Camera Austria International

167 | 2024

  • LARA SCHOORL
    Im Dunkeln sind wir alle allein. Zu Brittany Nelsons barocken Parallelen
  • BRITTANY NELSON
  • AMELI M. KLEIN
    Wie viele Stimmen braucht es für einen Chor? Jasmina Cibics anti-systemische Weltgestaltung
  • JASMINA CIBIC
  • CHRISTIN MÜLLER
    »I will leave this for you to finish«
  • HUDA TAKRITI
  • SERUBIRI MOSES
    Kreisläufe des Schwarzseins
  • CÉDRINE SCHEIDIG

Vorwort

Als »potenzielle Geschichte[n]« bezeichnet Ariella Aïsha Azoulay in ihrem 2019 veröffentlichten Buch Potential History. Unlearning Imperialism Strategien, um die etablierten, zumeist westlich geprägten Geschichtsnarrative durch Gegenerzählungen und bislang nicht berücksichtigte Perspektiven zu unterwandern und so neue Lesarten der Vergangenheit zu ermöglichen. Die in Camera Austria International Nr. 167 vorgestellten Künstlerinnen verfolgen Ähnliches, wenn sie mit ihren Arbeiten alternative Formen der Geschichtsschreibung, eine Neudefinition der Vergangenheit aus der Gegenwart heraus oder imaginierte, bisweilen utopische und über das menschliche Vorstellungsvermögen hinausgehende Zukünfte vorschlagen. Bestehendes Bildmaterial oder in der visuellen Kultur verankerte Codes dienen dabei oftmals als Ausgangsmaterial, um auf das Potenzial nicht aufgenommener, revidierter oder imaginierter Bilder zu verweisen.

Volltext

Camera Austria International 167 | 2024
Vorwort

Als »potenzielle Geschichte[n]« bezeichnet Ariella Aïsha Azoulay in ihrem 2019 veröffentlichten Buch Potential History. Unlearning Imperialism Strategien, um die etablierten, zumeist westlich geprägten Geschichtsnarrative durch Gegenerzählungen und bislang nicht berücksichtigte Perspektiven zu unterwandern und so neue Lesarten der Vergangenheit zu ermöglichen. Die in Camera Austria International Nr. 167 vorgestellten Künstlerinnen verfolgen Ähnliches, wenn sie mit ihren Arbeiten alternative Formen der Geschichtsschreibung, eine Neudefinition der Vergangenheit aus der Gegenwart heraus oder imaginierte, bisweilen utopische und über das menschliche Vorstellungsvermögen hinausgehende Zukünfte vorschlagen. Bestehendes Bildmaterial oder in der visuellen Kultur verankerte Codes dienen dabei oftmals als Ausgangsmaterial, um auf das Potenzial nicht aufgenommener, revidierter oder imaginierter Bilder zu verweisen.

Lara Schoorl nimmt die Videoarbeit I Can’t Make You Love Me (2024) von Brittany Nelson zum Ausgangspunkt, um unter Bezugnahme auf Mieke Bal und Gilles Deleuzes Überlegungen zur Falte im Barock herauszuarbeiten, wie in Nelsons künstlerischem Schaffen verschiedene Zeiten »gefaltet« und miteinander gegengelesen werden. »In diesen Arbeiten existieren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gemeinsam durch Material, Konzept und Inhalt, ohne diese verschiedenen Zeiten zusammenfallen zu lassen. Vielmehr finden sie gemeinsam eine Möglichkeit, um lineare Zeit zu verformen und bestehende Narrative umzuschreiben.« Damit einhergehend wird in Nelsons Praxis nicht zuletzt ein Raum für die möglichen Parallelen zwischen menschlichem und nicht-menschlichem Leben eröffnet.

Jasmina Cibic, die nicht nur filmisch und fotografisch, sondern im-
mer wieder auch mit Skulptur, Performance und Installation arbeitet, beschäftigt sich mit der Konstruktion nationaler Identität(en) sowie der symbolischen Demonstration politischer Macht über die Vereinnahmung von und Bezugnahme auf Architektur und Kunst, insbesondere im Kontext des ehemaligen Jugoslawiens. Wie Ameli Klein in ihrem Essay schreibt, stellt Cibic diesen Mechanismen feministische, oder auf Soft Power basierende Sichtweisen, die in der »offiziellen« Geschichtsschreibung bisher kaum Beachtung fanden, entgegen: »Indem sie sich in ihren Arbeiten auf alternative Formen von Institutions- und Weltgestaltung konzentriert, hebt Cibic die Möglichkeit transnationaler Solidarität hervor und kehrt zum Potenzial von Kunst und Kultur als aktiven Akteurinnen zurück.«

