Presseinformationen

Karina Nimmerfall
Indirect Interviews with Women

Infos

Pressevorbesichtigung
17.5.2018, 11:00

Eröffnung
18.5.2018, 18:00

Zeitraum
19.5.–1.7.2018

Öffnungszeiten
Di – So, 10:00 – 17:00

Kuratiert von
Reinhard Braun

Zur Ausstellung erscheint eine gleichnamige Publikation in der Edition Camera Austria.

Die Ausstellung findet im Rahmen von Architektursommer 2018 statt.

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Pressetext

Die Abdankung Eduards VIII. im Jahr 1936 aufgrund seines Wunsches, die Amerikanerin Wallis Simpson zu heiraten, löste in Großbritannien eine veritable Verfassungskrise aus, begleitet von einem anschließenden Misstrauen gegenüber der britischen Presse, die die Nachricht in einer Art Selbstzensur bis zum Tag der Abdankung selbst zurückhielt, obwohl seit Längerem Gerüchte darüber kursierten. Die Eheschließung mit einer Bürgerlichen und die daraus resultierende Debatte warf ein Licht auf Vorurteile und Mythen in Bezug auf das Verhältnis der Bevölkerung zur königlichen Familie. Im Rahmen dieser Debatte wurde evident, dass die britische Soziologie so gut wie nichts über die Wünsche, Ängste und Einstellungen der Bevölkerung wusste. In diesem Klima schrieb der Schriftsteller und Journalist Charles Madge in einem Brief an die Zeitung New Statesman, dass es bereits ein Projekt zur Anthropologie der britischen Gesellschaft gäbe – eine Gruppe von Künstlern, Schriftstellern und Dokumentarfilmern aus London habe bereits eine Organisation ins Leben gerufen, die eine neue Wissenschaft »of ourselves« begründen soll: Mass Observation. Das Projekt gründete auf dem Eindruck einer selbstgefälligen Presse und einer an den Bedürfnissen der Arbeiterklasse uninteressierten Politik. Doch die Arbeit von Mass Observation war von Anfang an umstritten, bereits 1937 erschien in The Spectator ein Artikel, in dem es hieß: »Scientifically, they’re about as valuable as a chimpanzees tea party at the zoo.« Mit Kriegsbeginn demonstrierte Mass Observation allerdings ihre Expertise mit dem 1940 erschienenen Buch War Begins at Home, in dem sie die ersten vier Monate des Krieges dokumentierten: die Auswirkungen der Stromausfälle, Neurosen wegen der Luftangriffe, die Beschwichtigungen der Verwaltung und der Politik, Klassenkonflikte während der Evakuierungen. Zu dieser Zeit arbeitete Mass Observation für das Informationsministerium, was unter anderem auch dokumentiert, dass sich um 1940 die Verbindungen zur Kunst und Literatur bereits weitgehend aufgelöst hatten, obwohl das Projekt im Zusammenhang mit dem britischen Dokumentarismus, insbesondere des Dokumentarfilms, der 1930er Jahre zu sehen ist, für den John Grierson als bekanntester Filmemacher zu nennen ist. Mass Observation entsteht somit in einer Zeit der späten Moderne, die von einem großen Interesse an der Verbindung von Kunst und Wirklichkeit gekennzeichnet ist und in der ein neues Interesse am Alltag festzustellen ist.

