Ištvan Išt Huzjan
Ein Gedicht zwischen uns
Infos
Eröffnung
16.6.2023, 18:00
Apéro und Ausstellungsführung Ištvan Išt Huzjan im Gespräch mit Walter Seidl
28.7.2023, 17:00
Zeitraum
17.6.– 20.8.2023
Öffnungszeiten
Di – So und an Feiertagen
10:00 – 18:00
Führungen
Deutsch, Englisch
kostenlos, nach Vereinbarung:
exhibitions@camera-austria.at
+43 316 81555016
Kuratiert von
Walter Seidl
Intro
Der künstlerische Ansatz von Ištvan Išt Huzjan basiert auf dem Entwurf von Wegen und Routen, durch die er die Distanz zwischen Menschen und Räumen ergründet und die Bewegungsabläufe zwischen Orten sowie die Art der Fortbewegung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Viele seiner Projekte geben Aufschluss über die Beziehung zwischen Individuen, Gesellschaftsstrukturen sowie die inhärenten historischen oder geografischen Verhältnisse. Fotografische Aufnahmen bilden das flüchtige Material, das Zeugenschaft über spezifische Orte oder kulturell determinierte Handlungen ablegt. In serieller Anordnung werden diese Fotografien teils von Objekten als weitere Bestandteile in Form einer Landvermessung begleitet. Die Ausstellung bei Camera Austria zeigt eine Reihe von Huzjans performativen Arbeiten, die er auf Einladung verschiedener Kurator*innen und Institutionen realisiert hat und die den Künstler als Akteur ins Blickfeld rücken. In diesen verquickt er Momente von Raum und Zeit, deren Verlauf von ihm bewusst gesteuert wird. Dokumentation und Repräsentation bilden Bezugspunkte, die das Subjekt in unterschiedlichen Zeit- und Raumebenen verorten. Bei Camera Austria erstmals zu sehen ist die während der Pandemie entstandene Arbeit A Poem Between Us, die auch den Titel der Ausstellung bildet.
Volltext →Ištvan Išt Huzjan
Ein Gedicht zwischen uns
Die Arbeiten des slowenischen Künstlers Ištvan Išt Huzjan basieren auf dem Entwurf von Wegen und Routen, derer er sich bedient, um die Distanz zwischen Menschen und Räumen zu ergründen, aber auch, um die Bewegungsabläufe zwischen unterschiedlichen Orten und die Art der angewandten Bewegungsformen zu definieren. Viele seiner Projekte geben Aufschluss über Beziehungen zwischen Individuen, Gesellschaftsstrukturen und den inhärenten historischen oder geografischen Zusammenhängen. Diese beziehen sich auf den Künstler und die Aktivitäten, denen sein Körper ausgesetzt ist, um performative Szenarien und Interaktionen mit anderen Individuen zu entwickeln, die sich in bildlichen Repräsentationsebenen wiederfinden. Das Instrument, mit dem die meisten seiner Aktionen dokumentiert werden, ist die fotografische Apparatur in analoger Form.
Fotografische Aufnahmen erfassen a priori ephemere Momente und zeugen von bestimmten Orten oder kulturell motivierten Handlungen. Huzjans Bilder sind in Serien arrangiert, die, ähnlich wie bei Landvermessungen, von zusätzlichen Objekten begleitet werden können. In der Ausstellung bei Camera Austria ist eine Reihe von Huzjans performativen Arbeiten zu sehen, die er auf Einladung verschiedener Kurator*innen und Institutionen als Serie realisiert und in Folge zu nummerierten Künstlerbüchern unter dem Titel MERA zusammengefasst hat, ein slowenischer Begriff, der so viel wie »Maß« bedeutet. Die Arbeiten fokussieren den Künstler als Protagonist, wie er Momente von Raum und Zeit »vermisst« und deren Verlauf bewusst steuert. Dokumentation und Repräsentation bilden dabei Bezugspunkte, die das Subjekt in unterschiedlichen Ebenen von Zeit und Raum verorten. In diesen spezifischen Territorien steht die Interaktion mit anderen Individuen im Zentrum der Debatte. Camera Austria zeigt die Fotoserien der ersten vier MERA-Publikationen in einer verdichteten und stringenten Anordnung gemeinsam mit Huzjans jüngstem, umfassendem Projekt A Poem Between Us, das der Künstler während der Pandemie konzipiert hat. Die Arbeit wird zum ersten Mal gezeigt und ist titelgebend für die Ausstellung.
