Camera Austria International

67 | 1999

  • MARTIN PRINZHORN
    Einige kognitionspsychologische Präliminarien zur Arbeit von Jörg Schlick
  • JÖRG SCHLICK
  • JUTTA KOETHER
    Cindy Sherman: Alte Zeugen
  • CINDY SHERMAN
  • GUSTAV METZGER
    Killing Fields. Entwurf einer Ausstellung
  • MARTIN HERBERT
    Darren Almond
  • DARREN ALMOND
  • ROLF SACHSSE
    Marginalien zur Fotografie
  • WOLFGANG VOLLMER
    Referenzen

Vorwort

Im Zuge der Recherchen zu unserer letzten Nummer, CAMERA AUSTRIA 66, die unter dem Thema „Tatort“ stand und unter anderem einen Beitrag Diedrich Diederichsens beinhaltete, der sich der Frage des politischen Gedenkens mittels fotografischer Bilder widmete, stießen wir auf die neuesten Arbeiten von Gustav Metzger (geb. 1926). Metzger wurde in den sechziger Jahren mit Manifesten und „Lecture/Demonstrations“ seiner auto-kreativen und auto-destruktiven Kunst (Auto-Destructive Art (ADA) bekannt; sein politsches Engagement sowie seine kompromißlose Kritik am Kunstbetrieb ließen ihn 1977 den „Art Strike“ ausrufen und die künstlerische Produktion zugunsten von Reflexion und theoretischer Beschäftigung zurückstellen.
Dass Gustav Metzger heute wieder vermehrt in Erscheinung tritt, hat nicht nur mit der fortschreitenden kunsthistorischen Aufarbeitung künstlerischer Manifestationen der sechziger Jahre zu tun, sondern auch damit, daß sich Metzger einem neuen Feld der künstlerischen Arbeit, seiner Werkserie der „Historic Photographs“ zugewandt hat. Darin widmet er sich Bildern, die unmittelbar mit der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verknüpft sind – dokumentarischen Fotografien aus der Zeit des Nationalsozialismus, dem Krieg in/um Israel, von terroristischen Bombenanschlägen bis hin zu den jüngsten Ereignissen in Ex-Jugoslawien, Bildern des Schreckens – Höhepunkten von Zerstörung und Chaos.
Für die vorliegende Nummer erklärte sich Gustav Metzger bereit, ein bisher unveröffentlichtes Manuskript – den ersten Entwurf zu den „Historic Photographs“, die er ursprünglich „Killing Fields“ nannte – zu bearbeiten. Aus dem Text wird seine Bemühung um neue Formen der Ausstellungs- und Werkgestaltung bzw. Möglichkeiten der künstlerischen Vermittlung von historischen Ereignissen deutlich, deren kritische Wahrnehmung durch vielfach publizierte Pressefotos nahezu unmöglich geworden ist. Die Realisation dieses Konzeptes in immer variierten Installationen zeigen Ansichten der „Historic Photographs“ aus der Spacex Gallery in Exeter, dem Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, dem Kunstraum München, dem Museum of Modern Art in Oxford und der Kunsthalle Nürnberg, die Metzgers Textbeitrag illustrieren. Ikonen der Pressefotografie werden in verschiedenen skulpturalen Werken dem Betrachter zunächst entzogen, durch verschiedenste, teilweise vom Betrachter aufzudeckende „Covers“ verborgen. Der so entstehende Erfahrungsraum der Ausstellung ermöglicht einen neuen Zugang zu diesen Bildern, eine Verunsicherung des Betrachters, jedenfalls aber eine Verzögerung der Wahrnehmung und die Möglichkeit, sich mit der Geschichte eines Jahrhunderts voller Gewalt auseinanderzusetzen.

