Presseinformationen

Exposure

Infos

Pressevorbesichtigung
15.9.2023, 11:00

Eröffnung
15.9.2023, 18:00

Zeitraum
16.9. – 12.11.2023

Öffnungszeiten
Di – So und an Feiertagen
10:00 – 18:00

Mit Arbeiten von
Laurence Bonvin, Seiichi Furuya, Lisa Holzer, Erich Lázár, Flo Maak, Sophie Meuresch, Georg Petermichl, Stefanie Seufert, Niklas Taleb, Manfred Willmann.

Kuratiert von
Anna Voswinckel

Pressedownloads

Pressetext

Mit dem zweiteiligen Projekt Exposure beginnt die für den Zeitraum 2023–2025 angelegte Ausstellungsreihe Fields of Focus. Diese knüpft an die Selbstbeschreibung von Camera Austria als Labor für Fotografie und Theorie an, das künstlerische Fotografie innerhalb ihres jeweiligen sozialen und politischen Kontextes verortet. Exposure ist damit auch der erste Schritt einer Standortbestimmung sowohl des fotografischen Bildes wie der Institution und der Diskurse, denen sie sich verschrieben hat: Welche technischen und sozialen Bedingungen bestimmen Fotografie heute? Welche historischen Vorstellungen ihrer Effekte und Bedeutungen wirken noch immer in ihr nach? Und wie lassen sich die mit fotografischen Arbeiten verbundenen Kontexte und Formen der Wissensproduktion in eine zeitgenössische kuratorische Praxis übersetzen?¹

Die Ausstellung gliedert sich dabei in zwei Teile. Der erste Teil mit dem Titel Exposure eröffnet am 15. September 2023. Für den zweiten Teil, Double Exposure, der am 24. November 2023 eröffnet, wird die bestehende Ausstellung um weitere Positionen ergänzt, die in Analogie zum Verfahren der fotografischen Doppelbelichtung Bereiche der ersten Ausstellung überlagern und so als Kommentar und Erweiterung dieser gelesen werden können. Die in diesem zweiten Teil präsentierten Projekte werden im Rahmen von Künstler*innengesprächen kontextualisiert.

Belichtung ist die Grundbedingung der Fotografie. Ein fotografisches Bild entsteht dadurch, dass (Licht-)Strahlung auf eine Oberfläche trifft und sich in diese einschreibt, eine Spur hinterlässt – sei es durch die Umwandlung von Silbersalzen in metallisches Silber, die chemische Veränderung lichtempfindlicher Schichten oder die Übersetzung der Messdaten eines Bildsensors in digital gespeicher­te Bits. Auch in digital oder algorithmisch generierten Bildern wirkt die indexikalische Qualität der analogen Fotografie nach. Roland Barthes spricht in Die helle Kammer von »eine[r] Art Nabelschnur«, die Bild und Bezugsobjekt physisch verbindet.²

Die von William Henry Fox Talbot in seinem Pencil of Nature (1844–1846) formulierte, seinerzeit verblüffende Feststellung, dass Licht »Veränderungen an festen Körpern«³ hervorzurufen vermag, gab im frühen 19. Jahrhundert noch vereinzelt Anlass zur Sorge um die körperliche Unversehrtheit beim Fotografiert-Werden. In seinen Memoiren Als ich Photograph war kommt der französische Por­trätfotograf Nadar auf die Vorbehalte seines Schriftstellerkollegen Honoré de Balzac gegenüber der Fotografie zu sprechen, laut dessen »Spektraltheorie« der menschliche Körper von einer unendlichen Anzahl winzig kleiner, übereinandergeschichteter Blättchen umhüllt ist, von denen bei Anwendung der Daguerreotypie mit ihren langen Belichtungszeiten die äußersten jeweils erfasst, abgelöst und auf eine Negativplatte übertragen werden – infolgedessen »jeder Körper bei jeder photographischen Aufnahme eine seiner Spektralschichten, das heißt einen Teil seines elementaren Wesens einbüßte.«4

