Presseinformationen
Belinda Kazeem-Kamiński
Seven Scenes
Infos
Pressevorbesichtigung
2.9.2022, 11:00
Eröffnung
2.9.2022, 18:00
Zeitraum
3.9.–20.11.2022
Öffnungszeiten
Di – So und an Feiertagen
10:00 – 18:00
Kuratiert von
Reinhard Braun
Pressedownloads
Pressetext
decolonization / requires / acknowledging. / that your / needs and desires / should / never /
come at the expense of another’s / life energy. / it is being honest / that / you have been spoiled /
by a machine / that / is not feeding you freedom / but / feeding / you / the milk of pain.
—“the release”
nayyirah waheed, salt, 2013
»Wie könnte Dekolonisierung überhaupt aussehen?«, fragte Belinda Kazeem-Kamiński in einem Gespräch mit mir, auf das viele weitere folgten. Kara Keeling, afrikanisch-amerikanische Kulturtheoretikerin, deren Arbeiten für die Künstlerin wichtige Bezugspunkte darstellen, wiederum stellt die Frage, ob wir »überhaupt über Dekolonisierung sprechen können oder ob wir nicht eher über Vorstellungen von Dekolonisierung sprechen.«1 Auch wenn wir beide nicht versucht haben, die erstere – und größere – Frage zu beantworten, so war uns doch instinktiv klar, dass »Release« dabei von zentraler Bedeutung ist. Ein Loslösen und Ausdehnen im Sinne eines Raumnehmens, eine Entlastung von Formen des Fremdgemacht-Werdens, von denen wir gestern noch nichts ahnten; Freude, Handlungsmacht, Befreiung.
Seven Scenes ist ein Versuch, auf die eingangs gestellten Fragen in sieben Werkgruppen einzugehen. Diese Fragen sind grundlegend für Belinda Kazeem-Kamińskis umfassendes künstlerisches Schaffen, welches beleuchtet, was in hegemonialen Narrativen nicht erzählt und sichtbar wird. In diesem Fall nimmt sie die persönliche, beziehungsweise kollektive Erfahrung des Sich-Befreiens ins Visier – was heißt es, wahrhaftig frei zu sein? Sie lädt dazu ein, zurückzublicken und dessen zu gedenken, was einst gefeiert wurde und Hoffnung gab: von Befreiungskämpfen oder -bewegungen bis hin zu panafrikanischer Solidarität. Wir vergessen nicht, welche Möglichkeiten unsere Ahn*innen für das geschaffen haben, was heute ist – die Ausstellung als eindringliche Vergegenwärtigung der uns verbindenden Farben Rot, Schwarz und Grün. Die Geschichten von gestern sind Werkzeuge für das Heute und Antworten für das Morgen.
Mit energischen kraftvollen Bewegungen, ihre Fäuste fliegen nach oben, unten, oben, unten, mitunter auch seitwärts, signalisiert die Künstlerin in dem performativen Video Untitled, K. T. C. I. (2022) die einzelnen Buchstaben des Satzes »Kill The Cop Inside«. Die Arbeit ist vom Theatermacher Augusto Boal inspiriert, der Techniken gegen die internalisierte Unterdrückung entwickelte. Sie ist ein Zeichen des Erwachens, wobei der rassifizierte Körper zum ersten Kommunikationsportal wird. Es gilt, rasch abzukommen von der klaren Botschaft, die uns im Alltäglichen, hier, da und überall dort überschwemmt, wo wir direkter Gewalt, Missachtung und Ungerechtigkeit gegen rassifizierte Körper nicht entkommen können. Jene, die atmen oder nicht atmen können – Atmen als Akt des Widerstands, räumliches Atmen als Aktivator radikaler Gemeinschaft und der Spekulation über Schwarze Zukünfte. Das Töten des inneren Polizisten als Atemübung.
Kazeem-Kamińskis Ausstellung bewegt sich wellenförmig mittels eines repetitiven visuellen Regimes und entlang von Schauplätzen persönlicher und kollektiver Prozesse durch lineare Zeiten und über diese hinaus, pendelnd zwischen der panafrikanischen Flagge und den Farben der Black Liberation. Die Ausstellung ist eine Ode an die Zukunft der Befreiung Schwarzer Menschen, in der die drei Farben Rot, Schwarz und Grün die zeitenübergreifende Synchronizität der Befreiungskämpfe reflektieren – eine selbstkartografische Übung in Affirmation und Solidarität.
