Camera Austria International

133 | 2016

  • OLAF NICOLAI
    KATHRIN PETERS
    KITO NEDO
    ANDREAS PRINZING
    DOREEN MENDE
    HANS-JÜRGEN BONACK, JULIA KLEMENT
    HANNES BÖHRINGER
    TATJANA TURANSKYJ
  • HEIDI SPECKER
  • JENS ASTHOFF
    Ketuta Alexi-Meskhishvili: Analoger Schein
  • KETUTA ALEXI-MESKHISHVILI
  • STEPHEN ZEPKE
    Postkonzeptuelle Analogfotografie: Mladen Bizumics Kodak-Arbeiten
  • MLADEN BIZUMIC
  • TACO HIDDE BAKKER
    Stephan Keppel: Obertöne von Bewegung
  • STEPHAN KEPPEL
  • OMAR KHOLEIF
    Was ist eine Ästhetik des Internets?

Vorwort

Die Idee zur vorliegenden Ausgabe hat gleichermaßen lose wie zwingend mit zwei gegenläufigen Momenten zeitgenössischer Fotografie zu tun. Zum einen drehen sich derzeit Fragen darum, was Fotografie überhaupt noch sein kann, wie man dem Sehen ein Bild abringen kann, was man diesem Bild »antun« und wie es dem Medium geradezu gewaltsam entrissen werden muss. Zum anderen überlagern sich damit Fragen danach, was mit diesen Bildern geschehen könnte – welchen Ordnungen sie unterworfen werden und wie sie restrukturiert werden könnten, und welche Konsequenzen dies für die Dramaturgien ihrer Bedeutungen oder zumindest Erzählungen hätte. Letzten Endes laufen diese – wie auch viele andere zunächst widersprüchliche an Fotografie herangetragene Forderungen – auf ein Spannungsverhältnis zurück, das uns in den letzten Jahren immer wieder beschäftigt hat: Was kann das fotografische Bild leisten? Was wird ihm zugemutet? Scheint diese grundsätzliche Ambivalenz nicht seltsam anachronistisch zu einer Zeit, die vom Post-Dokumentarischen spricht und das Bild als nach der Repräsentation zu verstehen versucht? Was bedeutet es schließlich für das fotografisch Gezeigte, wenn es nicht länger als spezifische Form der Repräsentation gedacht wird? Jedenfalls hat diese Annahme eine eminente Fragilität der fotografischen Bilder zur Folge, die sich an einer vermehrt diffusen Grenze zwischen Klarheit, Direktheit, Bezeichnung und Unbestimmtheit, Offenheit, Abstraktion bewegen.