Aus der Sorge um das elementare Wesen wurde zunehmend die Sorge um den Verlust beziehungsweise die Abtragung des Authentischen, welche durch die intensivierte Zirkulation digitaler Bilder noch verstärkt wird. Auch an die Fotoaufnahmen, die inzwischen zu akkumulierbaren Datensätzen geworden sind, einem Rohstoff, der von Medienkonzernen abgeschöpft und verwertet wird, sind zentrale Fragen des Ausgesetzt-Seins, des Sich-Aussetzens und der Verletzlichkeit geknüpft. Es ist gerade diese »Logik der unmittelbaren Verursachung«,5 die die Kontextualisierung von Fotografien kontinuierlich erforderlich macht. Eine heutige Rückbesinnung auf die Belichtung als physische Unmittelbarkeit der Fotografie bedeutet auch, auf einer Sensibilität für die Körper zu bestehen, die in den Blick genommen und einer Aufnahme ausgesetzt werden – in einer Umkehrung klassischer Subjekt-Objekt-Dualismen, die der Fotografie durch die Vermittlung und die Position der Kamera eingeschrieben sind, wie die Einbeziehung feministischer und postkolonialer Kritiken in den fotografischen Diskurs immer wieder gezeigt hat.6 Ausgesetzt ist nicht (nur) der lichtempfindliche Sensor, sondern sind diejenigen der Kamera, die von ihr abgelichtet werden. Darüber hinaus sind es die Betrachter*innen, die sich dem Abgebildeten nicht entziehen können, die mit der Unmittelbarkeit der Bilder konfrontiert sind und ihre eigene Präsenz im Moment der Bildbetrachtung zu derjenigen des Bildes in Beziehung setzen.7

Die Frage der Vulnerabilität menschlicher wie auch nichtmenschlicher Subjekte wurde in den letzten Jahren unter anderem von
Judith Butler theoretisiert. Sie bezieht sich auf aktuelle Emanzipationsbewegungen, die die »geteilte Verletzlichkeit« als Ausgangspunkt gemeinsamen Handelns verstehen – und im Unterschied zu identitätspolitischen Zusammenschlüssen Differenzen anerkennen und neue Allianzen möglich machen. Butlers Konzept der Verletzlichkeit zielt auf die grundsätzliche Gebundenheit des Selbst an das Andere. Hier wäre sie wieder: die »Nabelschnur« (Barthes), die Subjekt (Fotograf*in, Betrachtende) und Objekt (Betrachtete) physisch (indexikalisch) verbindet. Vor diesem Hintergrund eint die in der Ausstellung gezeigten Arbeiten eine Gebundenheit an das Gegenüber, die sich als physische oder emotionale Nähe zu den In-den-Blick-Genommenen manifestiert, die aber auch auf einer bildanalytischen Ebene als Suche nach der Potenzialität und Beweglichkeit des Subjekts und der Relationalität unserer Welt deutlich wird.

Exposure (16. 9. – 12. 11. 2023)
Die Gruppenausstellung Exposure beginnt mit Arbeiten, die sich ausgehend vom Verfahren der Belichtung mit dem dokumentarischen
Aspekt der Fotografie auseinandersetzen und Zugriffe auf Realität befragen. Die als Auftaktbild gehängte Arbeit Treppe (Reflexion) (2018) von Sophie Meuresch spielt ebenso wie der Ausstellungstitel mit der Mehrdeutigkeit des Begriffs der Reflexion, der einerseits die Spiegelung von Licht auf einer Oberfläche bezeichnet, andererseits den Prozess der Verarbeitung und Wiedergabe von Information. Meureschs Serie Mohn (eins – fünf) (2021) besteht aus fünf unterschiedlich belichteten Aufnahmen eines Mohnfelds, die in einer Reihe, ungerahmt und ungeschützt, gehängt sind. Die Reihe ähnlicher Bildausschnitte spiegelt den Versuch wider, die Eigenschaften des Mohns – seine außerordentliche Leuchtkraft und gleichzeitige Fragilität – mit den Mitteln der Fotografie objektiv wiederzugeben. Doch je länger wir die verschiedenen Bildvarianten anschauen, desto mehr entzieht sich uns der Mohn als Motiv – und weist auf eine Beweglichkeit, derer die Fotografie nicht habhaft werden kann.

