Matthias Müller: While You Were Out

Intro

Galerie Campagne Première, Berlin, 14. 10. – 3. 12. 14

In Matthias Müllers umfangreicher neuer Werkgruppe aus Fotoarbeiten, einem Multiple und einem Video arbeitet der Künstler mit einem Archiv von 1.500 Screenshots. Die Bilder entstammen den Streams aus privaten Chat Rooms des Web 2.0. Die hundert Postkarten der Edition „You Are Here“ gewähren Einblick in hundert dieser menschenleeren Chat Rooms, die eine Gemeinsamkeit teilen: An den Wänden sind geographische Karten jeglicher Art zu sehen – Stadtpläne, Landkarten, Ausschnitte aus Atlanten. Sie scheinen den Wunsch nach der Teilhabe an einer anderen, größeren Welt zu spiegeln und zeugen gleichzeitig von einer seltsamen Ambivalenz, die darin besteht, dass der virtuelle Raum im Internet, von den Akteuren durch Fantasienamen wie „Neverland“ oder „Somewhere“ verschleiert, mit Hinweisen auf den realen Standort verknüpft wird. Hier zeigt sich der unauflösbare Konflikt grenzenloser Nähe: Die Sehnsucht, gleichzeitig anonym und verortet zu sein, individuell und doch omnipräsent. Indem Müller die Screenshots in Postkarten verwandelt und so in die Hand des Betrachters gibt, der sie berühren und bewegen, auch versenden darf, stellt er eine Intimität und Verbindlichkeit von Kommunikation wieder her, die im World Wide Web bedroht ist.

Im Stil einer wissenschaftlichen Schautafel ordnet Müller in der Fotoarbeit „While You Were Out“ unzählige Bürostühle nach Form und Farbe. Auch in „Waiting Rooms“, einem Fries aus 27 einzelnen Prints, überführt Müller Interieurs in eine serielle Reihung, wobei er mit quasi filmischen Anschlüssen den Eindruck von Zusammengehörigkeit generiert. Die Selektion, Bearbeitung und Komposition seiner Bilder lässt ein Konzentrat der Realität entstehen, das in den Zufälligkeiten der Erscheinungen eine nahezu harmonische Ordnung sichtbar werden lässt. In leichte Unschärfen gelegt durch die low fi-Auflösung der Consumer-Webcams und als Standbilder in Inkjet-Prints transformiert – und damit in die Sphäre des Analogen zurückgeführt, erlangen Müllers Räume eine malerische Qualität. Krakelee-artige digitale Artefakte evozieren den Eindruck von Haarrissen in der Firnis von Gemälden und auch die Wahl der Bildmotive erinnert an Sujets und Darstellungsformen der Malerei – seien es die delikaten Lichtstimmungen der Räume Vermeers oder die melancholischen Interieurs des Symbolisten Hammershøi.

Der „niederen“ Herkunft und den trivialen Motiven des visuellen Materials steht – als elaboriertem Artefakt der Hochkultur – im Video-Loop „Air“ die Erhabenheit eines JohannSebastian-Bach-Stücks gegenüber. Doch wie die Bilder der leeren Räume den Anblick des Menschen vorenthalten, wurde die Komposition zum Teil ihrer melodischen Oberstimme entkleidet: Die minimalistische Basslinie wirkt mit ihrer vielfachen Variation eines einfachen musikalischen Motivs wie eine Etude. Der Titel „Air“ spielt auf den Modus der Internet-User an, deren Bildern das Video sein visuelles Material verdankt: Sie senden, sind on air. Gleichzeitig bezieht er sich auf die Effekte von Luftbewegungen, die wir beobachten – zuweilen scheint es, als sei es ein solch analoger Windhauch, der die digitalen Cluster und Artefakte der Webcam-Bilder durcheinander wirbelt.

Mit seinen Bearbeitungen von Bildmaterial aus dem Web 2.0 wendet sich Müller einem Teil der Bewegtbild-Produktion zu, der sich in verschiedener Hinsicht von denjenigen filmischen Gattungen unterscheidet, die im Zentrum seinen bisherigen Einzelarbeiten und Gemeinschaftsprojekte mit Christoph Girardet standen. Dieser große Sektor ist nicht Teil der professionellen Produktion, sondern wird von Amateuren bestimmt; die hier entstehenden Aufnahmen werden nicht mithilfe von Montage in eine neue narrative Abfolge gebracht, sondern entwickeln sich unbearbeitet in Echtzeit. Ihr Charakter ist ein flüchtiger; sie werden gewöhnlich nich aufgezeichnet. Meist steht nur eine Figur im Zentrum dieser Bilder, die diese produziert und gleichzeitig deren Gegenstand ist. Matthias Müller interessiert sich für jene Momente, in denen die Akteure die Szene verlassen haben. Chat Rooms haben als gleichzeitig private wie öffentliche Räume die Funktion, Intimität zu schützen, abgelegt, um zu virtuellen Kontakthöfen von Exhibitionisten und Voyeuren zu werden. In Müllers Bearbeitungen werden sie von ihrer dienenden Funktion als Szenenbilder der Performance befreit. Mit seinen Studien von Anwesenheit und Abwesenheit setzt der Künstler seine Erforschung und Darstellung von Räumen fort, die diese in verschiedenen seiner filmischen und fotografischen Arbeiten zu autonomen, suggestiven Anschauungs- und Erfahrungssphären hat werden lassen, zu Bühnen und Projektionsflächen von emotionale und psychischen Zuständen und Prozessen.

Matthias Müller (*1961) zählt zu den angesehensten experimentellen Filmemachern. Seine Filme waren u.a. auf die Festivals von Cannes, Venedig, Berlin, Toronto und Locarno eingeladen. Er hatte Werkschauen u.a. im Museum of Modern Art, New York, im Center for the Arts, San Francisco, im Nederlands Filmmuseum, Amsterdam, im Walker Art Center, Minneapolis, und im Image Forum, Tokio. Zu seinen Preisen u. Auszeichnungen zählen u.a. der Prix Canal + du meilleur court métrage, Cannes, der Preis der Deutschen Filmkritik, der Deutsche Kurzfilmpreis, der Preis des Verbandes der Deutschen Kritiker, der American Federation of Arts Experimental Film Award und verschiedene Preise bei den Kurzfilmtagen Oberhausen (u.a. Hauptpreis 1999). Einzelausstellungen hatte Matthias Müller u.a. in Tate Modern, London, dem Neuen Berliner Kunstverein, dem Sprengel Museum, Hannover, dem Fotomuseum Winterthur und der Timothy Taylor Gallery, London. Zu seinen zahlreichen Gruppenausstellungen zählen die Manifesta 3 in Ljubljana, sowie Ausstellungen im Migros Museum, Zürich, der Hayward Gallery, London, dem MCA Chicago, dem Hangar Bicocca, Mailand, dem Palais de Tokyo, Paris, und dem Haus der Kunst, München. Neben seinen Einzelarbeiten ist seit 1999 ein gemeinsames Werk mit dem Künstler Christoph Girardet entstanden. Arbeiten von Matthias Müller befinden sich u.a. in den Sammlungen des Centre Georges Pompidou, Paris, der Sammlung Goetz, München, der Sammlung Isabelle & JeanConrad Lemaître, London, und von Tate Modern, London. Seit 2003 lehrt Müller als Professur für experimentellen Film an der Kunsthochschule für Medien, Köln.