Volltext

Camera Austria International 133 | 2016
Vorwort

Die Idee zur vorliegenden Ausgabe hat gleichermaßen lose wie zwingend mit zwei gegenläufigen Momenten zeitgenössischer Fotografie zu tun. Zum einen drehen sich derzeit Fragen darum, was Fotografie überhaupt noch sein kann, wie man dem Sehen ein Bild abringen kann, was man diesem Bild »antun« und wie es dem Medium geradezu gewaltsam entrissen werden muss. Zum anderen überlagern sich damit Fragen danach, was mit diesen Bildern geschehen könnte – welchen Ordnungen sie unterworfen werden und wie sie restrukturiert werden könnten, und welche Konsequenzen dies für die Dramaturgien ihrer Bedeutungen oder zumindest Erzählungen hätte. Letzten Endes laufen diese – wie auch viele andere zunächst widersprüchliche an Fotografie herangetragene Forderungen – auf ein Spannungsverhältnis zurück, das uns in den letzten Jahren immer wieder beschäftigt hat: Was kann das fotografische Bild leisten? Was wird ihm zugemutet? Scheint diese grundsätzliche Ambivalenz nicht seltsam anachronistisch zu einer Zeit, die vom Post-Dokumentarischen spricht und das Bild als nach der Repräsentation zu verstehen versucht? Was bedeutet es schließlich für das fotografisch Gezeigte, wenn es nicht länger als spezifische Form der Repräsentation gedacht wird? Jedenfalls hat diese Annahme eine eminente Fragilität der fotografischen Bilder zur Folge, die sich an einer vermehrt diffusen Grenze zwischen Klarheit, Direktheit, Bezeichnung und Unbestimmtheit, Offenheit, Abstraktion bewegen.
An der eigentümlichen Visualität der Fotografie arbeitet sich Heidi Specker seit vielen Jahren in verschiedenen Serien und Büchern ab. Sicherlich ist auch das Verweben von ausschnitthaften Texturen mit der Sachlichkeit ihrer Darstellung für ihre Arbeit von Bedeutung, ohne dass die Künstlerin jedoch manuell in das Bild interveniert. Es ist eher der Blick, eine Art von umherschweifender Präzision des Sehens, gepaart mit Montage, Gruppierung und Reihung, der ihre Praxis bestimmt. Für die vorliegende Ausgabe allerdings hat sich die Künstlerin entschlossen, ein weiteres Moment ihrer Praxis in den Vordergrund zu rücken: die Affinität zum Filmischen. Verschiedene AutorInnen wurden eingeladen, einen solchen filmischen Blick auf Heidi Speckers Werk zu werfen. Parallel dazu hat sie zwei unterschiedliche »Drehbücher« durch ihre Arbeiten der letzten 20 Jahre entworfen: »Zeige nicht alle Seiten der Dinge, bewahre dir einen Rest an Unbestimmbarem«, wie Andreas Prinzing Jean-Luc Godard zitiert.
Jens Asthoff arbeitet minutiös heraus, wie die Praxis von Ketuta Alexi-Meskhishvili an der Grenze von Abstraktion und Objektfotografie angesiedelt ist, als eine Art permanentes semi-dokumentarisches Oszillieren zwischen Darstellung und Transformation des Dargestellten – vor allem, wenn sie ins Filmmaterial kratzt, mit Fotogramm-Praktiken, Lichtschablonen und -gestik experimentiert, ohne dabei Konventionen des Blicks und der Repräsentation aus den Augen zu verlieren. Es schienen zugleich heteronome und den Bedingungen des Fotografischen unterworfene Bilder zu entstehen, eine spezifische Zeitgenossenschaft des Visuellen, in der zugleich alles offen zutage tritt und komplex durch Materialität und Kontext angereichert wird – »umgeschmolzen zu etwas Neuem von ganz eigener Textur, etwas, das weder bloße Repräsentation ist noch ungegenständliche Konstruktion«, schreibt der Autor.
Auch für Mladen Bizumic ist die Fotografie, wie Stephen Zepke schreibt, »gleichermaßen Material wie Konzept – eine Verbindung, die das Werk selbst zu erschließen versucht«. In seinen neueren Arbeiten beschäftigt sich der Künstler mit dem Aufstieg und Untergang des Eastman Kodak-Konzerns, der exemplarisch für den Umbruch steht, dem die Fotografie an ihrem Übergang vom Analogen zum Digitalen ausgesetzt war. Dieser Umbruch erscheint bei Bizumic ebenfalls als Aufeinanderprallen von Material und Repräsentation, als fragile Kombinatorik von materiellen wie bildlichen Zitaten, zugleich mit ihrer Auflösung bis hin zur Neuzusammensetzung geschredderter Bilder. Dabei steht die Arbeit »am Rand ihrer eigenen Auflösung, vielleicht zum Teil wieder akribisch zusammengesetzt wie in einem schlechten Spionagefilm, vielleicht auch –
poetischer – im Davonfliegen fixiert, gerade bevor sich die Teile in alle Winde zerstreuen, fast wie ein Schnappschuss«.
Stephan Keppels Beitrag geht auf einen New York-Aufenthalt im Herbst 2015 zurück, bei dem er gemeinsam mit dem Autor des seinen Beitrag begleitenden Essays, Taco Hide Bakker, durch die Stadt streifte. Das Urbane und Semi-Urbane steht seit vielen Jahren im Mittelpunkt seines Interesses, die Peripherie des Städtischen, die er allerdings nicht räumlich denkt, sondern als eine Ordnung, die den gesamten Stadtraum vertikal durchzieht. Das Ornamental-Banale, das Zufällige, Verachtete, findet sich als urbane Textur an jedem beliebigen Ort. »Alles endet zwangsläufig als Geschichte, Film oder Buch. Heutzutage wohl unweigerlich als Bild«, schreibt Taco Hidde Bakker, also in einem Prozess der Umwandlung, Übersetzung, Reorganisation und Restrukturierung.
Diese Momente der Be- und Umarbeitung des Fotografischen finden sich in allen Arbeiten der hier vorgestellten KünstlerInnen. Ist es bei Keppel das Bild, das potenziell zum Text wird, oder bei Specker potenziell zum Film oder bei Meskhishvili potenziell zur Montage der Materialien des Visuellen oder bei Bizumic zum Material einer politischen Geschichte des Bildes – zumeist liegt alles offen zutage und ist doch komplex angereichert durch die Materialität der Darstellung und ihrer Kontexte. Die Zeitgenossenschaft des fotografischen Bildes liegt vielleicht in dieser Kapazität der Anreicherung und Aufladung seiner zahlreichen Oberflächen, sei es analog oder digital, oder, wie zumeist, in einer recht undefinierten Zone des Übergangs zwischen beidem.
Insofern handelt diese Ausgabe auch von Überschreitungen, von Transformationen, Überlagerungen, vom Übertreten des einen ins andere. Aus diesem Grund haben wir uns entschlossen, auf dem Cover das Cover eines Buches zu reproduzieren. Heidi Speckers re-prise nimmt dabei das Buch Ci-Contre von Moï Wer aus den frühen 1930er Jahren als Vorlage, um ihre eigenen Bilder in diesen Entwurf einzuschleusen. Die Aneignung und das teilweise Überschreiben als Zeitschriftencover scheint uns die Fragilität dessen, was gezeigt wird, und was der Fotografie zugemutet werden kann, auf einen ambivalenten Punkt zu bringen.
Omar Kholeif, den wir bereits 2014 zu einem Essay über die Arbeit der palästinensischen Künstlerin Shuruq Harb eingeladen haben und der im August 2015 als Jurymitglied maßgeblich an der Zuerkennung des Camera Austria-Preises für zeitgenössische Fotografie der Stadt Graz an Annette Kelm beteiligt war, beginnt mit dieser Ausgabe die Kolumne des Jahres 2016, deren ersten Teil er der Frage widmet: »Was ist eine Ästhetik des Internets?« Jedenfalls, so schreibt er, sei diese im Begriff, die Beschränkungen der Bildschirme zu überschreiten und zu einem wesentlichen Teil des Realen zu werden.