Ähnliche Überlegungen haben auch Stefanie Seufert veranlasst, sich in ihrer vierteiligen Serie sich selber zu sehen (2021) mit dem Essayband Das tägliche Leben von Marguerite Duras auseinanderzusetzen. In dem Essay »Die Fotografien« reflektiert Duras über die Funktion von Familienfotos, die in der modernen Welt, in der der Fotografie die Funktion des Fixierens von (Familien-)Geschichte übertragen wird, durch die Überschreibung subjektiver Erinnerungsbilder das Vergessen beschleunigen. Auch die ihr zugeschriebene identitätsstiftende Funktion (»sich selber zu sehen«) kann die Fotografie nach Duras nicht einlösen, da sie das Potenzielle (einer Person) aufhebt. Die Künstlerin überträgt den Text und seine Kritik in Form von reproduzierten Textcollagen auf Bildmotive, die sie zusätzlich mit einer Taschenlampe direkt belichtet. Die künstlerische Auseinandersetzung mit fotografischen Belichtungsprozessen prägt Seuferts Praxis seit mehreren Jahren, wie weitere Arbeiten in der Ausstellung zeigen.

Beim Betrachten der Serie Soweit das Auge reicht, Wien (1983–1984) folgen wir Seiichi Furuyas Blick aus dem Fenster seiner Woh­­nung in Wien. Auch diese Schwarz-Weiß-Serie besteht, ähnlich wie jene Meureschs, aus einer Reihe variierender Aufnahmen des beinahe identischen Bildausschnitts. Furuyas Motive wechseln zwischen geöffnetem und geschlossenem Fenster, unterschiedlichen Wettersituationen und Tageszeiten. Der Blick durch das geschlossene Fenster ist zumeist getrübt; die Fensterscheibe, auf der sich witterungsbedingt Feuchtigkeit als Zeichnung beziehungsweise Unschärfefilter abbildet, lässt eine Analogie zur Mattscheibe der Fotokamera erkennen, während die Scheibe im Dunkeln zum Spiegel des Fotografen wird und so die Blickrichtung umkehrt.

In seiner jüngsten Werkgruppe Universal Thoughts (or whatnot) (2023) nimmt Georg Petermichl seine Herkunftsfamilie in den Blick und befragt dabei die Rolle der Fotografie als sozial dokumentierendes wie Identität konstruierendes Medium. Die Größe der Prints, die zum Teil als ungerahmte Handabzüge raumbezogen gehängt sind, steht in auffälligem Kontrast zur Intimität der jeweiligen Aufnahmen. Diese legen Naheverhältnisse offen, lassen durch gezielte Über- und Unterbelichtung aber ebenso Distanz und Deutungsoffenheit zu. In der Figur eines kleinen Nilpferds aus Keramik reflektiert der Künstler augenzwinkernd die eigene Unbeholfenheit im Umgang mit seiner ungewohnten (Macht-)Position als Fotograf in dieser familiären Bildkonstellation.

Niklas Taleb thematisiert in seiner Werkgruppe Dream again of better Generationenvertrag (2020) das Spannungsfeld von künstlerischer Praxis und familiärer Sorgearbeit. Das oftmals aussichtslose Bemühen, bessere Bedingungen für die (selbst-)ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse als Künstler*in auszuhandeln, wird im Titel der Arbeit angedeutet. Die Fotografien halten Alltagssituationen fest, in denen die eigene Elternschaft sichtbar wird und die Einblicke in Wohnsituation, Konsum und Freizeit wie auch in die eigene (hybri­de) kulturelle Identität geben. Taleb fertigt seine Rahmen selbst an. Sie geben den (digitalen) Fotografien einen Körper und offenbaren eine Sensibilität im Umgang mit dem fotografischen Bild, die auch in Analogie zur familiären Sorgearbeit verstanden werden kann.

