TOMÁŠ POSPISZYL

Eva Koťátková: Über Verdauungsmechanismen

Die BetrachterIn betritt einen riesigen Verdauungstrakt, durchläuft seine Windungen, um am Ende im blutroten Halbdunkel einen Film auf einem Bildschirm zu sehen. Im Film führen in einer Schulturnhalle versammelte Kinder verschiedenste Disziplinen aus: Sie zeichnen, rezitieren, lernen das Innenleben des menschlichen Körpers kennen, spielen Theater. Der symbolische Magen auf der Bühne des Puppentheaters füllt sich und dehnt sich, solange ausreichend Nahrung zur Verfügung steht. Gemeinsam bereiten die Kinder den Textilkörper einer Riesenschlange vor, der dann eine symbolische Maus verschlucken soll: sie selbst. Die Eingeweide der Schlange untersuchen sie dann aus der Perspektive der verzehrten Nahrung. Für weitere Übungen begeben die Kinder sich hinaus in eine Landschaft, die von einer riesigen Mülldeponie dominiert wird. Das Ziel dieses metaphorischen Schulspiels scheint die gemeinsame Entdeckung der eigenen Anatomie, das Kennenlernen der Verdauungsmechanismen, aber auch ein Verständnis davon, wie der individuelle Stoffwechsel mit dem gesamten Ökosystem der Erde zusammenhängt, mit dem Kreislauf ihrer Energien und Umweltabfälle im Zusammenwirken der Industriegesellschaft.
Eva Koťátkovás Ausstellung »Stomach of the World«¹ (2017) im Belvedere 21 in Wien ging auf den ersten Blick nicht über den Rahmen ihres bisherigen Werkes hinaus: Ihre Grundlage war eine durchdachte, geradezu szenografische Kombination von Objekten, Fotocollagen und ebenjenem Film, die Fragen nach der Beziehung des Einzelnen zu weiter gefassten gesellschaftlichen Regelwerken aufwarf. Vergleicht man »Stomach of the World« mit ihren älteren Arbeiten, zeigen sich neben Kontinuitäten jedoch auch Verlagerungen, die einen Einblick in die Dynamik ihres ganzen Schaffens  ermöglichen.

¹ The exhibition running from 15.11.2017 – 18.2.2018 was dominated by a forty-six-minute-long film of the same title which premiered in the spring of 2017 at the Benaki Museum in Athens; thematically related works were also included in the exhibition “Diary of a Stomach” held in parallel at Meyer Riegger in Berlin.

Textbeitrag in Camera Austria International 141/2018, S. 9–20.

AVEEK SEN

Moyra Davey: Weit weg von heißen Bädern

»Das Leben ist ein Film. Der Tod ist eine Fotografie.«
Susan Sontag, Einleitung zu Peter Hujar. Portraits in Life and Death (1976, gefilmt von Moyra Davey in »Hujar/Palermo«, 2010)

Auch wenn Moyra Daveys Filme mit einer spezifischen Situation oder mit einem Ereignis aus ihrem persönlichen Leben oder dem ihrer Familie beginnen, wie es bei »Hemlock Forest« (2016) und »Wedding Loop« (2017) der Fall ist, so bereiten sie mir doch vor allem dann großes Vergnügen, wenn ich mich ihnen gewissermaßen kollegial nähern kann, als ein »fellow labourer«, wie Samuel Taylor Coleridge, der Dichter aus der englischen Romantik, seine idealen LeserInnen beschrieben hat. Ich setze mich mit Notizbuch und Stift hin und mache eine Liste von all den Zitaten, Bezügen und Anspielungen, die in die vielschichtige Textur von Daveys Filmen Eingang finden – die Spur von Büchern, Essays, Artikeln und Filmen, die sich aus ihrer Arbeit ergibt. Ich gehe dem allem nach, und kehre dann immer wieder zu Daveys Filmen zurück. Das klingt nach harter Arbeit und das ist es auch. Aber es fühlt sich nie wie eine pedantische oder rein intellektuelle Übung an. Es bringt mich immer zurück zum Kern dessen, was in diesen Filmen schwierig, unausgesprochen oder unaussprechlich bleiben muss. Es bringt mich auch zu diesen anderen AutorInnen und FilmemacherInnen – Mary Wollstonecraft, Chantal Akerman, Julia Margaret Cameron, Hervé Guibert, Virginia Woolf, Simone Weil, Natalia Ginzburg und Louise Bourgeois, um nur ein paar zu nennen – mit denen ich mich immer wieder beschäftige, wenn ich mich Schritt für Schritt um ein besseres Verständnis von Daveys Filmen bemühe. Was sich in diesem Prozess allmählich vertieft und erweitert, ist nicht (oder nicht nur) die Summe meines Lernens, sondern etwas weniger leicht Ergründliches: eine unruhige Intensität des Lebens, Denkens und Arbeitens, die mein eigenes Verständnis von Leben und Kunst schärft.

Der Text wurde anlässlich der Ausstellung »Moyra Davey: Portrait / Landscape«, Galerie Buchholz, Berlin, 2017, verfasst.
Textbeitrag in Camera Austria International 141/2018, S. 21–32.

