SABRINA MANDANICI

Janus im Blick

I
Das erste Bild, das ich sah, war eigentlich das letzte. Es wurde auf die Mauer eines alten Gebäudes projiziert, das über die U-Bahn-Gleise entlang des Wiener Naschmarkts ragt. Trauben von Köpfen, die vor einer Bühne stehen, starren in grelle Scheinwerfer, während in der Luft Konfetti kreist und wie gigantische Schneeflocken umherwirbelt. Die Begeisterung ist spürbar, sogar in schwarz-weiß. Und man könnte sich fast darauf einlassen, wäre da nicht diese eine seltsame Fahne, die aus dem Publikum ragt. Was habe ich da angeschaut?

II
Als Teil ihrer Serie »The Boys Are Back« (seit 2015) entwickelte Christina Werner im Jahr 2017 in Zusammenarbeit mit Camera Austria für die Vienna Art Week eine aus vierzehn Bildern bestehende Projektion. Diese beginnt mit einem Text, der sich an die Lyrics von Thin Lizzys »The Boys are Back in Town« anlehnt. Mit jedem weiteren Bild verstärkt sich das Gefühl einer bösen Vorahnung – am eindringlichsten sind die Hände kopfloser Männer in langweiligen Anzügen: eine Faust, ein Winken, ein Stoß. Diese bildlichen Tropen sind, als Aneignung von Nachrichtenbildern, sofort als die rhetorischen Gesten politischer Reden erkennbar. Diese Fragmente sind mit Nahaufnahmen eines Mikrofons vor einer Wand aus Fahnen, Ballons und noch mehr Konfetti durchsetzt und sie gewinnen trotz ihrer unterschiedlichen Quellen an Dringlichkeit und kontextualisieren das abschließende Bild. Die Botschaft ist offensichtlich: Politik als Rockkonzert. Wie der US-amerikanische Talkshow-Moderator Jay Leno so treffend sagte: »Politik ist Showbusiness für hässliche Menschen.« In Werners Projektion liegt diese Hässlichkeit im Arbeiten und Tun – im Geist – des Rechtspopulismus.

III
Als Künstlerin interessiert sich Werner für Dinge und Ereignisse, die die Gesellschaft bewegen; ihre Arbeit befasst sich mit den Themen Migration, Nationenbildung, Identität und Erinnerungskultur. Aber anstatt ihre Praxis als themenbezogen zu bezeichnen, bevorzugt sie es, sie als ein Mittel zur »Hervorhebung« und »Verdichtung« von aktuellen Zuständen oder gesellschaftlichen Verhältnissen zu sehen – die letztlich immer in Politik verstrickt sind. Während ein Großteil von Werners Projekten durch in den Tagesmedien zirkulierende Schlagzeilen, Artikel oder Bilder entsteht, entwickeln sie sich mitunter auch aus tief empfundenen Anliegen und eigenen Erfahrungen (wobei sie sich bewusst dafür entscheidet, persönliche oder biografische Verweise aus der ästhetischen und formalen Struktur ihrer Arbeit herauszuhalten).

Textbeitrag in Camera Austria International 149/2020, S. 11–20.

NINA STRAND

Lesbian Lands: Carmen Winant und die Ovulare

»Kann man alles hinter sich lassen? Ist es möglich, außerhalb und jenseits von jedem vertrauten Lebenssystem neu anzufangen, um neu zu erfinden, was es bedeutet (und wie es aussieht), als Körper und Seele auf dem Land zu existieren?« Mit diesen Worten beginnt Carmen Winants Essay in ihrem Fotobuch Notes on Fundamental Joy, das voriges Jahr bei Printed Matter erschien, mit dem Untertitel »Versuch der Abschaffung von Unterdrückung durch die soziale und politische Transformation des Patriarchats, das uns sonst zu beseitigen droht«.

Für ihr 2018 im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) gezeigtes Projekt »My Birth« forschte Winant umfassend zu der internationalen, lesbisch-separatistischen Gemeinschaft Lesbian Lands (Lesbische Lande, die auch Womyn’s Lands genannt wurde, wobei das »a« durch ein »y« ersetzt wurde, um das Wort »man«/»Mann« auszulöschen). Die Bewegung begann in den 1970er-Jahren in den Vereinigten Staaten – vor nur fünf kurzen Jahrzehnten –, als die Welt noch weißen Männern gehörte. Die Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern und der Mangel an Akzeptanz und Schutz für homosexuelle Menschen ließ viele Frauen aus den Städten wegziehen und ihre eigenen Gemeinschaften gründen. »Es kann nicht oft genug gesagt werden, wie schwierig es vor der Vernetzung und Bewusstseinsbildung, die mit der Frauenbewegung einsetzte, für Lesbierinnen war, einander zu finden«, schreibt Rose Norman in ihrem 2015 erschienenen Aufsatzband Landykes of the South. Sich vom Patriarchat wegzubewegen und ihre eigenen Lesbian Land-Gemeinschaften zu gründen, stellte einen möglichen Weg dar. Die Regeln der Gruppen waren klar: keine Männer und keine Heterosexuellen. »Die lesbisch-feministische Zurück-aufs-Land-Bewegung traf die bewusste Entscheidung, sich vom patriarchalen Mainstream zu lösen, anstatt an ihrer eigenen Unterdrückung mitzuwirken«, schreibt Heather Jo Burmeister 2013 in ihrer Masterarbeit »Rural Revolution. Documenting the Lesbian Land Communities of Southern Oregon«: »Sie sahen den lesbischen, feministischen Separatismus und die Erschaffung eines sicheren lesbischen Raumes als Weg, um ihre eigene Identität wiederherzustellen und die weitere Selbstwahrnehmung von Lesbierinnen auf der ganzen Welt durch Kunst und Literatur mitzugestalten.«¹

