Camera Austria International

159 | 2022

  • RAINER BELLENBAUM
    Archivbilder zwischen Transport und Transfer
  • LAURA HORELLI
  • HAJRA HAIDER KARRAR
    Fragilität des Archivs und die generativen Zwischenräume in der Fülle
  • EURIDICE ZAITUNA KALA
  • MICHÈLE COHEN HADRIA
    Widerständige Verästelungen
  • ALESSANDRA FERRINI
  • MITCH SPEED
    Irgendwann fängt alles an, aufzuhören
  • ELIF SAYDAM

Vorwort

Ausgangspunkt unserer Überlegungen zur Septemberausgabe von Camera Austria International war die Frage, inwiefern die Bilder der Vergangenheit über die Gegenwart erzählen, wie sich (auch visuell) gefestigte Narrative kritisch hinterfragen und in neue Lesarten überführen lassen und wie sie für die Zukunft nutzbar gemacht werden können.

Volltext

Camera Austria International 159 | 2022
Vorwort

Ausgangspunkt unserer Überlegungen zur Septemberausgabe von Camera Austria International war die Frage, inwiefern die Bilder der Vergangenheit über die Gegenwart erzählen, wie sich (auch visuell) gefestigte Narrative kritisch hinterfragen und in neue Lesarten überführen lassen und wie sie für die Zukunft nutzbar gemacht werden können.

»Das Archiv, einst Transportmittel, das, ähnlich der biblischen Arche Noah, gut verschlossen ausgewählte Frachten vor der Sintflut des Fortschritts retten sollte, funktioniert heute aufgeschlossener und flexibler als Transfer-Pool für die Wellen der Erinnerung«, leitet Rainer Bellenbaum seinen Beitrag über Laura Horelli ein. An­hand einer Auswahl von Filmen, Installationen im öffentlichen Raum und ihrem Künstlerinnenbuch zeigt er auf, wie sie visuelle Archivalien nicht nur auf medialer Ebene transferiert, sondern dabei ebenso deren Inhalte in Bewegung versetzt, um sie einer kritischen Revision zu unterziehen. So ermöglicht die Beschäftigung mit privaten wie öffentlichen Archivmaterialien Horrelli nicht zuletzt auch eine Durcharbeitung der eigenen familiengeschichtlichen Verstrickungen innerhalb des Weltgeschehens.

Hajra Haider Karrar nähert sich mittels der Metapher des Ozeans den Projekten Sea(E)scapes DNA Don’t (N)ever Ask (seit 2015) und Je suis l’archive, I, the archive (2020) von Euridice Zaituna Kala an. Dabei arbeitet sie heraus, wie der Ozean als »eine unerschöpfliche Quelle, die Vergan­genheit, Gegenwart und Zukunft speichert«, fungiert und sich in seinen Weiten und seiner Fülle auch Narrative der Vergangenheit lesen lassen, die in der »offiziellen« Geschichtsschreibung fehlen oder ausgelöscht wurden. Dementsprechend sieht die Autorin in Kalas »Methode, die Lücken zu thematisieren und Einfügungen und Interventionen in das ›fragile‹ Archiv anzubieten«, eine »Strategie zu dessen Vervollständigung«.

Die Aufarbeitung öffentlich und medial vermittelter Botschaften, von Leerstellen in der Geschichtsschreibung wie auch die Hinterfragung von im Sinne der jeweiligen Machthabenden konstruierten Narrativen ist in Alessandra Ferrinis Praxis von Relevanz. Michèle Cohen Hadria legt dar, wie es der Künstlerin in ihren Recherchen zur Kolonisierung Libyens durch Italien gelingt, historische Dokumente und Medien mittels rhizomatischer Bild- und Textbruchstücke in eine kritische Lesart zu überführen. »Tatsächlich spiegeln sich die Verästelungen und Verstreuungen der Verfolgung und Unterdrückung von Menschen in der unsteten Struktur ihrer Widerstände und die formalen Verschiebungen, die Alessandra Ferrini hier schafft, könnten als performative Antwort darauf gelesen werden.«