Das Gezeigte stützt sich auf die Bedeutung von »radikalem Diasporismus und transnationalen Verbindungen«,2 die uns den notwendigen Raum für Dialog und Verbundenheit geben. Kazeem-Kamińskis Praxis ist in Methodologie eingebettet; sie spielt die theoretische und ästhetische Rolle eines Bindeglieds, welches Räume der Erprobung von Momenten eröffnet, die in der Genealogie der Black Radical Tradition, insbesondere Schwarzer feministischer Praktiken, stehen. Das Medium Ausstellung lässt sich so als visuelles Ergebnis des Textes verstehen – als Fundierung des Theoretischen in der Praxis. Zu sehen ist, was schreibend vollzogen wurde.
Atmen ist Widerstand: Eine Probe, der Befreiung entgegen
Seven Scenes ist ein radikaler Akt: ein Proberaum des gemeinsamen Imaginierens, Denkens, Spekulierens, Träumens und Organisierens. Die Ausstellung ist ein kollektiver Prozess gemeinsamen Verstehens, ein sich öffnender Raum des Seins, der dazu einlädt, miteinander zu atmen, uns in Erinnerung zu rufen, dass es Räume innerhalb von Räumen gibt, in denen wir innehalten und nachsinnen können. Räume, die dazu einladen, den Akt des Atmens zu überdenken, der nicht immer selbstverständlich ist.
Kazeem-Kamiński ist die Regisseurin, die den fließenden Rhythmus im Tempo des räumlichen Atmens orchestriert. Ihre Anweisungen sind spielerisch und alternieren zwischen Enthüllen und Verhüllen in einem letztlich nie endenden Prozess des Experimentierens, der sich im Raum in den künstlerischen Arrangements entfaltet und dabei unablässig mit Offenheit arbeitet. Seven Scenes schafft Zeit und Raum, um nachzusinnen und -spüren. Es ist ein Raum zum Erproben Schwarzer Handlungsmacht als Praxis des Zusammenseins – eines In-Verbindung-Seins, welches nicht immer zugestanden wird. Die Idee des Sich-Verbindens als vitale Praxis des Widerstands ist hier wesentlich.
Mit dem Erproben der zur Befreiung führenden Zukunft führt uns Belinda Kazeem-Kamiński zu einer der Tradition des Schwarzen radikalen Denkens verpflichteten Auffassung von Befreiung, in der ihre Subjektivität – in den Worten H. L. T. Quans – »unverfügbar fürs Regieren«3 wird. Sie tut dies durch einen visuellen und experimentellen Prozess des Anrufens, Atmens, Anklagens und im (Wieder-)-Erkämpfen von Räumen in einer Welt, die uns systematisch die Existenz verwehrt. In der erwähnten Quelle verweist Quan auch auf eine Tradition der Unregierbarkeit, wie der Marronage, die von radikalem Schwarzen Bewusstsein und einer ebensolchen Praxis zeugt. Mit ihrer eigenen Praxis schafft Kazeem-Kamiński einen Ort, um diese Tradition in einen sinnlichen Dialog fortzuführen.
Einen Ort des Versammelns, welcher es dir erlaubt, deinen Teil zu tun, welcher dich dazu veranlasst, deinen Teil zu tun, von dir gleichsam verlangt, deinen Teil zu tun. Wie beschließt du heute, zu sehen? Wie beschließt du heute, durch die Linse anderer zu erleben und zu denken? Mit welchem Blick entscheidest du dich zu jeder beliebigen Zeit, andere Subjektivitäten zu betrachten?
»What kind of spaces are they imagining? And where is a community to think and build with?«, fragt Kazeem-Kamiński in einem von drei Statements in Openings (2022), einer zweiteiligen Arbeit. Die Ausstellung versammelt Beispiele von Widerstandspraktiken und emotionalen Momenten multisensorischer Kontemplation, die die Betrachter*innen körperlich berühren, die invasiv sind, insofern sie ohne Vorwarnung auf die Eingeweide wirken. Wenn du weißt, weißt du und wirst wissen (müssen).
