Presseinformationen

Paul Albert Leitner’s Photographic World
(over 4 decades of obsession and more . . .)

Infos

Pressevorbesichtigung
13.6.2025, 10:00

Eröffnung
13.6.2025, 18:00

Filmscreening und Gespräch
mit Paul Albert Leitner
1.7.2025

Zeitraum

14.6.–17.8.2025

Kuratiert von Christina Töpfer in Kollaboration mit Paul Albert Leitner

 

Pressetext

»Paul Albert Leitner’s Photographic World« könnte auch der Name eines sehr speziellen, kenntnisreich sortierten Fotogeschäfts sein, wie es nur mehr wenige gibt. Eine nicht abwegige Assoziation, wenn man bedenkt, dass Paul Albert Leitner in den mittlerweile mehr als 40 Jahren seines fotografischen Schaffens eine eigene Marke etabliert hat, die einem rigoros analogen Zugang zur Welt verpflichtet ist und deren bester (und einziger) Vertreter der Künstler selbst ist, wenn er sich – bisweilen für seine ikonischen Selbstporträts in seinen »Fotoanzug« gekleidet – in den »Außendienst« begibt. Zentrales Element dieser Erschließungs- und Repräsentationstätigkeit im Außen ist das langsame und genaue Erkunden seiner Umgebung, der aufmerksame Blick auf städtische Umgebungen, aber auch auf scheinbar beiläufige Details, wie sie dem Flaneur Leitner überall auf der Welt begegnen.

Schon 1998 schrieb er in seinem Künstlerbuch Kunst und Leben. Ein Roman: »Die ganze Welt ist ein Bild. Das Universum der Bilder ist in uns und um uns herum. […] Die Bilder sind Welten, eigene Welten der Erfindung wie auch der Realität. Dazwischen geschaltet ist das jeweilige ICH.« Dieser Zugang zur Welt, zum In-der-Welt-Sein und zu den die Welt konstituierenden und definierenden Bildern – stets im Verhältnis zum Selbst inmitten dieses Gefüges – ist das Thema, das die Ausstellung Paul Albert Leitner’s Photographic World umkreist. Die Vielfalt und Fülle der Exponate vermittelt dabei einen kaleidoskopischen Einblick in das Schaffen des Künstlers und kann doch nur einen Bruchteil seines umfassenden Werks, in dem Kunst und Leben nahtlos ineinander übergehen und das von einer kompromisslosen Zeitgenossenschaft geprägt ist, wiedergeben.

Die ebenfalls mit dem Ausstellungstitel ins Zentrum gerückte Obsession kann durchaus doppeldeutig gelesen werden: Es geht um die Leidenschaft des Künstlers für das Spazieren, Fotografieren, Sammeln und Gruppieren der in seinen Fotografien aufgegriffenen Themen und Motive, aber auch um die Leidenschaft für das Zeitunglesen, das in diesem Fall nicht nur das Rezipieren von Inhalten meint, sondern auch deren gleichermaßen scharfsinnige wie humorvolle Kontextualisierung und Fortschreibung. So ist es nur naheliegend, dass Leitner beim Lesen der Zeitung immer einen Kugelschreiber braucht, um parallel (mit-)schreiben zu können. Darüber hinaus geht es in seinem gesamten Schaffen auch um die Obsession und den Drang, sich der Welt aus- und mit ihr auseinanderzusetzen, wovon nicht nur seine Fotografien, sondern insbesondere auch die zahlreichen Collagearbeiten zeugen, die in der Ausstellung bei Camera Austria erstmals gezeigt werden.

In seinen Zeitungslektüren und -relektüren erweist Paul Albert Leitner sich als der Welt zugewandter, spitzfindiger Rezipient, der das Wahrgenommene teils lakonisch, teils ironisch kommentiert und in unerwartete Lesarten überführt. So ist er nicht nur Leser, sondern auch Redakteur und Autor, wenn er renommierten Tageszeitungen, vor allem aber kostenlosen Boulevardblättern entnommene Schlagzeilen und Bilder zu neuen, oftmals dadaistischen Wortcollagen, zu eigenen Werbebotschaften, komplexen Bildvergleichen, die nicht zuletzt an Aby Warburgs berühmten Bilderatlas Mnemosyne erinnern, oder zu spektakulär klingenden Schlagzeilen vermeintlicher Hintergrundgeschichten zusammenfügt. Durchaus kann es dabei vorkommen, dass unter dem Titel »Aufgedeckt« einander widersprechende Schlagzeilen zu ein und demselben Ereignis gegenübergestellt werden.