Karina Nimmerfall hat für ihr Projekt »Indirect Interviews with Women« Material aus dem Archiv von Mass Observation an der Universität Sussex recherchiert, das ebenfalls während der Kriegszeit, 1941, entstanden ist, die Zeit der Bombardierungen Londons. Ihr Interesse gilt einer Befragung von Frauen im Hinblick auf deren Einschätzung ihrer damals aktuellen Wohnsituation und ihrer Wünsche an den Wohnbau der Nachkriegszeit. Mit Fragen von Architektur und Wohnbau beschäftigt sich die in Köln und Berlin lebende österreichische Künstlerin schon seit Längerem: Bereits 2015 erschien in der Edition Camera Austria ihr Buch 1953. Possible Scenarios of a Discontinued Future über Richard Neutras und Robert Alexanders Masterplan für eine neue, modernistische Sozialutopie – eine Stadt in der Stadt für 17 000 BewohnerInnen im nordwestlich von Downtown Los Angeles gelegenen Viertel Chavez Ravine. Das Projekt wurde nie realisiert, nachdem es einen von privaten Bauunternehmen, ImmobilienlobbyistInnen und Medien angezettelten lokalen Wohnbaukrieg hervorrief. Der mittels antikommunistischer Hysterie und Propaganda geführte Lokalkrieg wirkte sich schließlich auf Wohnbauprogramme in den gesamten USA aus und markierte dementsprechend einen Wendepunkt im landesweiten Wohnbau und in der Stadtentwicklung. Bereits in diesem Projekt untersuchte Nimmerfall den Zusammenhang zwischen bestimmten historischen Utopien und unserer Gegenwart, die als eine Zeit nach der Geschichte beschrieben wurde, in der Utopien bestenfalls als gescheitert erachtet werden und eine um sich greifende rechtspopulistische Politik die Zeit zurückdrehen und emanzipatorische Errungenschaften – etwa der 1968er-Bewegung – rückbauen möchte. Karina Nimmerfall setzt ihre Befragung gesellschaftlicher Entwürfe, deren Geschichte, deren (herbeigeführten) Scheiterns somit in ein Spannungsverhältnis mit einer Gegenwart, die sich als alternativlos versteht und Kritik sowie Gegenentwürfe ins Reich sentimentaler Naivität zu verbannen trachtet.

In »Indirect Interviews with Women« werden Transkripte von originalen Interviews mit allen aktuellen Korrekturen, Ergänzungen, Kommentaren und Notizen in Verbindung mit Aufnahmen in denjenigen Stadtteilen und Wohnanlagen Londons kombiniert, in denen die Interviews ursprünglich stattfanden und die diese Gebäude in der Gegenwart zeigen. »Possible Scenarios of a Discontinued Future« könnte auch der Untertitel dieser Arbeit sein: Sie konfrontiert einen Ausschnitt einer historischen Wirklichkeit mit einer Gegenwart, wobei diese Zueinander-, oder vielleicht besser: Gegeneinanderstellung, einen großen Zeitraum ausspart und viele diskontinuierlich verlaufende Veränderungen des Denkens, des Lebensstils, von Wohlstand und Armut, von Technologie und Körperbildern, etc. etc. ausspart. Im Grunde genommen besteht die Arbeit, sosehr sie auf einer umfangreichen Recherche beruht, aus einer wohlkalkulierten Leerstelle, die wir als BetrachterInnen der insgesamt 65 Arbeiten zu füllen haben.

Woran erinnern uns die Aussagen der Frauen in diesen Interviews? Teilen wir noch irgendwelche Träume mit ihnen? Finden wir ähnliche aktuelle soziale Spannungen angesprochen? Welches Geschlechterverhältnis ist den Aussagen der Frauen inhärent? Denn, das muss erwähnt werden, diese werden hauptsächlich über ihr Verhältnis zum Führen des Haushalts, ihre Wünsche nach Wohnraum für die Familie – Haus oder Wohnung –, Garten usw. befragt. Überdeutlich spricht daraus die primäre Verortung von Frauen im Haushalt, im Privaten. Einer der Fragebögen beinhaltet zwar die Fragen: »Do you go out to work?« bzw. »Would you rather go out to work or not, if you could choose?« — welche durchaus auf den Wunsch der Frauen abzielen, nicht nur Hausarbeit zu leisten. Allerdings wird diese Frage dennoch meist mit »No« beantwortet, das heißt berufstätig zu sein wird nicht oder kaum als Option ihres Lebensentwurfs erkannt. Aus den Antworten über ihre Wünsche nach zukünftigen Wohnformen spricht durchwegs ein Skeptizismus gegenüber der Moderne, vor allem aber gegenüber der Vorstellung, dass die Regierung diese Wünsche ernsthaft in Erwägung ziehen könnte. Ein unüberbrückbarer Abstand zwischen den britischen Frauen Anfang der 1940er Jahre und der Politik jener Zeit ist spürbar: Sie sehen für sich selbst im Grunde keinen Ort in der Politik, nicht, was ihre Wahrnehmung betrifft, aber auch nicht, was ihre aktuelle Mitbestimmung dieser Politik angehen könnte.

