Presseinformationen
Anouk Tschanz
Actinism
Infos
Pressevorbesichtigung
7.6.2024, 11:00
Eröffnung
7.6.2024, 18:00
Zeitraum
8.6. – 18.8.2024
Öffnungszeiten
Di – So und an Feiertagen
10:00 – 18:00
Kuratiert von
Anna Voswinckel
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Pressetext
»Fotografie ist weder menschliche Repräsentation noch Instrument, schreibt [Walter Benjamin], sondern eines der Hauptmittel, durch das die Welt sich uns zeigt. Was sie offenbart, ist vom menschlichen Bewusstsein unbeeinflusst – nicht nur, weil es unsere optischen Fähigkeiten übersteigt, sondern auch, weil die Natur für die Kamera eine andere Sprache ›spricht‹ als für das menschliche Auge: eine, die auf Analogie beruht.«¹ Bezugnehmend auf den Aspekt der Indexikalität sieht die Kunsthistorikerin Kaja Silverman das Bemerkenswerte an der Fotografie weniger in ihrem Evidenzcharakter als in ihrer Fähigkeit, »uns die Welt zu offenbaren«.² Auch in Anna Atkins’ berühmten, Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Cyanotypien von Algen und Farnen erkennt Silverman eine künstlerische Sensibilität für formale Analogien, die Atkins unabhängig von einer botanischen Taxonomie als »Selbstausdruck der Pflanzen« beschreibt.³ Silverman sieht jedoch nicht allein die von William Henry Fox Talbot konstatierte Einwirkung von Licht (»agency of light«) als alleinige Akteurin der fotografischen Welterfassung, sondern wir als menschliche Operateur*innen sind durch die Fotografie permanent aufgefordert, durch das Erkennen von Analogien Beziehungen herzustellen.4
Anouk Tschanz, die nie dezidiert Fotografie, sondern Bildende Kunst studiert hat, nutzt analoge Schwarz-Weiß-Fotografie seit vielen Jahren als künstlerisches Ausdrucksmittel. Eine entscheidende Rolle spielt für sie dabei die Möglichkeit der Einflussnahme auf die aufgenommenen Bilder während der Filmentwicklung und der Vergrößerung in der Dunkelkammer. Hier produziert sie ihre Handabzüge in aufwendigen Verfahren wie Splitgrade-Filterung, Maskieren, Nachbelichten oder Abwedeln.
Bereits während ihres Bachelorstudiums an der École cantonale d’art de Lausanne (ECAL) begann Tschanz, sich anhand von experimentellen und konzeptuellen Arbeiten mit den chemischen und materiellen Grundlagen der Fotografie auseinanderzusetzen. Um das Medium zu verstehen, betrieb sie eine Art Reverse Engineering, ging zu den Anfängen der Fotografie zurück, verwendete selbstgebaute Lochkameras, mischte Fotoemulsion selbst an oder untersuchte die unterschiedlichen Farbschattierungen von entwickeltem und unentwickeltem Fotopapier. Immer wieder entstanden aus diesen Untersuchungsschritten fotografische Serien als Nebenprodukte, wie beispielsweise Out Of Your Body (2018), für die sie zum Anrühren von Glutinleim benötigte Knochenleimplatten in der Dunkelkammer direkt auf die Negativbühne des Vergrößerungsgeräts legte und sie wie ein Fotonegativ, farbig gefiltert, abzog. In der Untersuchung von Rotlichtfilterung in der Dunkelkammer stieß Tschanz auf den Begriff der Aktinität (englisch: actinism), der die fotochemische Wirksamkeit von Lichtstrahlung auf fotosensitive Oberflächen bemisst und der Ausstellung ihren Titel gibt. Da sich der Begriff im Englischen wie ein Wortspiel mit activism liest, könnte er auf subtile Weise auf Fragen der (eigenen) Handlungsfähigkeit in Bezug auf physische, aber auch globale ökologische Prozesse hindeuten.
Viele von Tschanz’ frühen Arbeiten lassen sich als Ansätze verstehen, das Medium, mit dem sie arbeitet, zu durchdringen. Seit ihrem Studium hat sich das Werk der Künstlerin vom Medienreflexiven zum Dokumentarischen, von der Abstraktion zum Realismus und von der Farbe zum Schwarz-Weiß entwickelt. Den die Fotografie reflektierenden Aspekt haben ihre Arbeiten dabei stets beibehalten. Tschanz bringt uns dazu, Bilder genau anzuschauen – seien es zufällig belichtete Druckplatten, reproduzierte Fotopapiere oder ein Blatt an einem Strauch.
Im Ausstellungsraum von Camera Austria begegnen wir zunächst einer Serie von Sonnenblumen (2023). Es handelt sich um Schwarz-Weiß-Nahaufnahmen von sich strahlenförmig öffnenden Blütenblättern, die mit einer 6×6-Mittelformatkamera aufgenommen wurden. Einige der Pflanzen wurden im Freien fotografiert, andere vor einem neutralen Hintergrund im Studio. Die Künstlerin lässt uns in den massenhaft und monokulturell angebauten Nutzpflanzen vielfältige Wuchsformen und Farbschattierungen entdecken, die in stereotypen Darstellungen von Sonnenblumen üblicherweise ausgeblendet werden. Tschanz zwingt uns, genau hinzuschauen, die Blumen ohne ihre kulturelle Codierung (»Wärme«, »Lebensfreude«, »Die Grünen«, »Ukraine« etc.) wahrzunehmen, gegen die Stereotypen zu sehen.