Die vielen Publikationen, die Lesbian Lands hervorbrachte – Zines, Pamphlete, Magazine – machen deutlich, wie wesentlich die Fotografie als Werkzeug für diese Frauen war: Bilder aufzunehmen wurde zu einer Form von Reklamation und Neuerfindung.

¹ Heather Jo Burmeister, »Rural Revolution. Documenting the Lesbian Land Communities of Southern Oregon«, Masterarbeit, Portland State University: Portland, Oregon 2013, https://pdxscholar.library.pdx.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=2079&context=open_access_etds.

Textbeitrag in Camera Austria International 149/2020, S. 21–30.

RADEK KROLCZYK

Himmel / Kein Himmel

Die ganz großen Bilder legen sich über die Stadt. Sie legen sich sanft, sie schmiegen sich an, sie wehen im Wind, sie decken zu, sie nehmen das Licht, sie ersticken. Die wirklich großen Bilder bewegen sich flexibel; man findet sie auf Planen oder Stoff. Vor Wahlen und an Nationalfeiertagen werden die großen Bilder größer und lassen alle anderen Bilder klein und unwichtig erscheinen. Das größte aller Bilder ist die türkische Fahne, die weite Fläche in Rot, darauf der Halbmond, dann noch der Stern. Während der letzten großen Wahlen 2018, bei denen sowohl das Parlament als auch der Präsident gewählt wurden, verdeckten rote Fahnen den Himmel über dem breiten Tarlabaşı Boulevard. Selbst der Himmel wurde Teil des Vaterlandes und trug mit Stern und Halbmond seine eigenen vaterländischen Gestirne. Türkische Fahnen waren auch über die Fassaden ganzer Häuserblocks gespannt und verdeckten so die Fenster. Immer findet sich irgendwo in den Straßen ein Händler, der die roten Nationalfahnen in Größen für den Hausgebrauch mit sich schleppt. Es scheint, als wollten sie einem möglichen Mangel an roten Nationalfahnen zuvorkommen. Es scheint, als gehörte die rote Nationalfahne neben den anderen Straßenwaren, wie Taschentüchern, Wasserflaschen und Maiskolben, zu den Dingen des täglichen Gebrauchs. Am 23. April, dem Feiertag der nationalen Souveränität, der gleichzeitig auch Feiertag des Kindes ist, marschieren ganze Schulklassen mit roten Nationalfahnen über der Schulter und in den Händen auf dem Taksim-Platz auf. Dort findet man Jahr für Jahr umringt von begeistertem Publikum eine Bühne, auf der Schulkinder in tarnfarbenen Uniformen marschieren, salutieren und Liegestütze machen. Die rote Fahne mit dem Halbmond und dem Stern umfängt sie alle schon sehr früh.
Wer fehlt, bleibt unsichtbar. Dass viele fehlen, wissen wir genau. Wir lesen von ihnen und wir sehen ihre Bilder an anderer Stelle. Wir lesen von ihnen in den deutschen Nachrichten, dort sehen wir ihre Bilder. An anderer Stelle erfahren wir von ihren Verhaftungen und den schweren Vorwürfen, die von der Staatsanwaltschaft gegen sie erhoben werden. An anderer Stelle erfahren wir auch von ihrer Haft, und davon, dass nur siebzig Kilometer westlich der Stadt, in einer anderen Stadt, Silivri, sich Europas größte Haftanstalt befindet. Zehntausend von denen, die fehlen, und von denen in Istanbul jedes Bild fehlt, befinden sich in Silivri. Dass es in Istanbuls Öffentlichkeit kaum Bilder von denen gibt, die fehlen, ist auffällig, so groß, so verschieden und so unüberschaubar ist diese Stadt.

Textbeitrag in Camera Austria International 149/2020, S. 31–40.

