AJDA ANA KOCUTAR

Was der Künstler unter Verschluss hielt. Ein kurzer Abriss über Ulays Frühwerk

»Während meiner Aufenthalte in seinem Amsterdamer Haus habe ich ein paar Mal erlebt, wie er abends aus seinen halbprivaten Lager­räumen kommt und mir eine Auswahl seiner Werke zeigt, von de­nen ich bis dahin nichts gewusst hatte. Ich kann mir gut vorstellen, dass es immer noch Arbeiten gibt, die mir völlig unbekannt sind.«¹

Als Ulay (Frank Uwe Laysiepen) 1974 seine Polaroids ausstellte, die er seit 1970 angefertigt hatte, wurde dies zu einem Ereignis, auf das er später stets zurückblicken würde – der Startschuss seiner künstlerischen Laufbahn. Dazu eingeladen, oder besser gesagt überredet, hatten ihn Wies Smals und Mia Visser, nach deren Wunsch seine Werke die letzten sein sollten, die in der Galerie Seriaal in Amster­dam gezeigt wurden, bevor Smals 1975 das De Appel gründete. Für die Ausstellung behängte Ulay die Galeriewände mit Stahlplatten, an denen er schätzungsweise 220 Einzelfotografien in individuellen Polaroid-Magazinen aus schwarzem Metall anbrachte. Die gezeigten Bilder waren allesamt höchst intimer Natur. Unter anderem fanden sich darunter Selbstporträts und Aufnahmen von Menschen am Rande der Gesellschaft: Transvestiten, Transpersonen und Obdachlose. Zu diesen Gemeinschaften fühlte er sich schon immer hingezogen, und dank seiner Polaroidkamera konnte er eine Verbindung zu ihnen aufbauen. Dabei schuf er diese Werkgruppe ohne die Absicht, sie je zu zeigen, geschweige denn sie als Kunst zu präsentieren. Seinen Erinnerungen zufolge mussten ihn die Galeristen viermal darum bitten, die Fotografien ausstellen zu dürfen, bevor er endlich nachgab. Letzten Endes erwiesen sich die Arbeiten jedoch als subversiv und das Publikum reagierte darauf äußerst negativ, wie er erzählte. Dieser Umstand erschütterte ihn zutiefst und brachte ihn zu dem Entschluss, seine Arbeiten nie mehr in der Öffentlichkeit zu zeigen.²

Zwar hielt Ulay diesen Vorsatz nicht auf Dauer ein, aber eine Zeit lang befolgte er ihn doch – zumindest, was diese spezifische Auswahl von Polaroids anging, die er erst 2005 wieder zeigen sollte. Die Erfahrung bestärkte ihn in dem Wunsch, andere Herangehensweisen zu entwickeln, Mitstreiter*innen sowie neue Formate und Wege zu finden, Erfahrungen zu sammeln und die Fragen und Vorstellungen auszudrücken, die er vom Selbst, dem Körper und den menschlichen Beziehungsgeflechten hatte: Themen, die noch jahrelang das Zentrum seiner künstlerischen Praxis bilden sollten. Ulay selbst bezeichnete sein Gesamtwerk als bizarr, schwer zu begreifen und nicht linear.³

1 Thomas McEvilley, »Ulay and Photography«, in: Whispers. Ulay on Ulay, hg.
Maria Rus Bojan und Alessandro Cassin, Amsterdam: Valiz Foundation 2014, S. 349–356, S. 350–352. 2 »The Body Is the Medium Par Excellence: Matthias Ulrich in Conversation with Ulay«, in: Ulay. Life-Sized, hg. Matthias Ulrich, Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt, Leipzig: Spector Books 2016, S. 37–48, hier S. 37.
3 Alessandro Cassin, “Ulay on Ulay,” in: Whispers: Ulay on Ulay, S. 83–96, hier S. 88.

Textbeitrag in Camera Austria International 163/2023, S. 31–42.

SUSANNE HOLSCHBACH

»Das Tor zu den Sternen haben wir geöffnet«*

She Takes a Hand Herself in History – mit diesem Titel hat Luise Schröder eine Arbeit überschrieben, die sie 2015 während eines deutsch-israelischen Künstler*innenaustauschs in Israel entwickelt hat: ein Titel, der auch für ihre Position als Künstlerin insgesamt stehen könnte. Die Geschichte in die eigene Hand zu nehmen, so eine starke Übersetzung dieser Metapher, steht dabei nicht nur für den Anspruch auf Agency, auf Handlungsfähigkeit und Gestaltungsmöglichkeit, sondern bedeutet bei Luise Schröder auch ganz konkret, etwas in die Hand zu nehmen, um es zu begreifen. So taucht die Hand als Motiv immer wieder in ihren Arbeiten auf: In dem Video Arbeit am Mythos (2011) sehen wir die Hände der Künstlerin, wie sie Bücher und Bilder auf einem Tisch arrangieren und immer wieder umordnen;¹ in La Barricade – Existing as a Promise (2022) werden Bücher in einer Menschenkette von Hand zu Hand gereicht; in Der gerissene Horizont (2020) bewegen sich Hände in einem Windkanal; ein Bild des Tableaus Strömungen in Bewegung (2021–2022) zeigt ein zwischen zwei Händen aufgespanntes Fadengeflecht, bereit, von einem anderen Paar Hände aufgegriffen zu werden.²

She Takes a Hand Herself in History kann auch beispielhaft für die Themenschwerpunkte, Arbeitsweisen und medialen Praktiken der Künstlerin stehen. Die aus einer Tapete mit montierten Fotografien, mehreren Videoscreens im Raum und einem Interviewfilm bestehende Installation beschäftigt sich mit der letztlich gescheiterten sozialistischen Utopie des Kibbuz als einem Modell gemeinschaftlichen Lebens und Arbeitens ohne Privatbesitz, zu dessen Grundpfeilern die vollständige Gleichstellung von Männern und Frauen in allen Lebensbereichen gehörte. […] »Die Vergangenheit liefert keine Lösungen für den Umgang mit der gegenwärtigen Realität« – diesem Urteil einer ihrer Gesprächspartnerinnen würde Luise Schröder wohl nur bedingt zustimmen. Das unverwirklichte Potenzial revolutionärer Bewegungen und alternativer Geschichtsverläufe bildet neben der Dekonstruktion von mythischen Narrativen die Fäden, die Schröder mit ihren Methoden der Recherche, der Gesprächsfüh­rung, der Montage, der Performance und der Installation immer wieder neu verknüpft, um einen Raum für Imaginationen zu öffnen. Ein besonderer Fokus der Künstlerin liegt dabei auf einer feministischen Perspektive.

* Das Titelzitat stammt aus dem Voiceover von Luise Schröders Essayfilm Der gerissene Horizont (2020).
1 Im Video folgen dem weitere Handlungen, die auf traumatische Ereignisse aus der Stadtgeschichte anspielen: Es wird Wasser ausgeschüttet, Feuer gelegt, Sand verteilt und Verschüttetes wieder freigelegt. Vgl. auch die Publikation Luise Schröder/Hannah Peterson, Arbeit am Mythos, Berlin/München: Deutscher Kunstverlag 2013.
2 Das in vielen Kulturen praktizierte Fadenspiel (string figures) steht bei Donna J. Haraway für »die Verknüpfung von Hand und Hirn, von Machen und Denken«, vgl. Donna J. Haraway, »Fadenspiele mit Art-GenossInnen«, in: Dies., Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag 2018, S. 19–45, hier S. 24.

Textbeitrag in Camera Austria International 163/2023, S. 43–54.