Reinhard Braun
und das Camera-Austria-Team
März 2016

 

Cover: Heidi Specker, Re-prise: 110 photos de Heïdi Specker. Ed. by Ann and Jürgen Wilde. Spector Books, Leipzig 2016.

Beiträge

Forum

Vorgestellt von der Redaktion
Simon Brugner
Nir Evron
Klára Vystrčilová
Sarah Walzer
Alessandro Calabrese
Valérian Mazataud

Ausstellungen

Transparenzen. Zur Ambivalenz einer neuen Sichtbarkeit
Bielefelder Kunstverein, Bielefeld
Kunstverein Nürnberg – Albrecht Dürer Gesellschaft
ANDREAS PRINZING

Marina Pinsky: Dyed Channel
Kunsthalle Basel
MORITZ SCHEPER

Ocean of Images: New Photography 2015
MoMA, New York
NICOLAS LINNERT

»Das Foto als Objekt ist chemisch, physikalisch, physisch der dinghaften Welt viel näher, als es allgemeinhin gedacht wird«
Jochen Lempert
Between Bridges, Berlin
WOLFGANG TILLMANS, MAREN LÜBBKE-TIDOW

Lina Selander
Moderner Museet, Stockholm
SARA CALLAHAN

Das Paradies der Untergang. Hartmut Skerbisch – Medienarbeiten
Kunsthaus Graz
Wenzel Mraček