ARNISA ZEQO

Poesia civile: Zum Werk von Bouchra Khalili

»Wie viele Städte nennst du dein Eigen?«, fragt Bouchra, als wir uns nach einer Vorlesung des Kunsthistorikers Darby English Anfang dieses Jahres in einem Amsterdamer Café treffen. Meine Geschichte ist wie viele Entwurzelungsgeschichten eine von mehreren Straßen und Ecken, in denen sich mein Denken und mein Herz bildeten – in unterschiedlichen Sprachen, die ich allesamt meine nannte. Geboren bin ich in Tirana, aufgewachsen in Rom, dann zog ich nach Amsterdam, wo ich Englisch spreche. So die Kurzfassung meiner Geschichte, denn dazwischen lagen noch etliche andere Städte: Neapel als Kind, Washington, D. C. als Teenager und Athen, wo ich die Künstlerin zum ersten Mal traf, als Erwachsene. Mein Umherziehen pendelt zwischen Notwendigkeit und Privileg; zwischen Migration, Kolonialvergangenheit, archäologischen Ausgrabungen mit meiner Mutter und dem Wunsch nach einer Heimat, dem richtigen Ort, Gerechtigkeit; zwischen politischem Bewusstsein, Liebe und Anpassungsdruck. Was ist meine Stimme, was sind meine Städte? Ich spreche für mich und ich trage die Stimmen verstorbener wie lebender Freunde von vielen verschiedenen Straßenecken in mir.

In ihren künstlerischen Arbeiten und Filmen öffnet sich Bouchra Khalili für eine Vielzahl von Städten und Orten, in denen sich einzelne Lebenswege und subjektive Geografien zu Konstellationen eines politischen Kampfes fügen, einem Bewusstsein, geprägt von zahllosen ungehörten Geschichten der Zivilisation und ihrer Barbareien. Ihre Filme sind ausgesprochen performativ, als sie die komplexe Beziehung zwischen dem Filmischen und dem Theatralen spürbar machen. Sie verkörpern so gesehen die Macht des Theaters für die politische und bürgerliche Erweckung. Obwohl zahlreiche Orte gegenwärtig sind, liegt der Fokus stets auf deren Bewohner*innen und ihren Körpern im Raum der Stadt.

Die Kamera agiert häufig von einem festen Standort aus, setzt die Figuren frontal ins Bild und geht gelegentlich auf ihre Hände. Am wichtigsten aber sind ihre Stimmen. Die Skripte entstehen in reger Zusammenarbeit mit den Protagonist*innen, wobei diese ihren eigenen Anteil und ihre Meinung zur Darstellung ihres »Selbst« einbringen. Sie sind auch Träger für die Stimmen früherer Zeug*innen und von Textfragmenten aus politischen und poetischen Publikationen.

Textbeitrag in Camera Austria International 149/2020, S. 41–50.

YASUFUMI NAKAMORI

Ein Gespräch aus Südlondon

Die Fotografin Liz Johnson Artur und der Kurator für Internationale Kunst der Tate Modern, Yasufumi Nakamori, leben beide im Stadtteil Kennington im Süden Londons. Die russisch-ghanaische Fotografin und der japanische Kurator wurden beide Mitte der 1960er-Jahre in unterschiedlichen Teilen der Welt geboren und gehören jetzt zu der bunt gemischten, pulsierenden Kunstgemeinde Südlondons. An einem grauen Samstagnachmittag im Januar trafen sie sich in Johnson Arturs Studio, reflektierten über ihr produktives letztes Jahr und diskutierten, wohin ihr Weg führen könnte.

YN Lass uns über das Jahr 2019 sprechen. Du hattest zwei wirklich fantastische Ausstellungen auf beiden Seiten des Atlantiks, eine im Brooklyn Museum [»Liz Johnson Artur: Dusha«] und die andere in der South London Gallery [»Liz Johnson Artur: If you know the beginning, the end is no trouble«]. Die Schau im Brooklyn Museum wirkte wie eine kleine Überblicksausstellung über deine mehr als dreißig Jahre umfassende künstlerische Tätigkeit und beschäftigte sich mit dem »Black Balloon Archive«. Die Schau in der South London Gallery [im Folgenden SLG abgekürzt] war experimenteller und zeigte auch die neue Richtung, die du einschlägst. Würdest du mit dem Brooklyn Museum beginnen, und kommen dir da bestimmte Gedanken?
LJA Meine ersten beiden Ausstellungen in einem Jahr zu haben, war neu und interessant für mich. Als Drew [Sawyer, Kurator für Fotografie am Brooklyn Museum] mich fragte, ob ich in Brooklyn ausstellen wolle, war meine Reaktion: Wirklich? Und mein erster Gedanke war: Genau genommen hat in Brooklyn alles seinen Anfang genommen. Denn eine Reise nach New York im Jahr 1986 war das erste Mal, dass ich mit einer Kamera unterwegs war. Ich war als Fotografin nicht sonderlich selbstsicher, doch ich dachte, es sei schon eine ziemlich große Sache, nach New York zu reisen. Ich war niemals zuvor in Amerika gewesen.
YN Wo in Brooklyn hast du gewohnt?
LJA Es war irgendwo bei Brooklyn Heights. Die Familie, bei der ich wohnte, waren russische Juden. Und in dem Viertel gab es hauptsächlich chassidische Juden oder Schwarze. Ich denke, es war das erste Mal, dass ich Schwarze in einem alltäglichen Kontext sah. Man sagte mir ständig: Du kannst nicht nach Harlem gehen. Denn es herrschte eine wirkliche Kluft zwischen den beiden Gruppen, die eigentlich auf gegenüberliegenden Straßenseiten wohnten.

Textbeitrag in Camera Austria International 149/2020, S. 51–60.