Aufgrund seiner Herangehensweise an die Vermessung von Land und körperlichen Gesten steht Huzjans Arbeit in einer Reihe künstlerischer Praktiken aus Südosteuropa, die mit dem inhärenten historischen Narrativ vergangener Jahrzehnte in Zusammenhang stehen. Schlüsselfiguren, die als Wegbereiter betrachtet werden könnten, wären die slowenische Künstlergruppe OHO und später das Kollektiv NSK (Neue Slowenische Kunst), aber auch die jugoslawischen Konzeptualist*innen der 1970er-Jahre.
Für sein erstes MERA-Projekt wählte er in einer Walk on Water (2017) betitelten Performance die Küste zwischen den Niederlanden und Frankreich. An der Grenze zwischen den Niederlanden und Belgien nahm Huzjan ein Foto der Niederlande auf, drehte sich um und begann, die belgische Küste entlang zu wandern. Er konnte jedoch keiner geraden Linie folgen, da der Pfad entlang der Küste zunehmend kurvig und gewunden verlief. Mit einem Bein im Wasser und dem anderen an Land ging der Künstler langsam voran und machte ungefähr jede Stunde eine Aufnahme des Horizonts Richtung Süden. Bei Einbruch der Nacht hatte Huzjan Ostende erreicht, wo er die Nacht verbrachte. Am nächsten Morgen bewegte er sich auf die gleiche Weise weiter fort, bis er Frankreich erreichte, wo er sich wieder in Richtung Norden umdrehte und das letzte Foto aufnahm. Durch die stündlichen Aufnahmen bestand die Serie schlussendlich aus etwa 20 Fotografien. Das dazugehörige Künstlerbuch, aber auch die Bücher zu den drei anderen MERA-Projekten, wurde von MER. Paper Kunsthalle in Gent veröffentlicht. Die Ausgaben aller Künstlerbücher werden in der Ausstellung zusammen mit den Fotografien präsentiert.
Die mediale Bilderflut der vergangenen Jahrzehnte erfordert ein erhöhtes Augenmerk auf visuelle Bedeutungsebenen in verschiedenen realen und virtuellen Räumen. Die Hinterfragung der Relevanz von Raum und dessen visueller Darstellung ist eine der Tropen, die Huzjan einsetzt, indem er Umgebungen wählt, die auf den ersten Blick willkürlich erscheinen, jedoch durch spezifische, mittels Fotokamera eingefangene Aktionen zu visuellen Bedeutungsträgern werden. Verschiedene Wahrnehmungs- und Konstruktionsweisen des Selbst führten zu einem Filtern möglicher Visualisierungsformen, deren flüchtiger Charakter in den jeweiligen reproduzierbaren Medienformaten Ausdruck fand. Huzjan thematisiert diese Selbstreferenzialität, die durch transkulturelle Formen der Transformation eine Neuvermessung von Landschaften zur Folge hat. Er verweist auf die sich verändernden Erfahrungen mit Zeit und Raum, die dazu führten, dass das Subjekt geografischen Ausgangs- und Ankunftspunkten weniger Bedeutung beimisst als den Zwischenstufen, wobei Letztere nur im Vorbeigehen wahrgenommen werden und der Schwerpunkt folglich auf der Bedeutung visueller, linguistischer und kultureller Interaktionscodes liegt. Die Ergebnisse können einen dokumentarischen, manipulativen oder abstrahierenden Charakter aufweisen, der von der persönlichen Erfahrung und Translokation der Künstler*innen und von flüchtigen Wahrnehmungsmustern abhängig gemacht wird. Damit bezieht sich Huzjan auch auf Marc Augés Konzept der Nicht-Orte der frühen 1990er-Jahre, als Räume der Vergänglichkeit, in denen Individuen für gewöhnlich anonym bleiben und in denen sie nur für kurze Zeit verweilen. Durch die fotografische Dokumentation hebt Huzjan die Anonymität des Subjekts auf, indem er Aktionen und Räumen Bedeutung beimisst, die andernfalls unbeachtet blieben.