A hum is a sound made by producing a wordless tone with the mouth closed, forcing the sound to emerge from the nose. To hum is to produce such a sound, often with a melody. It is also associated with thoughtful absorption, “hmm.” A hum has a particular timbre, usually a monotone or with slightly varying tones.4
Tina M. Campt leitet ihr Buch Listening to Images (2017) mit einer Metapher über das Summen ein und dem Hinweis auf ihren Vater, der, in der Trauer über den Verlust seiner Frau, der Mutter der Autorin, deren Lieblingslied summt. Das Summen ist eine aktive Erinnerungspraxis, eine haptische Verbindung zu den Ahn*innen, mit anderen Worten, eine andauernde geisterhafte Präsenz, die nie vergessen werden kann und sich in das Körpergedächtnis einschreibt. Für Campt ist das Summen »dieser wunderbar beredte Modus des Schweigens […], der mir [d. h. ihr] ein tieferes Verständnis für die Schallfrequenzen der Alltagspraktiken Schwarzer Communities vermittelt.«5 Auf diese Analyse des Summens folgt die Einführung in Campts zentrale Überlegung über die Fähigkeit, Bildern zuzuhören, deren Kontexten und Geräuschen, und damit ihren tiefsten Bedingungen. Sie fordert die*den Betrachtende*n auf, beim Hören auf ein Bild eine verantwortliche Haltung einzunehmen, statt einfach nur zu schauen, um so, aus dieser Perspektive und als Praxis der Verweigerung und Enteignung, die alternativen Narrative Schwarzer Subjektivität zu erkennen.
Sound ist ein transnationales und diasporisches Bindeglied, das grundlegend ist für die kulturellen Formationen des Black Atlantic, für welche die (klangliche) Freiheit des Ausdrucks entscheidend war und ist. Das Klangliche hallt in unseren Ohren nach, egal wo wir uns verorten. Summen ist eine codierte Sprache, die die Rolle eines sanften Protests von innen einnimmt. In der Ausstellung erleben wir durch deren Schwingungen ein Eindringen in die tiefsten Schichten der Seele, das einer Provokation gleichkommt. Das melodische Summen taucht den Raum in einen heilsamen Klang. In Untitled, Keep On Keepin’ On (for Nile) (2022) performt Kazeem-Kamiński Wiederholungen von Curtis Mayfields »Keep on Keeping On«, einem Song aus dem Album Roots (1971). Das Summen erfüllt den Raum zusammen mit vernehmbarem Atmen mit einem gefühlvollen Ambiente der Hoffnung.
Most of your life can be out of sight
Withdraw from the darkness and look to the light
Where everyone’s free
At least that’s the way it’s supposed to be
We just keep on keeping on
We just keep on keeping on6
Die Sprache des Atmens verbindet über Zeit und Raum hinweg, wenn man ein Leben in Unterwerfung lebt. Atmen ist »der Groove, den wir im Leben, am Rand des gestohlenen Atems, wiedergeben, wird (ent)-fesselt im reflexiven Potenzial des Atmens. Es ist diese Musikalität des Ein- und Ausatmens – Sich-Weitens und Zusammenziehens –, die die Verwandlung des Bestehenden durch Hören ermöglicht.«7
When Can Black People Breathe? (2022) lautet eine offene Frage auf dem Poster, dessen Farbe ein Echo auf Rot Schwarz Grün ist. Verschiedene Aspekte verknüpfen sich hier. Respire (2022) ist eine Video-Arbeit, in der vor Ort lebende Schwarze Personen in einen roten Luftballon atmen, wobei ihre Gesichter durch diese Tätigkeit teilweise oder zur Gänze verdeckt und freigelegt werden. Atmen demonstriert Schwarzes Leben, Atmen ist ein Recht. Respire schreibt den Diskurs in den Grazer und generell den europäischen Kontext ein. Innerhalb andauernder prekärer Lebensbedingungen von Schwarzen Personen wird das Mitfühlen und Bezeugen8 des (Schwarzen) Atmens zur Erinnerung an all jene, die nicht länger atmen können, weil sie durch staatliche Gewalt getötet wurden. Marcus Omofuma, dessen »Atmung massiv eingeschränkt« wurde,9 Richard Ibekwe, Johnson Okpara, Edwin Ndupu, Yankuba Ceesay, Essa Touray, Cheibani Wague und andere mehr.
Die Arbeit reflektiert das politische Recht, kollektiv zu atmen – als gemeinschaftliche Bemühung, die im Bedürfnis wurzelt, anzuklagen, zu widerstehen und »Unregierbarkeit«10 zu erproben. Es geht um das Finden von Möglichkeiten, sich der laufenden Zunahme staatlicher Gewalt, allgegenwärtiger Überwachung, der Kontrolle und Repression all jener, die rassifiziert und marginalisiert werden, zu entziehen. Die Arbeit widmet sich der Suche nach Verbindungen in diesem Kampf.