Welche kulturellen, ideologischen und politischen Ideen und Visionen füllen den Raum und die Zeit zwischen den Interviews und den Fotografien – ausgehend von der Perspektive einer Gegenwart, in der Volksbegehren für den Nichtraucherschutz bei Weitem mehr UnterzeichnerInnen haben als jene für die Gleichstellung der Frau in unserer Gesellschaft? Verführt uns das Projekt von Karina Nimmerfall nicht geradezu zu solchen Vergleichen unserer Alltäglichkeit mit jener historischen, zu einer Rekapitulation der Revolten der Alltäglichkeit gegen die Ignoranz der Politik, die zu dem Slogan geführt hatte, alles sei politisch? Wie hätten die Fragen der InterviewerInnen in den 1970er Jahren ausgesehen? Worauf würden sie heute zielen?

Mass Observation wurde bis in die frühen 1950er Jahre fortgeführt, dann wieder seit 1981 bis in die Gegenwart. Manche Fragen ließen sich also aus dem weiteren Archivbestand abklären, soweit sie Großbritannien betreffen. Doch gilt das Interesse Nimmerfalls nicht einer Nacherzählung, sondern einer Konfrontation, erweist sich das Projekt als eine Montage. »Nun gibt es aber im strengen Sinn weder vollständige Verwandlungen noch absolute Tatsachen. Man muss also ›Experimentierbedingungen‹ schaffen, um den nicht-idealen Charakter der Historie, das heißt die grundlegende Unreinheit – die Unvollständigkeit, die ›Widersprüchlichkeit‹, den konflikt- und lückenhaften Charakter – aller historischer Wandlungen zu zeigen.« (Georges Didi-Huberman) Ihre eigene Praxis als fotografierende Künstlerin im Zusammenhang mit den historischen Aussagen von Frauen in London des Jahres 1941 schafft einen solchen Experimentierraum, der die Unvollständigkeit und die Widersprüchlichkeit der historischen Wandlungen vor Augen führt. »Keine politische Macht ohne Kontrolle des Archivs, wenn nicht gar des Gedächtnisses. Die wirkliche Demokratisierung bemisst sich stets an diesem essentiellen Kriterium: an der Partizipation am und dem Zugang zum Archiv, zu seiner Konstitution und seiner Interpretation.« (Jacques Derrida) Karina Nimmerfall verknüpft die Konstitution der (Lücken der) Geschichte mit einer Frage nach der Rekonstruktionsmöglichkeit aus dem Archiv, und, nicht zu vergessen, mit ihrer künstlerischen Praxis. Ihre Bilder sprechen ebenso, in anderer Weise, von einem Zustand des Wohnbaus, der Stadtplanung, der Stadtentwicklung, unübersehbar sind ihren – durchwegs menschenleeren – Aufnahmen Zeichen von Wohlstand oder Niedergang eingeschrieben. Die fehlenden Menschen in ihren Bildern sind die interviewten Frauen, die wir uns – imaginär – in die Bilder montieren können (sollen?): Dadurch entsteht ein nahezu dialektisches Bild: »Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild. Es ist die Zäsur in der Denkbewegung. Ihre Stelle ist natürlich keine beliebige. Sie ist […] da zu suchen, wo die Spannung zwischen den dialektischen Gegensätzen am größten ist.« (Walter Benjamin) Sind es nicht solche – größtmöglich denkbaren – Gegensätze, die Nimmerfall in ihren Tableaus für uns arrangiert, um das Denken zu einem Stillstand zu bringen, in dem Sinn, dass es beständig das eine durch das andere erklären möchte? Doch die Montagen in »Indirect Interviews with Women« erklären nicht, sie spannen Zeit und Raum als Widersprüche auf, als eine Kollision, als einen Konflikt, der nicht aufgelöst werden kann. Mit Bertolt Brecht könnte man davon sprechen, dass die Wirkung ihrer Arbeit, wie die jeder Montage, darin besteht, die Botschaft, die sie vermeintlich transportiert, in eine Krise zu stürzen. Um welche, um wessen Krise aber handelt es sich?