Manfred Willmann, Marie Röbl, Maren Lübbke
September 1999

Volltext

Camera Austria International 67 | 1999
Vorwort

Im Zuge der Recherchen zu unserer letzten Nummer, CAMERA AUSTRIA 66, die unter dem Thema „Tatort“ stand und unter anderem einen Beitrag Diedrich Diederichsens beinhaltete, der sich der Frage des politischen Gedenkens mittels fotografischer Bilder widmete, stießen wir auf die neuesten Arbeiten von Gustav Metzger (geb. 1926). Metzger wurde in den sechziger Jahren mit Manifesten und „Lecture/Demonstrations“ seiner auto-kreativen und auto-destruktiven Kunst (Auto-Destructive Art (ADA) bekannt; sein politsches Engagement sowie seine kompromißlose Kritik am Kunstbetrieb ließen ihn 1977 den „Art Strike“ ausrufen und die künstlerische Produktion zugunsten von Reflexion und theoretischer Beschäftigung zurückstellen.
Dass Gustav Metzger heute wieder vermehrt in Erscheinung tritt, hat nicht nur mit der fortschreitenden kunsthistorischen Aufarbeitung künstlerischer Manifestationen der sechziger Jahre zu tun, sondern auch damit, daß sich Metzger einem neuen Feld der künstlerischen Arbeit, seiner Werkserie der „Historic Photographs“ zugewandt hat. Darin widmet er sich Bildern, die unmittelbar mit der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verknüpft sind – dokumentarischen Fotografien aus der Zeit des Nationalsozialismus, dem Krieg in/um Israel, von terroristischen Bombenanschlägen bis hin zu den jüngsten Ereignissen in Ex-Jugoslawien, Bildern des Schreckens – Höhepunkten von Zerstörung und Chaos.
Für die vorliegende Nummer erklärte sich Gustav Metzger bereit, ein bisher unveröffentlichtes Manuskript – den ersten Entwurf zu den „Historic Photographs“, die er ursprünglich „Killing Fields“ nannte – zu bearbeiten. Aus dem Text wird seine Bemühung um neue Formen der Ausstellungs- und Werkgestaltung bzw. Möglichkeiten der künstlerischen Vermittlung von historischen Ereignissen deutlich, deren kritische Wahrnehmung durch vielfach publizierte Pressefotos nahezu unmöglich geworden ist. Die Realisation dieses Konzeptes in immer variierten Installationen zeigen Ansichten der „Historic Photographs“ aus der Spacex Gallery in Exeter, dem Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris, dem Kunstraum München, dem Museum of Modern Art in Oxford und der Kunsthalle Nürnberg, die Metzgers Textbeitrag illustrieren. Ikonen der Pressefotografie werden in verschiedenen skulpturalen Werken dem Betrachter zunächst entzogen, durch verschiedenste, teilweise vom Betrachter aufzudeckende „Covers“ verborgen. Der so entstehende Erfahrungsraum der Ausstellung ermöglicht einen neuen Zugang zu diesen Bildern, eine Verunsicherung des Betrachters, jedenfalls aber eine Verzögerung der Wahrnehmung und die Möglichkeit, sich mit der Geschichte eines Jahrhunderts voller Gewalt auseinanderzusetzen.
Lose Anknüpfungspunkte zu Gustav Metzger sind in der Arbeit des jungen Londoner Künstlers Darren Almond gegeben. Jenseits des Sensation-Mainstreams bearbeitet Almond mit seinen medienübergreifenden Arbeiten – die einer Auffassung von Skulptur als räumlicher und emotionaler Erfahrungsmöglichkeit folgen – ein Feld, das von einer unmittelbaren Auseinandersetzung mit Orten zeugt, die emotional aufgeladen sind. Seine Arbeit schließt dabei den Ort der (eigenen) Familie genauso mit ein wie eine Gefängniszelle oder aber historisch und politisch extrem belastete Orte wie Auschwitz. In seiner Videoarbeit „Traction“ (1999) z. B. erstellt Almond nicht nur ein Psychogramm von Familie, sondern liefert gleichermaßen einen beißenden Kommentar zur entsolidarisierenden, repressiven Arbeitsmarkt- respektive „workfare statt wellfare“-Politik zu Zeiten Margret Thatchers. Eine Kamera, die stundenlang unbewegt auf eine leere Gefängniszelle in „H.M.P. Pentonville“ (1997) gerichtet ist, löst eine dumpfe, beklemmende und gleichermaßen pervers spannende Gefühlsflut aus, deren Intensität und Wechselhaftigkeit in starkem Kontrast zur formal minimalen Arbeit steht. Das Aufzeichnen von oder die Bewegung durch Raum ist für Darren Almond gleichbedeutend mit der Erfahrung des Lebens und realem Erleben. Das Leben macht dabei aber nicht vor eigenen Haustür halt. Eine Bushaltestelle in Auschwitz („Oswiecim, March 1997“) wird zum Sinnbild einer Reise, einer Reise, die die letzte sein könnte, auf jeden Fall aber eine, die das Leben für immer verändert.