Die Leidenschaft für den Boulevard, für faits divers – jene Geschichten von Verbrechen, Unfällen, tragischen Liebschaften und überraschenden Todesfällen, die Roland Barthes in seinem Essay »Structure du fait divers« (Essais critiques, 1964) als für den Tagesjournalismus charakteristisch beschrieb und in denen all das zusammenkommt, was sich keiner klaren Rubrik zuordnen lässt – und das Aneignen von Formen medialer Inszenierung ist nicht das einzige, das Leitner mit Pop-Art-Künstler Andy Warhol teilt. So verfolgte Letzterer Ähnliches in seinen Werkgruppen Headlines und Death and Disaster, die beide in den 1960er-Jahren entstanden. Zahlreiche weitere Referenzen auf Warhol lassen sich im Werk Leitners finden: so etwa die auf die Brillo Boxes (1964) verweisenden Bananenschachteln, die Leitner nicht nur als Aufbewahrungsort für seine akkurat sortierten Arbeitsprints oder unzählige gesammelte Zeitungsausschnitte dienen, sondern auch selbst zum signifikanten Fotoobjekt und Exponat werden. Bei Warhol wie Leitner ist die Beschäftigung mit Formen des Populären und der Massenkultur keineswegs als Parodie auf einen von Konsum und Medialisierung durchdrungenen Alltag zu verstehen; es geht auch darum, die dahinterstehenden Mechanismen des Spektakulären durch Aneignung offenzulegen und daraus eigene Narrative zu generieren.

Das Sammeln, Sezieren, lustvolle Interpretieren und Kontextualisieren der Gegenwart wird nicht zuletzt in dem 2020 begonnenen Langzeitprojekt Die Wellen kommen deutlich. Aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnittene Bilder von Meereswellen, Strandansichten, Nahaufnahmen überschäumender Gischt treffen hier auf sorgfältig aus diesen oder auch anderen Zeitungen ausgeschnittene Schlagzeilen, die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen thematisieren: »Abschiebungswelle«, »Beispiellose Pleitewelle im Handel«, »Datenschutz: Kommt Klagewelle auf Firmen zu«, »Faulheitswelle am Arbeitsmarkt?«. War das Thema zu Beginn der Serie mit der Entwicklung der Covid-19-Pandemie konnotiert (»Herbstwelle nimmt Fahrt auf, Tests nicht gratis«), versammelt Leitner hier ein ganzes Archiv von Wellenbewegungen, die die Verfasstheit der Welt seit 2020 dokumentieren und als assoziatives Zeitdokument gelesen werden können.

»Er sah die Großstadt als eine Bibliothek an, mit vielen tausenden Seiten, in denen man blättern konnte, wenn man wollte,« schreibt Paul Albert Leitner 1995 in Camera Austria über seine Serie Wien: Momente einer Stadt (1995–2006). Das Blättern in den vielen tausend Seiten der Stadt lässt sich auch auf die fotografische Auseinandersetzung des Künstlers mit der Welt sowie mit seinem Fotoarchiv übertragen. So zeigt sich der Bilderkosmos Leitners, sein überbordendes fotografisches Œuvre in Paul Albert Leitner’s Photographic World in der Zusammenschau von weltweit aufgenommenen Fotografien sowie in zahlreichen, auf Tischen verteilten Arbeitsprints und Notizen. Die in Petersburger Hängung angeordnete Auswahl von zwischen 1995 und 2016 entstandenen, gerahmten Fotografien lädt die Betrachter*innen ein, sich in die Themen, die Leitner seit Beginn seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit Fotografie Mitte der 1980er-Jahre faszinieren, zu begeben.