Auch Erich Lázár macht in seiner alltagsdokumentarischen Schwarz-Weiß-Fotoserie Private Eye (1982–2000) Beziehungsgefüge im Raum des Privaten sichtbar. Ein Motiv, das die Komplexität von Familienkonstellationen besonders verdeutlicht, ist das Porträt von Lázárs Partnerin und ihrem gemeinsamen Sohn. Die Frau weint, ihr Blick ist gesenkt, der Moment der Aufnahme scheint sie unangenehm zu berühren. Ihr Sohn, der vor ihr steht und das Gesicht der Mutter nicht sehen kann, lächelt vergnügt in die Kamera. Dieses irritierende Moment in der Aufnahme kann vielleicht die Ungleichheit und Ungleichzeitigkeit von Sorgebeziehungen vor Augen führen.

Lisa Holzers Serie von zunächst abstrakt wirkenden farbigen Pigment-Prints trägt den Titel Family (2023). Sie umfasst im Photoshop überarbeitete Fotografien von Fingerabdrücken auf einem Tablet, das die Künstlerin sich mit ihrem Sohn teilt. Die Abdrücke lassen sich in ihrer präzisen Wiedergabe sicherlich forensisch auf eine*n von beiden oder Freund*innen zurückführen, die Arbeit stellt aber gerade die Überlagerung und Verwischung der Spuren in den Vordergrund. Auf einer weiteren Fotografie der Serie sind Tablet und eine Person abgebildet, durch die Überarbeitung und Umkehrung des Motivs erhält das Bild wiederum eine malerische Qualität. Letztendlich geht es Holzer um die Ambivalenz von Figuration und Abstraktion, um ein Einschreiben im Umgang mit einem digitalen Gerät, um Fragen von Nähe und Distanz. Die Auseinandersetzung mit Sprache und Psychoanalyse liegt Holzers Arbeiten zugrunde, die sowohl aus fotografischen Bildern wie aus Texten bestehen, die ihre Bilder begleiten, aber auch unabhängig von ihnen entstehen.

Eine weitere Gruppe von Arbeiten in der Ausstellung verhandelt Fragen der Einfühlung über die Grenzen verschiedener Spezies hinweg und hinterfragt so auch das dualistische Verhältnis von Mensch und Natur, die ihm inhärenten Abhängigkeiten – und letztlich die Frage, wer wem ausgesetzt ist. Über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg, worauf auch der Titel der Werkgruppe 2018/2017 hinweist, hat Manfred Willmann tagtäglich Pflanzen und Tiere sowie deren Spuren in seiner direkten Umgebung und aus nächster Nähe fotografiert. Die Aufnahmen lassen sich als Hommage an die jeweils ins Licht gerückte Spezies lesen. Die aufgenommenen Wesen kommen uns Betrachter*innen unheimlich nahe. Selbst im Moment der Tötung scheinen wir mit ihnen in Kontakt treten zu können – als seien wir es, die ihrem Blick ausgesetzt sind.

Auch Flo Maak setzt Insekten ins Bild, er tut dies jedoch bewusst im Stadtraum, um die Koexistenz von Mensch und Tier, die gegenseitige Durchdringung ihrer Körper zu beleuchten. Den Anthropozentrismus und die Heteronormativität der Gaia-Hypothese, die das Ökosystem über den Mythos der fürsorglichen Mutter repräsentiert, hinterfragend, ergründet Maak in seinem Werkzyklus Ground Truthing (seit 2020) in einer künstlerischen Feldforschung in Island die Funktion von Vulkanen als Mittler im globalen Energiekreislauf. Indem er die Öffnung eines Kraters in Umkehrung des Maßstabs in eine affektiv-erotische Analogie zum menschlichen Anus setzt, verweist Maak auf die Verbindung und gegenseitige Abhängigkeit von Mensch und Natur und löst damit anthropozentrische (Macht-)Zuschreibungen im Motiv des Begehrens und der körperlichen Hinga­be auf.