Das in-Frage-stellen der Seriösität etablierter Repräsentationssysteme mittels Parodie und Denaturalisierung war schon ein Thema in Cindy Shermans Fotoserie der „Untitled Filmstills“ aus den Siebzigern, über die wir bereits in einem Beitrag in CAMERA AUSTRIA Nr. 15/16 (1984) berichtet haben. Bis heute sind die Arbeiten Shermans diesem kritischen Anliegen verpflichtet – CAMERA AUSTRIA hat kontinuierlich ihre künstlerische Entwicklung verfolgt und immer wieder aufgegriffen (so beispielsweise in einem Beitrag in CAMERA AUSTRIA Nr. 35, 1990 oder anläßlich des Symposions 1998 in CAMERA AUSTRIA NR. 62/63).
In Shermans neuer Serie jedoch – die wir Ihnen in dieser Ausgabe, begleitet von einem Text von Jutta Koether, vorstellen –, hat sich die Künstlerin entgegen ihren früheren Arbeiten körperlich aus dem Bild zurückgezogen und bleibt unsichtbare, aber gegenwärtige Drahtzieherin von „fiesen Spielen“. Akteure ihrer „Freakshow“, in der sich das Monströse, Ghotic- und Maskenhaften bis an die Grenze des Erträglichen gesteigert hat, sind Puppen – Monster, Chimären, Bastarde respektive Barbie-Doll, GI Joe, Aladdin, Hercules sowie die schwulen Puppen Billy und Carlos. Das Handanlegen Shermans in der Zurichtung der „feisten Fetische“ legt einerseits Referenzen an das Terrain des Surrealismus nahe, andererseits findet hier gleichermaßen – um der These Jutta Koethers in ihrem Beitrag zu folgen – die Zerstückelung eines „American Dream“ statt. Ihre Bilder „lösen Erinnerungen an eine schon zerstörte Zukunft“ aus, sie mögen Sinnbild der »sozialen bzw. psychischen Verfaßtheit einer Gesellschaft am Ende des Jahrhunderts« sein, in der „Wahnsinnige, Psycholkiller, Vernichter und Auslöscher unterwegs sind“, sie enthalten sich aber auch diesmal nicht dem von Sherman oft geäußerten Moment des „… and also make fun of the culture!“
Ein Paradigma bei Jörg Schlick war schon immer das Anzweifeln von Originalität einer künstlerischen Arbeit. Dieser Ansatz führte bei Schlick in der Konsequenz zu einer Hinwendung des vervielfachten Originals, des Multiples und mag auch die Ausgangsüberlegung für seine neuen seriellen Fotografien gewesen sein, in der sich die Arbeit zwar in einem einzigen Bild verdichtet, gleichzeitig aber aus einer immer gleichen Anzahl von gleichen Teilen besteht. Es ist auch der Versuch, eine Arbeit zu machen, in der mögliche Referenten nicht mehr unmittelbar sichtbar sind – eine konsequente Überlegung in einer Zeit, in der die Kunst in der Hauptsache aus vielfachen Verweisungszusammenhängen und umfassend angelegten Referenzsystemen ihre Legitimation erhält. Mittels Kognititonstheorie nähert sich Martin Prinzhorn diesen neuen Arbeiten von Jörg Schlick. Seine seriellen Fotografien, die Ausschnitte von banalen, auf nichts außer auf sich selbst verweisenden Orten zeigen, Orte also ohne spezifischen Inhalt oder Bedeutung, spielen nach Prinzhorns Zugang auf die vermeintliche Banalität des Sehens an, in der Bedeutung marginalisierbar wird. Gleichzeitig initiiert Schlick ein Spiel mit den BetrachterInnen, denn im Prozeß des permanenten Komponierens und Dekomponieren muß nicht nur ständig Konstruktionsarbeit geleistet werden, den abgebildeten Objekten werden auch zunehmend ihre Eigenschaften entzogen. Mit seinen seriellen Fotografien leistet Schlick also Grundsatzarbeit und stößt die vernachlässigte Diskussion über Banalität in der Gegenwartskunst an.
In CAMERA AUSTRIA Nr. 68 werden wir neben einen Beitrag über Gottfried Bechtold und Hans Schabus, der aus ihrer gemeinsamen Ausstellung in der Galerie CAMERA AUSTRIA anläßlich der österreichischen „fotoprofile“ (1. September bis 22. Oktober 1999) entstanden ist, die Arbeiten von Daan van Golden und von Gregor Schneider vorstellen.