Dabei fällt auf, dass er sich als in der westösterreichischen Provinz Geborener mit Vorliebe in großen Städten aufhält und seine fotografische Welt die eines im wörtlichen Sinne Weltreisenden widerspiegelt: Aufnahmen aus Bangkok, Berlin, Havan­na, Isfahan, Katowice, Macao, Melbourne, Miami, Monte­video, New Orleans, Nischni Nowgorod, Peking, Shanghai, Tehe­ran, Tunis, Wien, Yazd und unzähligen anderen Städten reihen sich da aneinander. In den Fotografien wird rasch deutlich, dass es ihm nicht darum geht, für die jeweiligen Städte repräsentative Ansichten zu zeigen oder »perfekte« Architektur- oder Menschenporträts zu produzieren. Die Bewegungen Leitners, demzufolge »die beste Geschwindigkeit des Fotografen […] die Schrittgeschwindigkeit« ist, sind von dem schweifenden, sich treiben lassenden Blick des Flaneurs geprägt, dem sich an jeder Straßenecke wundersame Einblicke und Ansichten auftun – ganz gemäß dem berühmten Picasso-Zitat »Ich suche nicht – ich finde!«. »Nicht-Orte«, wie Marc Augé sie in seinem gleichnamigen Buch von 1992 definierte, also städtische Infrastrukturen und Architekturen des Dazwischen, in denen die Menschen sich eingerichtet haben und ihren Platz einnehmen, kunstvoll geschwungene Werbeschriften, gegen den strahlend blauen Himmel (Leitner bezeichnet sich selbst als »Schönwetterfotograf«) fotografierte Pflanzen in den leuchtendsten Farben oder anziehend blau in der Sonne strahlende Swimmingpools finden sich zahlreich in Leitners Fotografien. Und immer wieder Selbstporträts: nur mit einem Handtuch bekleidet als Akt posierend oder als Spiegel-Selfie avant la lettre im Hotelzimmer, im dandyesk, auch etwas aus der Zeit gefallen wirkenden hellgelben »Fotoanzug« vor einem chinesischen Tempel, im dunklen Anzug waghalsig zurückgelehnt auf zwei Steinen der altpersischen Ruinenstätte Persepolis, oder als Schatten des Fotografen am Grund eines Swimmingpools.

Die Referenzen in Leitners Bildern sind zahlreich, seine Leidenschaft für die europäische Kunst der Nachkriegszeit, für Pop Art und die amerikanische New Color Photography der 1970er- und 1980er-Jahre ist groß und so scheint es kein Zufall, dass in vielen seiner Aufnahmen Assoziationen zu anderen Künstlern durchscheinen – seien dies die Readymades von Marcel Duchamp, das Spätwerk Picassos, Lee Friedlanders Aufnahmen von Fernsehgeräten in Hotelzimmern (The Little Screens, 1963) oder seine Selbstporträts im Spiegel, die Ästhetik und Farbigkeit amerikanischer Alltagsszenen bei William Eggleston oder Stephen Shore, der nüchterne, »Deadpan Style« von Ed Ruschas Architekturfotografien, die inszenierten Selbstporträts von Gilbert und George… Je mehr man sich als Betrachter*in in Leitners Werk vertieft, umso mehr entfaltet sich seine »fotografische Welt« und sein obsessiver Drang, ihr noch mehr Bilder, noch mehr Assoziationen abzuringen – und hinzuzufügen.

Schon in den frühen Jahren seiner künstlerischen Tätigkeit definierte Leitner Themen, Motive und Kategorien, mittels derer er seine eingangs erwähnte »Außendiensttätigkeit« vorbereitet, aber auch bestrebt ist, im »Innendienst« sein viele tausend Fotografien umfassendes Archiv anhand dieser zu ordnen. Die im Ausstellungsraum von Camera Austria auf Tischen angeordneten, sorgfältig auf Tonkarton geklebten und mit der jeweiligen Filmrollen- und Bildnummer beschrifteten Arbeitsprints bieten einen kleinen Einblick in dieses Archiv. Sie machen aber auch deutlich, dass Leitners Unterfangen, das eigene Œuvre Typologien zu unterwerfen und eine Ordnung zu schaffen ebenso wie seine fotografischen Wanderungen immer wieder auf Ab- und Umwege führt, nachdem sich viele der in den Blick genommenen Motive (Street Life / Architecture / Signs & Advertisements; Hotel Rooms / Pools / Self-Portrait; Botanik) durchaus mehreren Kategorien zuordnen lassen und alle seiner Aufnahmen einem durch und durch subjektiv geprägten Blick folgen. In diesem Sinne wird das Archiv in gewisser Weise ad absurdum geführt, denn es geht Paul Albert Leitner trotz der gewissenhaften Zuordnung und durchaus möglichen Zuordenbarkeit seiner Bilder am Ende nicht um ein vergleichendes Sehen, wie es die wohl berühmtesten Vertreter*innen typologischer Fotografie, Bernd und Hilla Becher, verfolgten, sondern – womöglich nicht unähnlich zum Blättern in den »tausenden Seiten« der Stadt – um ein Immer-Wieder-Zurückkehren zum Material, um ein Entdecken und Wiederentdecken der Bilder und damit auch um eine Auseinandersetzung mit dem Selbst.