In Seven Scenes nehmen wir an einer Atemübung teil: Atmen durch andere und durch Atmen Reparationen fordern. Hineinatmen in etwas, zusammen mit den Atem-Sammler*innen in der Ausstellung und anderen in diesen Raum eingeladenen Subjekten. Die Ausstellung ist eine Reflexion über die vielen Möglichkeiten des Vorstellens, Überdenkens, Verlernens, Übertragens, (Mit-)Teilens, Austauschens, Neumachens und Wiedererrichtens in einer Vision für eine befreite Zukunft/befreite Zukünfte. Irgendwie in Räumen innerhalb von Räumen innerhalb von Räumen (und so weiter) einer langen Tradition von Kämpfen folgen, in denen ein Gefühl von Befreiung erreicht wird, das ein sensibles In-Verbindung-Sein und Flüchtigkeit erlaubt. Hier ist Seven Scenes eine Gabe.
Cindy Sissokho
1 QFM – Queer Frequency Modulation Collective and Kara Keeling, “Looking After the Future: On Queer and Decolonial Temporalities” (2018), https://wissen-
derkuenste.de/texte/ausgabe8/looking-after-the-future-on-queer-and-decolonial-
temporalities-2/ (all URLs accessed in July 2022). An interview by Kara Keeling with Rita Frank, Katrin Köppert, Arik Kofranek, Victor Negri, Carol Neumann, Alongkorn Phochanapan, Lea Taragona, and Pooneh Eftekhari Yekta.
2 Cases Rebelles, “Black America and Us,” The Funambulist 41 (May–June 2022).
3 H. L. T. Quan, “‘It’s Hard to Stop Rebels that Time Travel’: Democratic Living and the Radical Reimagining of Old Worlds,” in Futures of Black Radicalism, ed. Gaye Theresa Johnson and Alex Lubin (New York: Verso, 2017), pp. 173–93.
4 Wikipedia, s.v. “humming,” last modified July 15, 2022, 15:28, https://en.wikipedia.org/wiki/Humming.
5 Tina M. Campt, Listening to Images (Durham, NC: Duke University Press, 2017).
6 Excerpt of lyrics from “Keep On Keeping On” by Curtis Mayfield, from the album Roots, 1971.
7 Jessie Cox and Isaac Jean-François, “Aesthetics of (Black) Breathing,” liquid blackness 6, no. 1 (2022), pp. 98–117.
8 A term mentioned by Belinda Kazeem-Kamiński in a July 2022 conversation with the author, in reference to: The Kilpisjärvi Collective (Sally Atkinson et al.), “Introducing With Microbes: From Witnessing to Withnessing,” With Microbes, ed. Charlotte Brives, Matthäus Rest, and Salla Sariola (London: Mattering Press, 2021).
9 Farid Hafez, “Black Lives Matter: In Austria Too,” published on the website of the Botstiber Institute for Austrian-American Studies, https://botstiberbiaas.org/black-lives-matter/.
10 See ibid. and also H. L. T. Quan, “‘It’s Hard to Stop Rebels that Time Travel’: Democratic Living and the Radical Reimagining of Old Worlds” (2017), in Futures of Black Radicalism, ed. Gaye Theresa Johnson and Alex Lubin (New York: Verso, 2017).
Cidy Sissokho
Belinda Kazeem-Kamiński is a writer, artist, and researcher based in Vienna (AT) whose works manifest through a variety of media. Rooted in Black feminist theory, she has developed a research-based and process-oriented investigative practice that deals with the condition of Black life in the African diaspora. In the process, she interlaces varying spaces and temporalities, thereby resisting a clean-cut separation between documentary and speculation.
Cindy Sissokho is a curator, cultural producer, and writer with a specific focus on intellectual, political, and artistic aspects of decoloniality within the arts and on culture. Her curatorial practice is nurtured by the urgency to broaden and disseminate epistemologies and cultural production from systemically racialized and marginalized perspectives.
Belinda Kazeem-Kamiński wishes to express her gratitude to Cindy Sissokho, interlocutor and fellow thinker. Our conversations provided fertile ground for what became visible. To Nicola Lauré al-Samarai who has inspired so much of what started growing here. To Alessandra Ferrini and Emma Wolukau-Wanambwa for having my back. To Martina Berger and Nina Höchtl for envisioning and putting everything into perspective. To Christina Simmerer for supporting the production process. To the best crew: Sunanda Mesquita, Bassano Bonelli Bassano, Liesa Kovacs, and Nick Kovacs. To the team of Camera Austria for inviting me into their space, most of all Reinhard Braun, Angelika Maierhofer, and Christina Töpfer. This is for the community of breath-gatherers in past*present*future.
Bildmaterial
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