Viel Spaß bei der Lektüre wünschen
Manfred Willmann, Marie Röbl, Maren Lübbke
September 1999

Beiträge

Forum

GÖTZ DIERGARTEN

BETTINA HOFFMANN

NICOLA MEITZNER

KAI KUSS

KATHARINA BOSSE

RUTH KAASERER

NINA SCHMITZ

Ausstellungen

Notorious. Alfred Hitchcock and Contemporary Art
Museum of Modern Art, Oxford; Museum of Contemporary Art, Sydney

Hellen van Meene
The Photographer’s Gallery, London
JOHN TOZER

EXTRAetORDINAIRE
Le Printemps de Cahors, Cahors
JULIA GARIMORTH

Mistral in Arles. Recontres International de la Photographie
Arles
BRUNO CARL

La Biennale di Venezia: Dapertutto
Venedig, Arsenale (Castello Giardini, Corderie, Gaggiandre, Artiglierie, Tese)
SABINE B. VOGEL

Video CULT/URES. Multimediale Installationen
ZKM, Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Museum für neue Kunst, Karlsruhe
MATTHIAS MICHALKA

Mehrwert / „Do You Really Want It That Much?“ – „…More!“ von Volker Eichelmann, Jonathan Faiers und Roland Rust
Ursula Blickle Stiftung, Kraichtal
VERENA KUNI

Connected Cities. Kunstprozesse im urbanen Netz
Wilhelm Lehmbruck Museum, Duisburg
CHRISTINE KARALLUS

Puppen Körper Automaten
Kunstsammlung NRW, Düsseldorf

Heaven
Kunsthalle Düsseldorf
MAGDALENA KRÖNER

Selbstbilder der Materie
Museum Wiesbaden
WOLFGANG VOLLMER

Stephen Shore / Candida Höfer
Die Photographische Sammlung / SK Stiftung Kultur, Köln
WOLFGANG VOLLMER

Young. Neue Fotografie in der Schweizer Kunst
Fotomuseum Winterthur
RUTH MAURER

Martha Rosler. Positionen in der Lebenswelt
Generali Foundation, Wien
SIGRID ADORF

Inge Morath
Kunsthalle Wien im Museumsquartier, Wien
MARIE RÖBL

Die Farben Schwarz
Landesmuseum Joanneum, Graz
CHRISTOPH GURK

Bücher

Das andere Denken des Aussen. Zu Philippe Dubois‘ „Der fotografische Akt“
Verlag der Kunst, Dresden 1999
MICHAEL WETZEL

Junggesellinnen. Zu Rosalind Krauss‘ neuem Buch „Bachelors“
MIT Press, Cambridge / Mass, London 1999
STEFAN NEUNER

Ulf Erdmann Ziegler: Fotografische Werke
DuMont Buchverlag, Köln 1999
MAGDALENA KRÖNER

Baudrillard als Fotograf. Ein Plädoyer für die Macht der Verführung und der Illusion
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 1998
KERSTIN BRAUN

Malick Sidibé
Scalo Verlag, Zürich 1998

Max Penson
Wave Collection PBK, Köln 1999

Philip-Lorca Dicorcia: Street Work
Ediciones Universidad de Salamanca 1998
JUDITH SCHWENDTNER

Impressum

Herausgeber, Verleger und für den Inhalt verantwortlich: Manfred Willmann. Eigentümer: Verein CAMERA AUSTRIA, Labor für Fotografie und Theorie
Alle: Sparkassenplatz 2, A-8010 Graz

Redaktion: Christine Frisinghelli
Assistenz: Maren Lübbke, Marie Röbl

Übersetzungen: Bärbel Fink, Warren Rosenzweig, Jörg von Stein, Richard Watts