Ein weiteres zentrales Element im Werk Paul Albert Leitners bilden verschiedene Objekte, die aufs Engste mit seinen fotografischen Arbeiten verbunden sind und die oftmals assoziativ mit diesen in einen Dialog treten. Diese wortwörtlichen objets trouvés nehmen innerhalb von Leitners »photographic world« verschiedene Funktionen ein: Teils dienen sie als Inspirationsquelle und setzen Assoziationen in Gang, in anderen Fällen werden sie zu Motiven seiner Fotografien, symbolisieren dabei oft eine bestimmte, mit der Biografie des Künstlers verwobene Zeitlichkeit, wie etwa der 2016 in Tirol aufgenommene »Stuhl im alpenländischen Stil« oder seine Sammlung von Fotografien dysfunktionaler und weggeworfener Regenschirme in London. In anderen Arbeiten stehen die ihrem ursprünglichen Verwendungszusammenhang enthobenen Objekte als Readymades für sich, so etwa im Falle der schon erwähnten Bananenschachtel, eines aufgetürmten Zeitungsstapels mit Nachrichten zu Russlands Krieg gegen die Ukraine oder eines erst vor Kurzem in Innsbruck gefundenen alten Fahrradsattels.

Dabei ist Leitners Referenzsystem so komplex, oftmals von surrealen, dem Streifzug durch eine Wunderkammer gleichenden Assoziationsketten geprägt, dass der Fahrradsattel in der Ausstellung zusammen mit der Jahre zuvor in Potsdam aufgenommenen Fotografie eines Fahrradlenkers bei kunsthistorisch bewanderten Betrachter*innen durchaus Picassos späte Skulpturen in Erinnerung rufen mag. Doch ist diese nur eine von vielen möglichen Lesarten, die sich beim nächsten Sondieren des Archivs ganz anders gestalten kann. Und dies mag es auch sein, was Paul Albert Leitners Werk so faszinierend macht – die Offenheit und Begeisterungsfähigkeit für die ihn umgebende Welt und seine Rolle als Dokumentarist wie als »teilnehmender Zeitgenosse« darin: »Mein persönliches Interesse für die Fotografie ist genau dies: unendlich viele Blicke auf die Welt zu erhalten, die Welt als Erzählung in Bildern.«¹

¹ Paul Albert Leitner, »Wien. Momente einer Stadt«, in: ders.: Wien. Momente einer Stadt, Salzburg: Fotohof Edition 2006, S. 184–186.

Christina Töpfer

Paul Albert Leitner, geb. 1957 in Jenbach (AT), lebt und arbeitet in Wien (AT). In seinem Archiv verwaltet er über 80 000 Negative aus einem 40-jährigen Schaffen. Seine Arbeiten wurden in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen präsentiert, unter anderem in Wien, New York (US), Paris (FR), Peking (CN), Dakar (SN), Lagos (NG), sowie in Yazd, Esfahan und Teheran (alle IR) gezeigt. Darüber hinaus veröffentlichte er zahlreiche Künstlerbücher, zumeist in der Fotohof Edition, Salzburg (AT). 2010 erhielt Paul Albert Leitner den österreichischen Staatspreis für künstlerische Fotografie.

Bildmaterial

Die honorarfreie Veröffentlichung ist nur in Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Ausstellung und die Publikation gestattet. Wir ersuchen Sie die Fotografien vollständig und nicht in Ausschnitten wiederzugeben. Bildtitel als Download unter dem entsprechenden Link.

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