Das 20. Jahrhundert ist, nach Alain Badiou, Zeuge einer tiefen Mutation der Frage des »Wir«, nach Gemeinsamkeit, nach Gemeinschaft, ein Jahrhundert, in dem, wie André Malraux sagte, die Politik zur Tragödie geworden ist, ein Jahrhundert der Passion des Realen, ein Jahrhundert, das unter dem Paradigma des Krieges stehen sollte, ein Jahrhundert der Produktion des Neuen, ein Jahrhundert der Irrfahrt, »eine Heimkehr, die vor der Irrfahrt als Rückweg noch nicht existierte« (Alain Badiou), ein Jahrhundert, das in der Herrschaft eines künstlichen Individualismus endete.

»Inv. ›How do you feel about housework?‹
F 40 ›I don’t know.‹
Inv. ›Which parts do you like best?‹
F 40 ›I don’t know.‹
Inv. ›Which parts do you like least?‹
F 40 ›I don’t know.‹«
Diese 40-jährige Frau entzieht sich dem Interview beinahe durchgehend mit ihrer Antwort »I don’t know.« In welcher Weise ist sie dennoch Teil des Archivs, Teil der Geschichte, Teil einer Irrfahrt, einer Suche, einer Tragödie, die sie nicht benennt, indem sie sich einer Antwort entzieht, die sie aber aufblitzen lässt, indem sie einen Raum entwirft, in den alles Mögliche hineininterpretiert werden kann, der für unzählige denkbare Antworten offen bleibt, der ebenso unzählige Optionen und Spekulationen eröffnet. Die Passion des Archivs selbst als auch die Passion am Realen wird in dieser Haltung der Abwehr oder der Gleichgültigkeit gewissermaßen außer Kraft gesetzt. Nimmt sie damit vorweg, dass diese Interviews dem Archiv eine seiner möglichen Zukünfte entgegenstellen, die es selbst niemals imaginieren konnte oder die sich aus dem Archiv selbst nicht imaginieren ließ? Bedeutet dies nicht, diese Passionen in eine Krise zu stürzen, die Heimkehr nicht vorwegzunehmen, sondern die weitere Irrfahrt anzudeuten, die das Jahrhundert nehmen wird? Noch sind die Konzentrationslager nicht befreit. Noch sind so viele Millionen Menschen dieses Jahrhunderts nicht gestorben. Es ist mitunter schwer, die Zäsur, die Brüche, Spaltungen, die Zerrissenheit, die Nimmerfall im Abstand zwischen ihren Bildern der Gegenwart und den Stimmen einer Vergangenheit, einer ganz bestimmten Vergangenheit, für uns offen lässt, nicht mit dieser Dunkelheit zu füllen, die die Irrfahrten und die Passionen des 20. Jahrhunderts durchquert haben.

Reinhard Braun

Karina Nimmerfall ist bildende Künstlerin und Professorin für disziplinüberschreitende künstlerisch-mediale Praxis und Theorie am Institut für Kunst und Kunsttheorie der Universität zu Köln (DE). Sie arbeitet vor allem zum Verhältnis von Architektur, urbanem Raum und Medien sowie deren Bedingungen innerhalb von kulturellen, politischen und ideologischen Repräsentationen; zahlreiche Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen, unter anderem MAK Center for Art and Architecture, Los Angeles (US); Kunsthaus, Graz (AT); BAWAG Contemporary, Wien (AT); Kasseler Kunstverein (DE); Göteborgs Konsthall (SE); Landesgalerie Linz (AT); Bukarest Biennale 3 (RO) und 8. Havanna Biennale (CU).

Bildmaterial

Die honorarfreie Veröffentlichung ist nur in Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Ausstellung und die Publikation gestattet. Wir ersuchen Sie die Fotografien vollständig und nicht in Ausschnitten wiederzugeben. Bildtitel als Download unter dem entsprechenden Link.

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