Das zweite MERA-Projekt, Daily Chores on 5th Avenue (2017), fand anlässlich der von Katherine Carl und Tevž Logar kuratierten Ausstellung NSK State Art: New York, The Impossible Return in der James Gallery des Graduate Center der City University of New York (CUNY) statt. Bei dieser Gelegenheit ging Huzjan die 5th Avenue von der Ecke der 143. Straße West und der 5th Avenue bis zum nördlichen Eingang des Washington Square Park. Seine Fortbewegung wurde an jeder der 126 Kreuzungen der Avenue fotografisch dokumentiert. Während seines Spaziergangs befreite er den Rinnstein von Abfall, den er in transparenten 60-Liter Kunststoffsäcken sammelte. Am 8. Februar 2017 wurden sechs volle Müllsäcke vor der Galerie an der 5th Avenue No. 365 ausgestellt und am folgenden Morgen dann vom New York City Department of Sanitation, der New Yorker Müllabfuhr, abgeholt. In diesem Projekt ging Huzjan einen Schritt weiter, indem er dem Verfolgen einer geraden Linie durch die Stadt das Einsammeln von Müll hinzufügte. Huzjans Teilnahme an dieser Ausstellung folgte dem Konzept des Schaffens eines künstlerischen Szenarios aus Raum und Zeit, das im weiteren Sinn dem NSK-Konzept eines Staates folgte, der nicht nur auf einem Territorium, sondern auch auf dem Voranschreiten der Zeit basiert, wie es das slowenische Künstlerkollektiv IRWIN bereits 1992 forciert hatte. Aufgrund der historischen Umstände war die Situation nach dem Zerfall Jugoslawiens und der Unabhängigkeit des slowenischen Staates damals eine andere, doch das Projekt selbst findet auch heute noch politische Resonanz. IRWIN bieten seitdem Pässe für eine virtuelle Nation namens »State in Time« an, die weltweit aus etwa 15 000 Staatsbürger*innen besteht. Das Konzept basiert auf einem Nicht-Ort, jedoch nicht in der Form eines Zwischenraumes, sondern vielmehr auf einem Territorium ohne Territorium, das auf Zeit und Imagination basiert.
Das dritte MERA-Projekt entstand im Rahmen von Huzjans Einzelausstellung De Métrico a Imperial (Von metrisch zu imperial), die 2018 in der Galerie Proyectos Monclova in Mexico City stattfand. Für diese Performance schüttelte der Künstler den einzelnen Besucher*innen der Eröffnung die Hand und sprach mit ihnen. Er stellte sich vor und bedankte sich für das Kommen und Interesse jedes*r Einzelnen mit dem Satz »Thank you for coming / Danke, dass Sie gekommen sind«. Solche sich wiederholenden Momente wurden auch zum Motiv der Fotoserie, die aus jenen ubiquitären Gesten hervorging. In 92 Fotografien sind Close-ups jener Szenen zu sehen, in denen der Künstler den Besucher*innen die Hände schüttelt, während die einzelnen Protagonist*innen anonym bleiben. In dieser Performance bewegt sich Huzjan weg von der Vorstellung des abgeschiedenen Subjekts, da der Künstler diese Gesten nicht nur alleine und für sich selbst ausführte, sondern stattdessen in eine zwischenmenschliche Interaktion mit den Besucher*innen trat. Deren Identität bleibt jedoch verborgen, da die Fotografien nur ihre Hände und keine anderen Körperteile zeigen.
2021 lag der Schwerpunkt des vierten MERA-Projektes auf körperlicher und direkter physischer Interaktion, die zu jener Zeit aus virologischer Sicht als unangemessen für Treffen in der Öffentlichkeit galt. In Vorbereitung auf seine Einzelausstellung im Projektraum Flip in Neapel, der von Federico Del Vecchio kuratiert wird, hatte die Kunststiftung Fondazione Morra Greco Huzjan eingeladen, an ihrem Artist-in-Residence-Programm teilzunehmen. So war es ihm möglich, wieder zwischenmenschliche Begegnungen einzugehen, die zu einem neuen Beziehungsgeflecht zwischen Künstler, Kurator, einem von Künstler*innen geleiteten Raum und einer Kunststiftung führten. Die intensiven Diskussionen und Interaktionen zwischen Huzjan und Del Vecchio inspirierten den Künstler zur Arbeit an einer neuen Performance mit dem Titel Sulle Spalle (Auf den Schultern). Am 12. November 2021 trugen Huzjan und Del Vecchio einander abwechselnd auf dem Rücken vom Projektstandort Flip, der sich in einer ehemaligen Kapelle an der Via Giovanni Paladino befindet, durch die Straßen und Gassen von Neapel bis zur Fondazione Morra Greco im Palazzo Caracciolo di Avellino auf dem Largo Proprio di Avellino. Huzjans Performances lassen einen poetischen Ansatz verspüren, der auf zwischenmenschlichen Beziehungen beruht. Dafür spricht die Tatsache, dass – mit Ausnahme des ersten MERA-Projekts, in dem der Künstler allein agierte – alle anderen Performances im Zusammenarbeit mit weiteren Akteur*innen und verschiedenen Fotograf*innen durchgeführt wurden.
