JENNY SCHÄFER

Ungnädig

Ungnädig starre ich auf das ausgepackte Geschenk. Ein gold-beiger Cord-Kissenbezug aus 100% Polyester in 50 × 50 cm. Ich weiß, dass das Geschenk direkt in der Tauschbox landen wird. Ich blicke auf, bedanke mich freundlich und frage mich, ob sie das nicht merkt, dass ich lüge. Dass ich das alles nicht haben will. Ich frage mich, ob sie das wirklich nicht sieht.

Einmal sagte sie, dass sie einfach nicht mehr über diese alte Zeit nachdenken möchte, wo es das alles nicht gab. Sie will sich gönnen, kaufen, will haben und besitzen, was sie sich jetzt leisten kann. Sie könne ja nicht an alle denken, sie ist froh, dass sie gut durch die Transformationszeit gekommen ist, Arbeit, Umschulung, Systemwechsel, Haus, Geld. Nicht super viel, aber so, dass sie sich immer die Deichmann-Schuhe kaufen kann, wenn sie ihr gefallen. Und er schenkt ihr jedes Jahr einen Pandora-Anhänger, um ihr seine Liebe zu beweisen. Sie lieben sich, sie lieben Ware. Sie wollen einfach satt und voll sein. Keine Entbehrungen mehr.

Wie ungnädig man urteilt, bis sie tot ist. Dann ist da dieser ganze Plunder. So sagt man. Kein gutes Design, nicht hochwertig produziert. Es kommen Leute rein. Sie wollen alles rausreißen und neu gestalten. Sie haben studiert und haben Geld. Es wird zeitgemäß aufgewertet, kündigen sie an. Die Treppe muss modernisiert werden, das Bad könne man eventuell drin lassen. Aber die Küche muss raus. Ungnädig ist der Maco-Möbel-Kassenbon, den wir finden. 2002 haben sie diese Küche für 10 000 Euro gekauft (glatt).

Ungnädig sitze ich auf einem Balkon. Leute meiner Peergroup unterhalten sich über diese neue Lampe, die auf dem Tisch steht. Ich wundere mich, wie lange man anerkennend über eine Lampe sprechen kann, die nur anerkennenswert ist, weil sie ein Designklassiker ist, weil sie neu herausgebracht wurde mit Touch-Funktion. 455 Euro und einfach so ein Ding, zu dem meine Peergroup bestätigend nickt. Ich finde, dass die Lampe unmöglich aussieht, dass man auch nicht 455 Euro für eine Tischlampe ausgeben muss. Diesmal traue ich mich, zu fragen: »Was ist das für eine Lampe?« Ich bekomme freundliche Antworten. Ich lese trotzdem Erstaunen. Ich frage mich, ob das dieser Moment ist. Der Arbeiter*innenkindermoment.

Textbeitrag in Camera Austria International 166/2024, S. 9–20.

TAOUS R. DAHMANI

Echos des Aktivismus

TD Als ich auf dein neues Projekt stieß, brachte es mich dazu, über den grundlegenden Zweck von Universitäten nachzudenken: Für wen existieren sie?

DM Der Soziologe Pierre Bourdieu hat bekanntlich argumentiert, dass Bildungssysteme zur Reproduktion sozialer Ungleichheiten bei­­tragen. Auf den ersten Blick scheint es also so, als wären die Universitäten dazu da, die Macht derer zu erhalten, die an der Spitze stehen. Interessanterweise entwickelte Bourdieu seine Theorien in Frankreich, einem Land, das für sein elitäres Bildungssystem und die Elitehochschulen, die sogenannten Grandes Écoles, bekannt ist.
Genau aus diesem Grund waren die Ideen des Experimentellen Universitätszentrums von Vincennes so revolutionär, als es 1969 eröffnet wurde. Bei meinen Recherchen stieß ich auf ein Plakat (S. 22), das meiner Meinung nach das Ethos dieser Experimental-Uni perfekt widerspiegelt: Das Archivbild zeigt einen Baum mit den Worten »Ausländer«, »Nicht-Hochschulabsolventen« und »Arbeiter« in Form von Wurzeln. Die Botschaft ist klar: Die Hochschulbildung sollte all diesen Menschen offenstehen, sowie all jenen, die den »Wunsch zu lernen« (»le désir d’apprendre«) haben.

TD Vincennes eröffnete zur gleichen Zeit wie die ursprünglich beim Alexandra Palace im Norden Londons gelegene Open University. Einige Jahre später wurde der bekannte Kulturtheoretiker Stuart Hall dort zum Professor für Soziologie berufen. Das Nachdenken über diese Geschichte erinnert an John Deweys 1916 erschienenes Buch Demokratie und Erziehung, in dem er darlegt, dass Bildung über eine reine Vorbereitung auf das Leben hinausgeht. Dewey argumentiert, dass der Fortbestand demokratischer Gesellschaften von einer bestimmten Form von Bildung abhängig ist. Diese Perspektive rückt eine breitere Schlussfolgerung in den Blick: dass der Zustand unseres Bildungssystems tiefe Einsichten in das Befinden unserer Demokratien gibt und mit deren offensichtlichem Zerfall in Zusammenhang steht.

Textbeitrag in Camera Austria International 166/2024, S. 21–32.