LaToya Ruby Frazier: Performing Social Landscapes
Carré d’art, Nîmes
CAPC, Bordeaux
GISLIND NABAKOWSKI

Leo Kandl: People and Places—Photographs from 40 Years. Otto Breicha-Award 2015
Museum der Moderne – Rupertinum, Salzburg
WALTER SEIDL

Otto Steinert. Absolute Gestaltung
Museum Folkwang, Essen
Arbeit am Bild. Otto Steinert und die Felder des Fotografischen – Internationales Symposium zum 100. Geburtstag von Otto Steinert
Folkwang Universität, Essen
REBECCA WILTON

A Handful of Dust
Le Bal, Paris
MAREN LÜBBKE-TIDOW

Streamlines. Ozeane, Welthandel und Migration
Deichtorhallen, Hamburg
KARIN SCHULZE

Resistance Performed – Aesthetic Strategies under Repressive Regimes in Latin America
Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich
SØNKE GAU

Monuments Should Not Be Trusted
Nottingham Contemporary
NIKI RUSSELL

Provoke—Between Protest and Performance: Photography in Japan 1960–1975
Albertina, Wien
Fotomuseum Winterthur
Le Bal, Paris
The Art Institute of Chicago
ULRIKE MATZER

Bücher

Die Verräumlichung der Buchseite
Ilya Kabakow: SHEK Nr. 8, Bauman-Bezirk, Stadt Moskau
Reclam Verlag, Leipzig 1994
Christian Patterson: Fond du Lac / Bottom of the Lake
Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln / Cologne 2015
Christof Nüssli, Christoph Oeschger: Miklós Klaus Rózsa
Cpress, Zürich; Spector Books, Leipzig 2014
JAN WENZEL

On Playfulness, Ordinariness, and Bestiality
Annette Behrens: (in matters of) Karl
Fw:Books, Amsterdam 2015
KRZYSZTOF PIJARKSI

Anne Nishimura Morse, Anne E. Havinga (eds.): In the Wake. Japanese Photographers Respond to 3 / 11
Boston MFA Publications 2015
MRIAM ROSEN

Dana Lixenberg: Imperial Courts 1993–2015
Roma Publications, Amsterdam 2015
KARIN BAREMAN

Andrew Phelps: cubic feet/sec.
Fotohof edition, Salzburg 2015
DAMIAN ZIMMERMANN

Souvenirs du Sphinx: Collection Wouter Deruytter
Éditions Poursuite, Paris 2015
CHRISTINA TÖPFER

Impressum

Herausgeber: Reinhard Braun

Verlag, Eigentümer: Verein CAMERA AUSTRIA. Labor für Fotografie und Theorie.
Lendkai 1, 8020 Graz, Österreich

Redaktion: Margit Neuhold, Christina Töpfer, Sabine Weier.

ÜbersetzerInnen: Dawn Michelle d’Atri, Amy Klement, Wilfried Prantner.

Englisches Lektorat: Dawn Michelle d’Atri

Dank: Mladen Bizumic, Hannes Böhringer, Alessandro Calabrese, Ben Caton, Hans-Jürgen Bonack, Simon Brugner, Nir Evron, Florian Ebner, Frits Gierstberg, Hans Gremmen, Taco Hidde Bakker, Georg Kargl, Stephan Keppel, Omar Kholeif, Julia Klement, Margot Langelaan, Fiona Liewehr, Valérian Mazataud, Doreen Mende, Kito Nedo, Olaf Nicolai, Petra Noordkamp, Heidi Oswald, Kathrin Peters, Andreas Prinzing, Angelika Reichert, Heidi Specker, Becky Timmins, Tatjana Turanskyj, Klára Vystrčilova, Sarah Walzer, Rebecca Wilton, Stephen Zepke, Hannah Zundel.

Copyright © 2016
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit vorheriger Genehmigung des Verlags. Für übermittelte Manuskripte und Originalvorlagen wird keine Haftung übernommen.

ISBN 978-3-902911-22-3
ISSN 1015 1915
GTIN 4 19 23106 1600 5 00133