In seinem jüngsten Projekt, A Poem Between Us, das bei Camera Austria erstmals gezeigt wird, bezieht sich der Künstler bewusst auf Momente der Pandemie. Während ein Großteil der Bevölkerung sich zum ersten Mal mit dem Phämomen »Lockdown« auseinandersetzen musste, waren zahlreiche Künstler*innen und Schriftsteller*innen daran gewöhnt, den Großteil der Zeit in ihren Ateliers oder Arbeitszimmern zu verbringen und das Haus nur selten zu verlassen. Das Jahr 2020 und das darauffolgende Jahr waren von einer vermehrten Produktion an Texten und Lyrik gekennzeichnet, die ein hohes Maß an Konzentration und Vorstellungskraft voraussetzt, um Erfahrungen in verdichteter Form wiederzugeben. So wie die Pandemie den gesamten Planeten einholte, setzte sich Huzjan mit jungen Dichter*innen und deren Arbeiten in verschiedensten Ländern auseinander. Die meisten Gedichte, die während der Pandemie entstanden, wurden 2021 veröffentlicht. Damals versuchte Huzjan so viele Bücher wie möglich mit Gedichten in Originalsprache zusammenzutragen, zu ordnen beziehungsweise sie zu erwerben (wobei das Porto oft teurer war als die Publikationen selbst). Für seine Fotoserie fertigte er jeweils eine Aufnahme des ersten Gedichtes aus jedem Buch an; so entstanden insgesamt hundert Fotografien. Die poetische Qualität liegt hier in der Distanz zwischem dem Gedicht und seiner fotografischen Visualisierung vis-à-vis der Vorstellungskraft der Betrachter*innen. Huzjan versucht das scheinbar nicht Messbare zu messen – eine künstlerische Trope, die kein metrisches oder imperiales System benötigt. Es ist die Qualität der fotografischen Darstellung – die einer visuellen Form des Messens von Situationen und der Beziehungen der beteiligten Subjekte folgt – in die sich der Künstler selbst einbringen kann oder auch nicht.
Mit der Ausstellung A Poem Between Us hinterfragt Huzjan verschiedene Formen von Interaktion und die sich daraus ergebenden Beziehungen, die unterschiedliche Arten von Distanz umfassen, aber auch Nähe, nicht nur im Sinne eines physischen Zustands, sondern auch eines mentalen Konstrukts. Huzjan stellt Distanz und Nähe einander gegenüber, indem er einen bestimmten Raum und das Ausmaß, in dem Individuen in einem solchen Raum interagieren, visuell vermisst. Die Bereitschaft zu interagieren hängt von den beteiligten Subjekten als Zeug*innen oder Teilnehmer*innen jener Szenarien ab, die der Künstler vorgibt. Wissenschaftliche oder rationale Messinstrumente können die Grundlage für eine physische Erfahrung bilden, die nicht von vornherein begriffen werden muss. Es ist der Künstler, der die Bedeutung in einem Kontext definiert, der wiederum nach einem Regelwerk verlangt, um eine Vielfalt fotografischer Aufnahmen in einer bestimmten Realität zu konzipieren. Wissenschaftliche Messinstrumente, wie die fotografische Apparatur mit ihren lichtsensitiven Formen der Auseinandersetzung, dienen als Quelle für einen poetisch motivierten Zugang zu einem spezifischen Setting. Obwohl die Ikonografie der Gesten an die konzeptuellen Praktiken der 1970er-Jahre erinnern mag, ist die Zeit die Gegenwart und die Fragen, die der Künstler aufwirft, bleiben universell. Während Künstler*innen einst auf einen bestimmten Ort beschränkt waren, erlaubt die Gegenwart eine Inszenierung von Gesten in jedem beliebigen territorialen Kontinuum. Letzteres inspirierte Huzjan dazu, Projekte rund um den Globus zu realisieren, was auch künstlerische Vermessungen transkontinentaler Formen von Distanz durch das Kameraobjektiv sowie von einem persönlichen Bezugspunkt aus mit einschließt.
Walter Seidl