Elif Saydam wiederum entwickelt in auf Fotografien basierenden Arbeiten eine Art Atlas urbanen Alltags, in dem verschiedenste Personen, Kulturen, Stile und Epochen zusammenkommen. Am Beispiel der Serie Zu spät (seit 2021) und einiger ebenfalls Foto-Transfer-Verfahren einbeziehenden Patchwork-Arbeiten veranschau­licht Mitch Speed, wie die Heterogenität nicht nur kultureller, sondern auch zeitlicher Schichtungen in Saydams Schaffen zum Tragen kommt: »Saydams Technik ist angelehnt an die persische und osmanische Miniaturmalerei, allerdings werden diese Traditionen aufgelockert und mit einem überschäumenden Rokoko-Flair versehen. Die unterschiedlichen Einflüsse schwingen zusammen und unterstreichen, wie sehr die Arbeit von diasporischer Insider-Out­sider-Energie geprägt ist.«

Im Frühjahr 2022 hat Camera Austria gemeinsam mit der Kulturvermittlung Steiermark erstmals die Graz Residency for International Photographers ausgeschrieben. Die Anzahl der für dieses Stipendium eingegangenen Einreichungen hat unsere Erwartungen bei Weitem übertroffen. Wenngleich wir mit Hyejeong Yoo nur eine Stipendiatin auswählen konnten, ist es uns ein Anliegen, auch eine Auswahl der anderen, sehr guten Arbeiten mit unseren Leser*innen zu teilen, wofür wir das Forum dieser Ausgabe nutzen.

Christina Töpfer und das Camera Austria-Team
September 2022

Cover: Elif Saydam, Untitled (from the working archive of the artist), 2019. Material and dimensions variable. Courtesy: the artist and Tanya Leighton, Berlin/Los Angeles.

Beiträge

Forum

Vorgestellt von der Redaktion
Julian Slagman
Gal Amiram
Sara Bassi
Peter Pflügler
Daniel Mebarek
Julia Lübbecke

Ausstellungen

Meriem Bennani: Life on the CAPS
Nottingham Contemporary, 7. 5. – 4. 9. 2022
ORIT GAT

Before and/or After, Here and/or There
Lucy Raven: Another Dull Day
WIELS – Centre for Contemporary Art, Brussels, 27. 4. – 14. 8. 2022
YOANN VAN PARYS

Andrzej Steinbach: Tanz die Maschine
Museum Gunzenhauser, Kunstsammlungen
Chemnitz, 9. 7. – 16. 10. 2022
MIRA ANNELI NASS

Mining Photography: Der ökologische Fußabdruck der Bildproduktion
MK&G – Museum für Kunst & Gewerbe
Hamburg, 15. 7. – 31. 10. 2022
Kunst Haus Wien, 8. 3. – 28. 5. 2023
Gewerbemuseum Winterthur, 22. 9. 2023 – 21. 1. 2024
CAROLIN FÖRSTER

Léonard Pongo: Primordial Earth
Mu.ZEE, Ostend, 2. 7. – 13. 11. 2022
STEFAN VANTHUYNE

Gerald Annan-Forson: Revolution and Imagemaking in Postcolonial Ghana (1979–1985)
Al Hamriyah Studios, Sharjah Art Foundation, Sharjah, 7. 3. – 7. 7. 2022
NADINE KHALIL

Geschäfte mit Kopien: Der »Fotografische Kunstverlag Otto Schmidt«
Leopold Museum / Photoinstitut Bonartes, Wien, 20. 5. – 28. 8. 2022
SUSANNE NEUBURGER

Sibylle Bergemann: Stadt Land Hund. Fotografien 1966–2010
Berlinische Galerie, Berlin, 26. 6. – 10. 10. 2022
Sheroes of Photography Part IV: Sibylle Bergemann
Kicken Berlin, 24. 6. – 9. 9. 2022
Ostkreuz: Un visa pour Paris. Fotografien von Sibylle Bergemann, Ute Mahler, Harald Hauswald und Maurice Weiss
Institut français Berlin, 29. 6. – 17. 9. 2022
RADEK KROLCZYK