Neu für die Ausstellung entstanden ist die Serie Steine (2024). Es handelt sich um Schwarz-Weiß-Fotografien von Quarzen und Kristallen vor schwarzem Hintergrund, die im Studio aufgenommen wurden. Je nach Form des abgebildeten Steins wechseln sich Hoch- und Querformate ab. Durch die starken Lichtkontraste werden die scharfen Kanten der Quarze betont, die harte und massive Oberfläche der Minerale scheint durch ihre Opazität und die feinen Verästelungen gleichzeitig fragil. In Analogie zur Umwandlung organischer in anorganische Substanzen stehen Mineralien wie Fotografien für das Bewahren von Erinnerung – wie in ein Fossil kann sich die Zeit in eine Fotografie einschreiben und in anders lesbarer Form überdauern. Durch die frontale Aufnahme, Vergrößerung und die Hängung auf Augenhöhe werden die Steine zum Gegenüber der Betrachter*innen – fast meint man, Gesichter erkennen zu können. So findet eine Subjekt-Objekt-Umkehr statt: Die Schmucksteine, die wir normalerweise als Objekte wahrnehmen, bekommen etwas Wesenhaftes, sie blicken uns an.
Diese Beobachtung führt uns zu der Serie Blätter (seit 2019) – in langer Reihe gehängte, gerahmte Einzelbilder in leicht variierenden Formaten. Tschanz hat jedes Blatt dort aufgenommen, wo es wächst oder angebaut wird: am Straßenrand in den Städten, in denen sie gelebt hat, auf Reisen durch Europa, auf abgelegenen Wiesen in den Alpen. Eines hat sie letztes Jahr in Graz aufgenommen. Je nach Motiv fotografiert sie mit einer analogen Kleinbild-, Mittelformat- oder Großformatkamera. Ausschlaggebend für die Bildfindung ist unter anderem die Lichtsituation zum Zeitpunkt der Aufnahme. Die Blätter stehen im Mittelpunkt der Ausstellung Actinism. Ihre überwältigende Anzahl und die unterschiedlichen Formen lassen sich auch als Auseinandersetzung mit Biodiversität, mit Klima- und Witterungseinflüssen verstehen. Gleichzeitig geht es der Künstlerin um Prozesse der Bildfindung, um Oberflächen, Materialität, Licht, Tiefe.
Die Blätter zeigen ihre Eigenheiten und Brüche. Tschanz’ Fotografien sind das Gegenteil von Schaubildern, eine Umkehrung der berühmten Naturaufnahmen von Karl Blossfeldt 5 – nicht im Studio aufgenommen, nicht aus ihrer natürlichen Umgebung herausgelöst, nicht systematisiert. Anouk Tschanz interessiert sich nicht für Taxonomien, sondern für Analogien: Woran erinnern uns die Blätter und wie lassen sich über diese Ähnlichkeiten Beziehungen herstellen? Hatten Pflanzen bis dahin nur vereinzelt eine Rolle in ihrer Motivfindung gespielt, so vollzog die Künstlerin mit den Blättern den eingangs beschriebenen Wandel von der Auseinandersetzung mit dem Medium Fotografie hin zur Auseinandersetzung mit der Natur.
Dass die Naturfotografie auf grundsätzliche Fragen der Bildhaftigkeit stößt, beschäftigt das Medium seit seiner frühen Verwendung für die Erfassung von Pflanzenarten und -beständen. Es ist wohl kein Zufall, dass die ersten Aufnahmen von Blättern während Tschanz’ Gaststudium an der Glasgow School of Art entstanden, wo die Auseinandersetzung mit Fotografiegeschichte und Bildtheorie im Zentrum der Lehre steht.
Einen Hinweis darauf, dass Tschanz sich dieser Referenzen und Fragen bewusst ist, gibt die solitär gehängte Arbeit Untitled (2020). In ihr treten die wichtigen Polarisierungen des Fotografischen hervor: jene zwischen dem Gegebenen und dem Gemachten und damit auch jene von Natur und Kultur. Das Bild zeigt einen frisch belichteten, fixierten und gewässerten Abzug, der leicht gewölbt über einem anderen liegt – ein Blatt, das ein Blatt abbildet. Wassertropfen zeichnen sich auf der Oberfläche des Fotopapiers ab. Die analoge Fotografie ist an ihre materielle Grundlage gebunden. Sie ist flächig, lässt durch unsere Wahrnehmung aber Tiefe und Räumlichkeit entstehen. So ist Untitled vielleicht am deutlichsten eine Fotografie, die uns über das Fotografische nachdenken lässt.
1 Kaja Silverman, The Miracle of Analogy or The History of Photography, Part 1, Stanford: Stanford University Press 2015, S. 141–142 (Übers. A. V.).
2 Ebd., S. 10.
3 Ebd., S. 100.
4 Ebd., S. 11–12.
5 Ich verdanke diesen Hinweis der Künstlerin Markéta Othová, mit der ich einen E-Mail-Austausch über die Arbeit von Anouk Tschanz geführt habe.
Anouk Tschanz (geb. 1994 in Bern, CH) studierte an der École cantonale d’art de Lausanne (ECAL) (CH), der Universität der Künste (UdK) Berlin (DE) und an der Glasgow School of Art (GB). Sie lebt und arbeitet in Zürich (CH). Ihr letzten Einzelausstellungen wurden bei Coalmine, Winterthur (CH, 2021) und LONGTANG, Zürich (2020) gezeigt.
Bildmaterial
Die honorarfreie Veröffentlichung ist nur in Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Ausstellung und die Publikation gestattet. Wir ersuchen Sie die Fotografien vollständig und nicht in Ausschnitten wiederzugeben. Bildtitel als Download unter dem entsprechenden Link.