Presseinformationen
Heidi Specker: Fotografie
Infos
Hrsg. von Reinhard Braun.
Anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Camera Austria, Graz, 14.7. – 26.8.2018.
Mit einem Textbeitrag von Reinhard Braun und Heidi Specker (ger./eng.).
Edition Camera Austria, Graz 2018.
32 Seiten, 13 × 21 cm, 20 Farbabbildungen.
€ 10,– / ISBN 978-3-902911-45-2
Pressedownloads
Pressetext
Auszug aus: Reinhard Braun, Heidi Specker »Vom Gemeinsam-Sein der Bilder«
Auf die Frage »Woraus besteht die Stadt?«, »antwortet« Heidi Specker 1998 mit der Serie »TEILCHENTHEORIE«, mit Details von architektonischen Oberflächen Berliner Architektur, mit einem Herauslösen von wiederkehrenden Fassadendekors aus deren ursprünglichem architektonischen Mit- und Durcheinander, wodurch diese Details freigesetzt, anders, nutzlos, ortlos, schön, aber auch abstrakt und zugleich anti-sozial wie ein-fühlend, mitfühlend werden. Die Frage nach einer Gesamtheit wird mit ihrer Auflösung beantwortet, mit einer Theorie der Teile. Die Stadt besteht aus Oberflächen, man kann sie ansehen oder ignorieren, man kann den Gestaltungswillen wahrnehmen oder auch nicht, wie die Baulücken. Es ist etwas zu sehen oder auch nicht. Damals wie 30 Jahre später. Eine Typologie entstand, die aufgrund der mittlerweile auf den Weg gebrachten Renovierungen wahrscheinlich schon wieder am Verschwinden ist, die dennoch ihre Gültigkeit behält. Heute erzeugt die Serie keine Nostalgie, obwohl sie doch auch in gewisser Weise eine Bestandsaufnahme einer Vergangenheit darstellt, der Geschichte einer Stadt, die wie kaum die einer anderen mit ihrer Architektur verknüpft ist. Diese Bestandsaufnahme ist nach wie vor zugleich subjektiv und objektiv, zugleich schön und abstoßend, zugleich rekonstruierend wie utopisch.
Im Jahr 1934 hält Walter Benjamin einen Vortrag am Pariser Institut zum Studium des Faschismus, der unter dem Titel »Der Autor als Produzent« veröffentlicht wurde. In diesem Vortrag sagte Benjamin: »Sie [die Fotografie der Neuen Sachlichkeit] wird immer nuancierter, immer moderner, und das Ergebnis ist, daß sie keine Mietskaserne, keinen Müllhaufen mehr photographieren kann, ohne ihn zu verklären. Geschweige denn, daß sie imstande wäre, über ein Stauwerk oder eine Kabelfabrik etwas anderes auszusagen als dies: die Welt ist schön. […] Es ist ihr nämlich gelungen, auch noch das Elend, indem sie es auf modisch perfektionierte Weise auffaßte, zum Gegenstand des Genusses zu machen.«¹
»TEILCHENTHEORIE« führt ein Verfahren ein, führt ein Verfahren vor, das sich fragil, flüchtig, umkämpft, ungewiss und doch manifest an einer Grenze zwischen Poesie und Nüchternheit bewegt. Und dieses Verfahren spricht anders über die Welt als in ihrer Verklärung, selbst dann, wenn die Bilder schön sind, oder vielleicht gerade dann, wenn sie schön sind, weil sie schön sind, indem sie auch subversiv sind, weil sie teilen, aufteilen, das Ganze – die Welt, die Stadt – zurückweisen, aus dem Blick nehmen und aus dem Blick bringen. »TEILCHENTHEORIE« ist jedenfalls, das kann ohne Gefahr behauptet werden, nicht-repräsentativ, die Teile stehen nicht für das Ganze, die Teile sind eben die Teile, sie werden ins Licht gerückt, erhalten ihre Aufmerksamkeit, jeder Teil für sich genommen, ohne Hierarchie, ein Block an Bildern, ein Gemeinsam-Sein von Bildern – eine Gemeinschaft von Bildern?
15 Jahre nach »TEILCHENTHEORIE« fotografiert Heidi Specker für ihr Buch THREE WOMEN auf einer gemeinsamen Reise eine Freundin, die ein blau-rotes Kopftuch mit weißen Blumen trägt, es ist fast nur dieses Kopftuch zu sehen, fast nur dieses weiße Blumenmuster – Gänseblümchen – auf blauem und rotem Grund, die Andeutung einer Brille, Stirnhaar, das sich im Wind bewegt, Sonne, eine Treppe im Hintergrund – am Meer? Eine Burg? Doch eigentlich ist dies nicht von Bedeutung, es ist das Kopftuch, das den Blick und das Bild einfängt. »Jene Schönheit oder jenen Ge-danken, die vom Bild nur deshalb aufbewahrt werden, weil sie nur im Bild existieren, weil das Bild sie geschaffen hat.«² Das Kopftuch selbst wird zu einer Oberfläche, die sich allem überblendet, die sich allem vorblendet, die alle Bedeutung abzieht und anzieht, ein Ornament, ein Dekor, das sich ei-nem möglicherweise unvergesslichen Moment einschreibt, oder dem sich ein möglicherweise unvergesslicher Moment eingeschrieben hat, oder der als solcher erscheint, weil die Fotografie ihn diesem Moment zugeschrieben und eingeschrieben hat – eine Oberfläche wie die einer Architektur, wie das Dekor einer Architektur, zugleich schön, wiederkehrend, einzig-artig und banal, strukturierend und zufällig, konstruktiv und flüchtig. Das Kopftuch, die Frau und die Sonne und vielleicht mehr noch, als die Fotografin sehen konnte oder wirklich gesehen hat und doch sehr wohl gesehen hat. Das Bild kommt zusammen, es kommt zusammen, was zusammen kommen kann, um ein Bild zu ergeben, es kommt zusammen, was von der Fotografin hervorgebracht, aber von ihr nicht vollständig kontrolliert werden kann. Eine fragile Begegnung, eine Wahrnehmung, von Unsicherheit, oder besser: von Vorsicht oder Behutsamkeit gekennzeichnet, vielleicht sogar von Respekt (eine anachronistische Idee, vielleicht, aus der Zeit gefallen, doch fällt nicht die Fotografie selbst beständig aus der Zeit, durchstößt die Zeit, um etwas in uns zu aktivieren, zu dem wir keine andere Beziehung haben außer jener, die das fotografische Bild hervorruft?). »Berühre mich mit einer wahren, zurückhaltenden, nicht Besitz ergreifenden Berührung.«³ Doch diese Berührung ereignet sich nicht völlig zufällig, sie wird erst von der Fotografie in Szene gesetzt, die eine Praxis der Fotografin verkörpert.
¹ Walter Benjamin, »Der Autor als Produzent«, in: ders., Der Autor als Produzent. Aufsätze zur Literatur, hrsg. v. Sven Kramer, Stuttgart: Reclam 2012, S. 228–249, hier S. 239.
² Gilles Deleuze, Unterhandlungen. 1972 – 1990, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 116.
³ Jean-Luc Nancy, Noli me tangere, Zürich: diaphanes 2008, S. 66.
Bildmaterial
Die honorarfreie Veröffentlichung ist nur in Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Ausstellung und die Publikation gestattet. Wir ersuchen Sie die Fotografien vollständig und nicht in Ausschnitten wiederzugeben. Bildtitel als Download unter dem entsprechenden Link.