Vulkane und Gletscher sind im globalen Energiekreislauf miteinander verbunden; die beschleunigte Eisschmelze – als Folge der vom Menschen verursachten Erderwärmung – wird laut Klima­for­scher*innen auch zu zunehmenden Vulkanausbrüchen führen. Die Videoinstallation Aletsch Negative (2019) von Laurence Bonvin dokumentiert in aneinandergereihten, hochaufgelösten Fotografien und begleitet von einer Tonspur aus Feldaufnahmen das Schmelzen des Aletsch, des größten Gletschers der Alpen. Formal an die poetische Bildsprache analoger Animationsfilme erinnernd, macht Aletsch Negative die Intensität und Beschleunigung des Schmelzprozesses durch die Vervielfachung und Illusion von Bewegung spürbar. Der Gletscher wird zu unserem Gegenüber und lässt uns das ökologische Abhängigkeitsverhältnis bewusst werden, das letztendlich zu seinem Verschwinden führt.

Double Exposure (25. 11. 2023 – 28. 1. 2024)
Als Doppelbelichtung wird in der analogen Fotografie ein mehrfach belichtetes Negativ bezeichnet. Die Mehrfachbelichtung entsteht dadurch, dass der Negativfilm versehentlich oder absichtlich nicht weitertransportiert wurde und dadurch bereits belichtetes Material erneut Licht ausgesetzt wird. So schreiben sich mehrere Spuren in das Negativ ein, deren Referenten zeitlich weit auseinanderliegen können. Das Bild der Doppelbelichtung dient im Kontext der Ausstellung Double Exposure als Metapher für erinnerungspolitische Prozesse, die, ausgehend von zufälligen Bildfunden oder gezielten Archivsichtungen, untersucht und transformiert werden. Was bedeutet es, sich einer Einschreibung nochmals auszusetzen? Vier sehr unterschiedliche künstlerische Praxen werden vor- und einander gegenübergestellt. Sie alle arbeiten mit individuellen Verfahren der visuellen (Wieder-)Einschreibung von unverfügbarer oder verdrängter Erfahrung und reagieren auf diese Weise auf die mit den jeweiligen Medien verbundenen Dispositive und Ästhetiken der Aufzeichnung.

Im Zuge des Diskurses um die Restitution von Kulturgütern und die Neuausrichtung europäischer Sammlungsinstitutionen untersucht Sara-Lena Maierhofer in ihrem Werkzyklus Kabinette (2018–2019) die Rolle der Fotografie als archivierendes Medium, das historisch eng mit dem kolonialen Blick verwoben ist. Wie lässt sich vor diesem Hintergrund die eigene, von einer weißen europäischen Perspektive geprägte Praxis dekolonisieren? Durch die Verlagerung dokumentarischer Verfahren in die fotografische Dunkelkammer, wo die Künstlerin den Blick in das Museumsdepot durch Direktbelichtungen auf unterschiedlichen Materialien reinszeniert, setzt Maierhofer einen Reflexionsprozess über Fragen der Dokumentation und der Auswertung von (kolonialen) Archiven in Gang.

Die Auseinandersetzung mit den komplexen, transnationalen politischen Verstrickungen des Kolonialismus und dessen traumatischen Auswirkungen auf (Familien-)Biografien bildet den Ausgangspunkt von Sim Chi Yins multimedialer Praxis. Ausgelöst durch Nachforschungen über ihren Großvater, der 1949 von den britischen Kolonialbehörden nach China deportiert und dort ermordet wurde, recherchierte die Künstlerin über zehn Jahre zum malaysischen Antikolonialkrieg (1948–1960). Die Geschichte der Deportation und die komplexe Diaspora-Bewegung zwischen China und Südostasien werden in dem Zwei-Kanal-Film The Mountain That Hid (2022) verwoben. The Suitcase Is A Little Bit Rotten (2023) ist eine künstlerische Intervention in ein koloniales Bildarchiv. Als Grundlage für die Arbeit dienten der Künstlerin gefundene Laterna-Magica-Glasdiapositive aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, mit denen im Britischen Königreich für die Kolonie Malaya geworben wurde. Indem Sim ihren Großvater und ihr Kind als kaum wahrnehmbare Details in die Glasdiapositive einfügt, subjektiviert sie den in der kolonialen Projektion angelegten objektivierenden Blick und erweitert den fotografisch vermittelten generationsübergreifenden Prozess der Erinnerungsarbeit.