Christin Müller veranschaulicht anhand verschiedener, seit 2020 entstandener Filme, Fotografien und Installationen von Huda Takriti, wie die Künstlerin ausgehend von ihrer eigenen Familiengeschichte und deren Verstrickungen in die politische Situation im »Nahen Osten« Erzählungen entwickelt, in denen sich mehrere Stränge entspinnen und wieder verflochten werden, ohne davon auszugehen, dass nur eine Form der vermittelten Geschichte die »richtige« wäre. Müller arbeitet heraus, wie es Takriti immer wieder darum geht, Deutungshoheiten in Frage zu stellen. – »Wie verändern sich die Erzählungen von Bildern im Laufe der Zeit? Ist das Rätselhafte, das Raum für Fiktion birgt, die passendere Antwort auf die Frage nach der Wahrheit als der Versuch, eine detailgetreue Recherche abzubilden?«

Cédrine Scheidig nimmt in ihren Porträts, Landschaftsaufnahmen und Stillleben den Alltag Schwarzer Menschen in den französischen 
Überseegebieten, insbesondere in Guyana, Martinique und Guadeloupe, in den Blick. Ihr Interesse gilt Fragen um Identitätsbildung und Zugehörigkeit. Serubiri Moses betrachtet die Arbeit Scheidigs mittels des in Guyana entstandenen, von französisch-karibischen und afrikanischen Einflüssen geprägten Musikstils Zouk und legt dar, wie die Künstlerin einer eigenen, karibisch geprägten Form »Schwarzer Erfahrung« Sichtbarkeit verleiht und dabei etablierten, 
vor allem auf die Landschaft fokussierenden visuellen Narrativen der Karibik als einem exotischen Paradies entgegenarbeitet: »In ihrer Verfolgung der Kreisläufe von Schwarzsein, von Cayenne nach Paris, zeigt Scheidig eine Strategie auf, die mit den Ursprüngen und der Bewegung der Schwarzen Kultur, über Geografie und Geschichte hinweg, in Zusammenhang steht […].«

September 2024
Christina Töpfer, June Drevet

Cover: Brittany Nelson, Blue, 2013. C-Print, 152,4 × 127 cm. Courtesy: die Künstlerin.

Beiträge

Forum

Vorgestellt von der Redaktion
Theresa Büchner
Sérgio Leitão
Louisa Boeszoermeny
Emile Rubino
Nina Porter
Sunny Pudert

Ausstellungen

Avant-Garde and Liberation: Contemporary Art and Decolonial Modernism
mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Vienna, 7. 6. – 22. 9. 2024
CECILIA BIEN

This World Has to End
Cauleen Smith: The Deep West Assembly
Astrup Fearnley Museet, Oslo, 14. 6. – 15. 9. 2024
NINA STRAND

Elfriede-Mejchar-Preis für Fotografie 2024: Lisa Rastl
FLUSS, Schloss Wolkersdorf im Weinviertel, 16. 6. – 21. 7. 2024
MARGIT NEUHOLD

Ost-West-Verbindungen
Flucht in die Öffentlichkeit: 10. f/stop – Festival für Fotografie
Leipzig Verschiedene Orte, Leipzig, 31. 5. – 16. 6. 2024
MARIE MEYERDING

Franz Wanner: Mind the Memory Gap
Kindl – Zentrum für zeitgenössische Kunst, Berlin, 24. 3. – 14. 7. 2024
JULIA GWENDOLYN SCHNEIDER

Images in Relation: Practices of Post-Representational Aesthetics
MLZ Art Dep & Wiener Art Foundation, Trieste, 8. 6. – 6. 7. 2024
JUNE DREVET

The Poem Returns as an Echo: Dialogues with Theresa Hak Kyung Cha (1951–1982)
ISET—Contemporary Greek Art Institute at the National Gallery, Athens, 14. 6. – 31. 7. 2024
KYVELI MAVROKORDOPOULOU

A Letter to Lucia Moholy, July 2024
Lucia Moholy: Exposures
Kunsthalle Praha, Prague, 30. 5. – 28. 10. 2024
MARKÉTA OTHOVÁ

Über die Wirklichkeit hinaus
düsseldorf photo+. Biennale for Visual and Sonic Media
Verschiedene Orte, Düsseldorf, 17. 5. – 14. 7. 2024
CAROLIN FÖRSTER