AYŞE GÜLEÇ

Cana Bilir-Meier: Bewegungen zwischen Archiven – Dekolonisierung von Disziplinen

»Es ist wie beim Schreiben einer Dissertation: Du musst dich an bestimmte Regeln halten, sonst kommst du nicht durch. Mein ganzes Bestreben läuft auf eine Veränderung der Disziplinen, der Gattungen hinaus; der Art, wie ein Gedicht, eine Theorie, ein Kinderbuch gelesen wird […]. Ich muss also schauen, wie ich möglichst viele dieser Regeln brechen und die Leser*innen des Buches dennoch bei der Stange halten kann.«¹

Das hier angeführte Zitat von Gloria Evangelina Anzaldúa deutet auf die Anstrengungen hin, die mit dem »Brechen« und Überschreiten disziplinärer Grenzen verbunden sind. Sie beschreibt, dass dieser Prozess der Dekolonisierung von Disziplinen und Genres den Blick verändert, dass er ein anderes Sehen und Lesen ermöglicht und somit alternative Darstellungsformen anderer Menschen erlaubt.
Das Zitat macht aber auch deutlich, dass diese Verschiebungen mit der Änderung der eigenen kulturellen, kognitiven, aber auch emotionalen Praktiken und Politiken einhergehen. Diese Umorientierung setzt Empathie als eine aktive, komplexe und interpretative Handlungspraxis voraus, damit sich Kognition und Gefühle verbinden² und wir das Gegenüber sehen und wahrnehmen. Sara Ahmed zufolge sind es »kulturelle Politiken«, die uns mit und in Kollektiven ausrichten.³ Doch was passiert, wenn wir sich immer wiederholenden, empathielosen Darstellungen gegenüberstehen? Können wir in diesem Zusammenhang von Strukturen sprechen, die uns emotional-kognitiv wegorientieren und somit Verbindungen und Verbundenheiten verunmöglichen und verhindern?⁴

¹ Gloria Evangelina Anzaldúa, Borderlands: La Frontera. The New Mestiza (San Francisco: Aunt Lute Books, 2012), quotation translated by Wilfried Prantner.
² Paul Hamburg, “Interpretation and Empathy: Reading Lacan with Kohut,” International Journal of Psychoanalysis, 72 (1991), pp. 347–61.
³ Sara Ahmed, “Collective Feelings: Or, The Impressions Left by Others,” Theory, Culture & Society, 21(2) (2004), pp. 25–42, esp. p. 25.
⁴ Ayşe Güleç and Johanna Schaffer, “Empathie, Ignoranz und migrantisch situiertes Wissen,” in Juliane Karakayalı, Çağrı Kahvecı, Doris Liebscher, and Carl Melchers, eds., Den NSU-Komplex analysieren: Aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft (Bielefeld: transcript, 2017 (= Edition Politik 38)).

Textbeitrag in Camera Austria International 141/2018, S. 33–44.

KATHRIN SCHÖNEGG

Peter Miller: Auch Briefkästen sind Dunkelkammern

Forscher sind auf der Suche. Sie suchen nach etwas, das sich ihnen entzieht. Ein verführerisches und rätselhaftes Ding, das sich nicht greifen oder formulieren lässt. Während der Arbeit stoßen sie manchmal auf etwas Unerwartetes, etwas, das sie nicht gesucht haben, von dem sie, ist es einmal da, aber genau spüren, es gefunden zu haben. Forschung beginnt dort, wo das Untersuchungsobjekt die Fragestellung verändert.
Georges Didi-Huberman hat diese paradoxe Verknüpfung von Zielsetzung und Zufälligkeit als »Doppelexistenz aller Forschung« beschrieben.¹ Ersetzt man den Begriff der Forschung durch den der Kunst, ergibt sich ein recht präzises Bild von der Arbeitsweise Peter Millers. Der 1978 geborene Künstler aus Burlington, Vermont (US), lebt und arbeitet seit mehr als einer Dekade im deutschsprachigen Raum. Millers Medien sind Film und Fotografie, er stellt aber auch Installationen und Skulpturen her, nimmt Interventionen im Raum vor und schließt an die Performancekunst an. Trotz der materiellen und formalen Vielfalt thematisieren seine Arbeiten ein inhaltlich abgestecktes Feld: Sie erforschen die Geschichte der technischen Medien und kreisen um ihre grundlegenden Elemente wie Chemie und Licht, Publikum und Flickereffekt, Optik und Perspektive.
Miller befragt Film und Fotografie auf ihre Beschaffenheit hin, ohne sie ontologisch festzuschreiben. Im klassischen Sinn filmt und
fotografiert er wenig. Erzählweisen des Hollywoodkinos und der Abbildrealismus der angewandten Fotografie gehören kaum zu seinen Interessen. Vielmehr reduziert der Künstler das technische Dispositiv, indem er auf das »obscure Kästchen«² der Kamera, auf Objektiv oder Linse verzichtet. Sein Film »Stained Glass« (2015), der auf der 57. Biennale di Venezia (2017) installiert war, thematisiert die Bedingungen des Sehens jenseits der elektrischen Signale der Retina.³

¹ Cf. Georges Didi-Huberman, “Erscheinungen, disparat,” in Phasmes: Essays über Erscheinungen von Photographien, Spielzeug, mystischen Texten, Bildaus-
schnitten, Insekten, Tintenflecken, Traumerzählungen, Alltäglichkeiten, Skulpturen, Filmbildern (Cologne: DuMont, 2001), pp. 9–12, here p. 10.
² Hubert Damisch, “Fünf Anmerkungen zu einer Phänomenologie des photographischen Bildes” (1963), in Fixe Dynamik: Dimensionen des Photographischen (Berlin: diaphanes, 2004), pp. 7–12, here p. 9.
³ In this context, the artist is referring to Marcel Duchamp: “Where do we go from here?” (1961), in https://msu.edu/course/ha/850/Where_do_we_go_from_here.pdf, accessed January 25, 2018.

Textbeitrag in Camera Austria International 141/2018, S. 45–56.