Rebekka Bauers Mixed-Media-Installation Die Aufstellung (seit 2020) bringt Hunderte selbstgefertigte Metallobjekte aus dem Nachlass ihres Großvaters und eine Sammlung privater Fotografien aus der Zeit des Nationalsozialismus mit Familienfotos aus unterschiedlichen Jahrzehnten zusammen. Die Aufstellung ist eine sich je nach Ausstellungskontext verändernde Versuchsanordnung, mit der die Künstlerin sich zu der historisch und psychologisch komplexen Hinterlassenschaft ihres Großvaters in Beziehung setzt. Durch Verfahren der Positionierung und Montage sucht die Installation nach Hinweisen, wie sich unverarbeitete (Gewalt-)Geschichte durch Familienbiografien zieht und wie sie auf Körper und Beziehungen einwirkt. Als raumbezogene Installation nimmt Die Aufstellung Kontakt zu Arbeiten des ersten Ausstellungsteils auf und sucht in der Überlagerung von Spuren anderer Körper nach Verbindungen von Erzählsträngen.

In einer gemeinsamen künstlerischen Recherchearbeit verbinden Oliver Husain und Kerstin Schroedinger Materialexperimen­te, historische Forschung und Performance miteinander zu der Mehrkanal-Installation DNCB (2021). Die Chemikalie Dinitrochlorbenzol, zur Farbentwicklung in Fotolaboren eingesetzt, wurde in den 1980er-Jahren während der AIDS-Krise von Ärzt*innen und Patient*innen in San Francisco als alternative Behandlungsmethode für das Kaposi-Sarkom entdeckt und in riskanten Selbstversuchen direkt auf die Haut aufgetragen. In ihrer Videoinstallation ziehen die Künstler*innen Parallelen zwischen Haut- und Filmoberfläche, zwischen Farbentwicklung, Ausgesetztsein, Vergiftung und Heilung, zwischen Selbstmedikation und unabhängigen Filmentwicklungslaboren. Auf diese Weise macht DNCB eine wenig bekannte Forschungs- und Bewegungsgeschichte sichtbar, die auf besondere Weise mit der Geschichte der analogen Fotografie verbunden ist.
Die vier Projekte des Ausstellungsteils Double Exposure ziehen, auch räumlich betrachtet, eine zweite Reflexionsebene in die Ausstellung ein. Auf diese Weise kommentieren und ergänzen sie die Arbeiten des ersten Teils, zeigen blinde Flecken auf. In der Gegenüberstellung und Überlagerung entsteht ein neuer Bildraum – der auch als Reflexion über das Ausstellen (exposing) fotografischer Positionen verstanden werden kann.

Anna Voswinckel

1 Anna-Kaisa Rastenberger and Iris Sikking, Why Exhibit? Positions on Exhibiting Photographies (Amsterdam: Fw: Books, 2018), p. 8.
2 Roland Barthes, Camera Lucida (London: Flamingo, 1984), p. 110.
3 William Henry Fox Talbot, The Pencil of Nature (New York: Da Capo Press, 1969), p. 27.
4 Nadar, My Life as a Photographer, quoted in Rosalind Krauss, “Tracing Nadar,” October, Vol. 5, Photography (summer 1978), pp. 29–47.
5 Diedrich Diederichsen, Körpertreffer: Zur Ästhetik der nachpopulären Künste (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2017), p. 9 (transl. A. S.).
6 Jonathan Beller, “Camera Obscura After All: The Racist Writing with Light,” in: The Scholar and Feminist Online, issue 10.3 (Feminist Media Theory. Iterations of Social Difference), summer 2012.
7 Steffen Siegel, Belichtungen: Zur fotografischen Gegenwart (Munich: Wilhelm Fink, 2014), p. 9 (transl. A. S.).

 

Bildmaterial

Die honorarfreie Veröffentlichung ist nur in Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Ausstellung und die Publikation gestattet. Wir ersuchen Sie die Fotografien vollständig und nicht in Ausschnitten wiederzugeben. Bildtitel als Download unter dem entsprechenden Link.

/