»To Bitch Is To Be« in Zeiten des Anti-Genderismus
DIE DAMEN
Generali Foundation Studienzentrum am Museum der Moderne Salzburg Rupertinum, 11. 6. – 4. 9. 2022
KATHARINA STEIDL

Hervé Guibert: This and More
The Wattis Institute, San Francisco, 9. 6. – 30. 7. 2022
MACRO – Museum of Contemporary Art of Rome, 4. 3. – 21. 5. 2023
KW Institute for Contemporary Art, Berlin, 9. 6. – 20. 8. 2023
JACOB KORCZYNSKI

Meanings in Abeyance
B. Ingrid Olson: Elastic X
Secession, Vienna, 29. 6. – 4. 9. 2022
MARGIT NEUHOLD

8th Triennial of Photography Hamburg: Currency
Various venues, Hamburg, 20. 5. – 18. 9. 2022
PAUL WILLEMSEN

Der Mensch bleibt verborgen
Irmel Kamp: Architekturbilder
Museum für Photographie Braunschweig, 25. 6. – 18. 9. 2022
Leopold-Hoesch-Museum, Düren, 29. 1. – 23. 4. 2023
PAUL MELLENTHIN

Augenblick! Straßenfotografie in Wien
Wien Museum MUSA, Wien, 19. 5. – 23. 10. 2022
CHRISTINA NATLACEN

Das Land: Stephanie Kiwitt, Jens Klein,Matthias Zielfeld
Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen, Magdeburg, 28. 6. – 25. 9. 2022
JULIA DEBUS, TOBIAS NEUMANN

Bücher

Marianne Wex, ‘Let’s Take Back Our Space’: “Female” and “Male” Body Language as a Result of Patriarchal Structures
Frauenliteratur Verlag Hermine Fees, Berlin 1979
MARINA VISHMID

Robert Slifkin, Quitting Your Day Job: Chauncey Hare’s Photographic Work
MACK, London 2022
MARINUS REUTER

Barbara Proschak, Material – Anhaftung – variabel
MMKoehn Verlag, Leipzig 2022
CHRISTINA TÖPFER

Julie Peeters, Elena Narbutaitė (eds.), BILL 1–3
Roma Publications, Amsterdam 2017–ongoing
BENEDIKT REICHEBACH

From the Colonization of Airspace Toward a New Human Right
Anthony Downey (ed.), Shona Illingworth, Topologies of Air
Sternberg Press, London; The Power Plant,Toronto 2022
JULIA GWENDOLYN SCHNEIDER

Talking Books
Erik van der Weijde in Conversation with . . . Belinda Visser

Impressum

Herausgeber: Reinhard Braun

Verlag, Eigentümer: Verein CAMERA AUSTRIA. Labor für Fotografie und Theorie.
Lendkai 1, 8020 Graz, Österreich

Redaktion: Margit Neuhold, Jakob Thaller (Redaktionsassistenz), Christina Töpfer (Chefredaktion).

Übersetzer*innen: Dawn Michelle d’Atri, Nicholas Huckle, Amy Klement, Sabine Müller-Posch, Wilfried Prantner, Philipp Rühr, Andrea Scrima.

Englisches Lektorat: Dawn Michelle d’Atri.

Dank: Alyazeyah Al Marri, Gal Amiram, Sara Bassi, Rainer Bellenbaum, Michèle Cohen Hadria, Alessandra Ferrini, Christine Frisinghelli, Luise Grinschgl, Laura Horelli, Kurt Kaindl, Euridice Zaituna Kala, Hajra Haider Karrar, Julia Lübbecke, Valeria Marchesini, Arnaud Mareels, Daniel Mebarek, Dominik Nurenberg, Julie Peeters, Peter Pflügler, Benedikt Reichenbach, Marinus Reuter, Elif Saydam, Julia Gwendolyn Schneider, Julian Slagman, Mitch Speed, Zheng Zhang

Copyright © 2022
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit vorheriger Genehmigung des Verlags. Für übermittelte Manuskripte und Originalvorlagen wird keine Haftung übernommen.

ISBN 978-3-902911-69-8
ISSN 1015 1915
GTIN 4 19 23106 1800 9 00159