REINHARD BRAUN

A Field of Mind

»Colonialism, it becomes strikingly evident in the context of [South] America, is also, first and foremost, an epistemic project where the Indigenous was ranged in the same category as the passive, irrational, and nonsignifying entities constituting the abundance of resources to be discovered, measured, named, cultivated and used.« – Ursula Biemann¹

Der deutschsprachige Raum feierte im April 2024 den 300. Geburtstag Immanuel Kants. Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften fragte bereits 2016 in einer Tagung: »Welche Frage­stellungen und Anregungen Kants können uns helfen, neue Zugänge zu zeitgenössischen Herausforderungen zu finden? Welche Impulse kann uns der Königsberger Philosoph für die Zukunft geben?«² Nun, eine der Antworten auf diese Fragen könnte sich entlang der Feststellung entwickeln, dass Kant »[…] seine Ästhetik des Erhabenen in Abgrenzung zu den ›unzivilisierten Feuerländern‹ entwickelt [hat], seine Anthropologie ging von der Überlegenheit der weißen ›Rasse‹ aus.«³ Durch diese Abgrenzung wird nicht nur eine unüberbrückbare Kluft errichtet (dazu später mehr), es wird auch der Anteil der Native Americans an der kritischen Auseinandersetzung mit europäischen Konzepten von Gesellschaft, sozialen Hierarchien, der Rolle ihrer Institutionen und vor allem der Idee der Freiheit unterschlagen, ein Anteil, der maßgeblich die Formulierung der europäischen Aufklärung beeinflusst hat (vgl. dazu etwa David Graeber und David Wengrow, die in ihrem Buch Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit die Rolle von Native Americans in dieser Verschiebung zentraler Werte des europäischen Denkens in den Blick nehmen). Die philosophiegeschichtliche Gestalt Kant könnte also zum neuerlichen Ausgangspunkt werden, um die Rassifizierung und Kolonialisierung des universalisierenden Denkens der Aufklärung und der Moderne nachhaltig zu destabilisieren und dessen Macht einzuschränken, nach wie vor Politiken und Regierungstechniken zu definieren – ein Projekt der Destabilisierung, das seit Langem an vielen Orten und in vielen »Provinzen« der Welt vorangetrieben wird.

1 Ursula Biemann, »The Poetics and Politics of Worlding«, in: Becoming Earth, 2021, https://becomingearth.unal.edu.co/home.
2 https://www.bbaw.de/veranstaltungen/veranstaltung-300-jahre-immanuel-kant.
3 Ulrike Bergermann, Nanna Heidenreich (Hg.), total. Universalismus und Partikularismus in post_kolonialer Medientheorie, Bielefeld: transcript 2015, S. 17.

Textbeitrag in Camera Austria International 166/2024, S. 33–44.

ILIJA MATUSKO

Porträts der Selbstermächtigung

Kevin. In hundertfacher Ausführung ziert dieser in langen Reihen angeordnete Name den Unterarm einer Jugendlichen, die sich mit beiden Armen auf dem Tisch abstützt – in einer Geste, die an eine Lehrkraft erinnert, die sich zu ihren Schüler*innen beugt. Ist es der eigene Name, der dort beschwörend wiederholt wird, oder der eines Freundes, vielleicht eines Schwarms?

Der Anblick erinnert auch an Szenen der Disziplinierung, in denen etwas in hundertfacher Repetition an die Tafel geschrieben werden muss. Kein Gesicht, keine Person, dafür diese einem Unterarmtattoo gleichende Selbstverzierung. Eine Geste der Langeweile womöglich, entstanden im Kontext schulischer Erschöpfung und Resignation. Etwas, um die Leere zu füllen.

Gewischte Tafeln, auf denen sich Muster aus Kreiderückständen gebildet haben.

Buntstifte aus Holz, entzweigebrochen.

Eine mit Klebefolie umwickelte Tintenpatrone.

Ein Jugendlicher mit Farbflecken auf der Arbeitsjacke streicht sich
durchs Haar.

Hände mit extralangen Nails umgreifen eine Plastikflasche Sprite.

Stuhlreihen in orange vor weißem Hintergrund.

Kevin, Kevin, Kevin, Kevin …

Ich sehe mir die Fotografien von Susanne Keichel immer wieder an. Jene Bilder, in die ich mich anfangs lange vertiefte, überspringe ich, bei anderen, die ich beim ersten Mal schnell zu erfassen glaubte, fallen mir neue Details auf und Assoziationen ein. Ausschnitte, Fragmente, Einzelheiten, Verweise. Auffällig schon beim ersten Mal: dass die Schüler*innen nie in der Gruppe oder zusammen mit anderen zu sehen sind, sondern nur einzeln, scheinbar isoliert und ganz auf sich allein gestellt.

Bei Schule denke ich an: Tische mit abgerundeten Ecken, Kreidefinger, Gruppenrivalitäten in der Pause, Sportstunden in der Turnhalle, Rauchen am Hinterausgang, knisternde Sommernachmittage, Halbschlaf, Betäubung, tägliche Aufgabenvermeidung, Endlosmüdigkeit, Schmierereien an den Wänden und die Angst, sie könnten den eigenen Namen enthalten.

Die Angst, als arm zu gelten und aufzufliegen.

Textbeitrag in Camera Austria International 166/2024, S. 45–56.