, Wien
Lentos Kunstmuseum Linz
MANISHA JOTHADY

Christopher Williams. For Example: Dix-Huit Lecons sur la Société Industrielle (Revision 11)
DANIEL PIES

Willem de Rooij: Intolerance
Neue Nationalgalerie, Berlin
KIRSTY BELL

For the Untimely. Polytechnic
Raven Row, London
DENISE ROBINSON

Visa Pour L’Image 2010. 22nd International Photojournalism Festival
Perpignan
CARLES GUERRA

Lara Almarcegui
Secession, Wien
MILENA DIMITROVA

Cyprien Gaillard
Kunsthalle Fridericianum, Kassel
FRAC Champagne-Ardenne, Reims
Kunsthalle Basel
MMK Zollamt, Frankfurt a. M.
NINA SCHEDLMAYER

Bücher

Peter Geimer: Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen
Philo Fine Arts, Hamburg 2010.
TACO HIDDE BAKKER

Sally Stein: John Gutmann. The Photographer at Work
Center for Creative Photography, The University of Arizona, Tuscon 2009;
Yale University Press, New Haven 2009.
ROLF SACHSSE

Takuma Nakahira: For a Language to Come
Osiris, Tokyo 2010.
MASASHI KOHARA

Lorenz Engell: Playtime. Münchner Filmvorlesungen
UVK, Konstanz 2010.
DREHLI ROBNIK

Wojciech Wilczyk: There is no such thing as an innocent eye
Halart, Łódź 2009.
KRZYSTOF PIJARSKI

Die Ausstellung. Politik eines Rituals
Diaphanes, Zürich / Berlin 2010.
PETER KUNITZKY

Impressum

Herausgeber, für den Inhalt verantwortlich: Manfred Willmann
Verlag, Eigentümer: Verein CAMERA AUSTRIA. Labor für Fotografie und Theorie. Lendkai 1, 8020 Graz, Österreich

Editors: Christine Frisinghelli, Daniela Billner, Tanja Gassler
Redaktion Nachrichten: Heidi Oswald

Lektorat: Theresa Haigermoser
Englisches Lektorat: Aileen Derieg
ÜbersetzerInnen: John Doherty, Yoshiaki Kai, Emily Ligniti, Wilfried Prantner, Josephine Watson, Richard Watts