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Pierre Bourdieu, Images d’Algérie, 1957 – 1961.
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Pressetext
Der Austausch zwischen Camera Austria, der Fondation Bourdieu und dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu zwischen 2000 und 2002 mündete in ein weit reichendes Projekt: Pierre Bourdieu hat Camera Austria sein gesamtes Archiv von Fotografien, die während seiner Feldforschungsarbeiten in Algerien zwischen 1958 und 1961 entstanden sind und wie er sagt, sein frühestes und zugleich aktuellstes Werk darstellen, mit dem Ziel anvertraut, diese Fotografien in einer Ausstellung und Publikation erstmals der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In Zusammenarbeit mit Pierre Bourdieu (der zu Beginn des Jahres 2002 Jahres leider verstorben ist) und Franz Schultheis, Fondation Bourdieu, wurden die fotografischen Dokumente gesichtet und strukturiert und zu zeitgleich in Algerien entstandenen ethnographischen und soziologischen Studien in Beziehung gesetzt.
Diese Fotografien aus Algerien stellen zunächst wichtiges ethnographisches Primärmaterial dar, sollen also nicht losgelöst vom spezifischen Erkenntnisinteresse, das der Selektion der Motive, dem jeweiligen Blickwinkel, dem Einbezug des Kontextes und somit der Konstruktion des festzuhaltenden Gegenstandes selbst zugrunde lag, betrachtet und interpretiert werden, will man nicht einem ahistorischen ästhetischen Purismus huldigen und die kontextspezifische gesellschaftliche Bedeutung und politische Dimension dieser Bilder ignorieren. Diese sind schon von ihren Entstehungsbedingungen her »gerahmt« und datiert, stehen in einem klaren sozio-historischen Zusammenhang und zielen darauf ab, diesen in einer spezifischen Art und Weise zu dokumentieren bzw. in Bourdieus eigener Sprache: zu objektivieren.
Alle grundlegenden Themen der Bourdieu’schen Soziologie sind schon in diesem frühen Stadium präsent: Er fragt nach den unterschwelligen Regeln des Tauschs, nach der sozialen Einbindung des Wirtschaftens, dem Verhältnis von Zeitstrukturen und Rationalität, den symbolischen Ordnungen der Gesellschaft und Herrschaftsbeziehungen zwischen den Geschlechtern, Generationen und sozialen Klassen: Fragen also, die auch in seinen jüngsten Schriften erkenntnisleitend sind. Die Fotografien werden als »Achsenwerk« verstanden und dienen als Katalysatoren, verschiedene Themenkomplexe, die im theoretischen Werk Pierre Bourdieus angelegt sind, herauszuarbeiten.
Die nun erstmals um ihre fotografische Komponente ergänzten wegweisenden Feldforschungen Bourdieus bieten Einblick in den Status nascendi der Bourdieu’schen Soziologie. Neben dieser werkgeschichtlichen Dimension bleibt den Fotografien Bourdieus aber auch der Charakter eines beeindruckenden sozio-historischen Dokuments. Sie zeugen von einer gesellschaftlichen Welt voller Ungleichzeitigkeiten, deren Menschen auch heute noch nicht ihre Heimatlosigkeit und Entwurzelung – eine Entfremdung gegenüber Tradition und Moderne zugleich – überwunden haben. Vielleicht liegt die hier zum Ausdruck kommende Tragik Algeriens ja gerade darin, dass sie auch nach vier Jahrzehnten nichts an Aktualität und Realismus eingebüßt haben.
»Den verstehenden Blick des Ethnologen, mit dem ich Algerien betrachtet habe, konnte ich auch auf mich selbst anwenden, auf die Menschen aus meiner Heimat, auf meine Eltern, die Aussprache meines Vaters und meiner Mutter, und mir das alles so auf eine völlig undramatische Weise wiederaneignen, denn hier liegt eines der großen Probleme entwurzelter Intellektueller, welchen oft nur die Wahl zwischen Populismus und verschämter Selbstverleugnung (als Reaktion auf die symbolische Gewalt der Klassengesellschaft) zu bleiben scheint. Ich bin diesen Menschen, die den Kabylen sehr ähnlich sind und mit denen ich meine Kindheit verbracht habe, mit dem Blick des Verstehens begegnet, der für die Ethnologie zwingend ist und sie als wissenschaftliche Disziplin definiert. Die Fotografie, die ich zunächst in Algerien und dann im Béarn betrieb, hat als Begleiterin auf diesem Weg zweifellos viel zu dieser Konversion des Blickes beigetragen, die eine wahre – und ich glaube, das Wort ist nicht zu stark – Sinnesänderung voraussetzte. Denn die Fotografie ist Ausdruck der Distanz des Beobachters, der Daten speichert und sich dabei immer bewusst bleibt, dass er Daten speichert (was in so familiären Situationen wie der eines Dorfballes nicht immer einfach ist), aber zugleich setzt die Fotografie auch Vertrautheit, eine Aufmerksamkeit und Sensibilität selbst für kaum wahrnehmbare Details voraus, Details, die der Beobachter nur durch eben diese Vertrautheit unmittelbar zu verstehen und zu interpretieren vermag, eine Sensibilität für das unendlich kleine Detail einer Situation, das selbst dem aufmerksamsten Ethnologen zumeist entgeht. Die Fotografie ist aber auch eng verwoben mit dem Verhältnis, das ich zu jedem Zeitpunkt zu meinem Gegenstand unterhalten habe, und ich habe keinen einzigen Augenblick lang vergessen, dass es sich dabei um Menschen handelte, Menschen, denen ich mit einem Blick begegnet bin, den ich – auch wenn ich befürchte, mich dadurch lächerlich zu machen – als liebevoll, ja als oft gerührt bezeichnen möchte.«
(Pierre Bourdieu im Gespräch mit Franz Schultheis. In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung, S. 11)
Bildmaterial
Die honorarfreie Veröffentlichung ist nur in Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Ausstellung und die Publikation gestattet. Wir ersuchen Sie die Fotografien vollständig und nicht in Ausschnitten wiederzugeben. Bildtitel als Download unter dem entsprechenden Link.