Auch Technologie
Welt anschauen: Positionen aktueller Post-fotografie und digitaler Bildkultur
Kunstsammlungen am Theaterplatz, Chemnitz, 28. 7. – 27. 10. 2024
JOCHEN BECKER

Archiv Peter Piller: Transferfenster. Das Schalke Museum im Kunstmuseum Gelsenkirchen
Gelsenkirchen, 13. 6. – 4. 8. 2024
JENS BÜLSKÄMPER

Poesie des Alltäglichen. Fotografien von Elfriede Mejchar
Museum der Moderne Salzburg, Altstadt (Rupertinum), Salzburg, 26. 4. – 15. 9. 2024
Im Alleingang. Die Fotografin Elfriede Mejchar
Wien Museum musa, Wien, 18. 4. – 1. 9. 2024
Elfriede Mejchar: Grenzgängerin der Fotografie
Landesgalerie Niederösterreich, Krems, 13. 4. 2024 – 16. 2. 2025
ULRIKE MATZER

Michael Wesely: Berlin 1860–2023
Museum für Fotografie – Staatliche Museen zu Berlin, 12. 4. – 1. 9. 2024
STEFANIE DIEKMANN

Landschaft re-artikulieren
MMKK – Museum Moderner Kunst Kärnten, Klagenfurt, 13. 6. – 1. 9. 2024
CHRISTIAN EGGER

Ahlam Shibli: Dissonant Belonging
LUMA Westbau, Zürich, 7. 6. – 8. 9. 2024
LUMA Arles, 2. 7. 2023 – 7. 1. 2024
WOLFGANG BRÜCKLE

Photographic Land Surveys Arpenter, photographier la Nouvelle-Aquitaine
Frac Nouvelle-Aquitaine MÉCA, Bordeaux, 5. 4. – 6. 10. 2024
ARNO GISINGER

Bücher

Participant Observer Observed
Mercedes Vicente, Darcy Lange: Videography as Social Practice Palgrave
Macmillan, Cham 2023
JORGE RIBALTA

Joanna Zylinska, The Perception Machine: Our Photographic Future Between the Eye and AI
The MIT Press, Cambridge, MA; London 2023
TACO HIDDE BAKKER

Laura Bielau, TEST (2019–2021)
Spector Books, Leipzig 2024
EWA BORYSIEWICZ

Simon Baier, Markus Klammer (Hg.), Aesthetics of Equivalence. Art in Capitalism
August Verlag, Berlin 2023
PETER KUNITZKY

Gegen die ewige Wiederkehr des Gleichen
Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie
REINHARD BRAUN

Impressum

Verein CAMERA AUSTRIA. Labor für Fotografie und Theorie.

Verlag, Eigentümer: Verein CAMERA AUSTRIA. Labor für Fotografie und Theorie.
Lendkai 1, 8020 Graz, Österreich

Chefredaktion: Christina Töpfer.
Redaktion: June Drevet.

Übersetzer*innen: Dawn Michelle d’Atri, Amy Klement, Soliman Lawrence, Vladimíra Šefranka Žáková, Alexandra Titze-Grabec.

Englisches Lektorat: Dawn Michelle d’Atri.

Dank: Taco Hidde Bakker, Rebekka Bauer, Laura Bielau, Louisa Boeszoermeny, Theresa Büchner, Barbora Čápová, Jasmina Cibic, Ludger Derenthal, Regine Ehleiter, Philipp Goldbach, Leon Hösl, Gudrun Kemsa, Ameli M. Klein, Alex Simon Klug, Francesca Lazzarini, Sérgio Leitão, Kristina Lenz, Marco Lorenzetti, Falk Messerschmidt, Serubiri Moses, Christin Müller, Brittany Nelson, Markéta Othóva, Nina Porter, Sunny Pudert, Ljiljana Radlovic, Emile Rubino, Torsten Scheid, Cédrine Scheidig, Sabine Maria Schmidt, Lara Schoorl, Pola Sieverding, Magdalena Stöger, Huda Takriti, Sophie Tappeiner, Mercedes Vicente.

Copyright © 2024
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit vorheriger Genehmigung des Verlags. Für übermittelte Manuskripte und Originalvorlagen wird keine Haftung übernommen. Trotz intensiver Bemühungen war es leider nicht möglich, die Rechteinhaber*innen aller verwendeten Abbildungen ausfindig zu machen. Sollten Ihre Rechte berührt sein, bitten wir Sie, sich mit der Redaktion in Verbindung zu setzen.

ISBN 978-3-902911-82-7
ISSN 1015 1915
GTIN 4 19 23106 1800 9 00167