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Pierre Bourdieu, Images d’Algérie, 1957 – 1961.
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Pressetext
In seinem ersten Buch Sociologie de l’Algérie (1958) nennt Pierre Bourdieu es als sein vorrangiges Ziel, Zeugnis von den tatsächlichen Vorgängen im Algerien zum Zeitpunkt des Befreiungskriegs der 1950er-Jahre zu geben: Im Versuch, die Krise der algerischen Gesellschaft als »gesellschaftliches Laboratorium« zu verstehen, entwickelt er das anthropologische und soziologische Instrumentarium für seine wissenschaftliche Arbeit – für die er, neben anderen Methoden, auch die Fotografie einsetzt. In seinen Untersuchungen und Dokumentationen widmet Bourdieu sich den tiefgreifenden Veränderungen und Auswirkungen der französischen Kolonialpolitik seit 1830: Die Zerstörung der den traditionellen Gesellschaften zugrundeliegenden Familienstrukturen und Solidaritäten führte zur sozialen und ökonomischen Entwurzelung. Zur Modernisierung und der Verdrängung traditioneller Lebensformen kommt während des Kolonialkriegs schließlich die systematische Deportation von Millionen aus den ländlichen Regionen in Umsiedlungslager und in die Abhängigkeit des Militärs, in den Städten herrscht Arbeitslosigkeit, die »Ökonomie des Elends« in den Bidonvilles wird eines der zentralen Themen Bourdieus. Seine Fotografien zeigen die Widersprüche und Brüche in dieser Gesellschaft von Entwurzelten, zeigen die gleichzeitig bestehenden Unterschiede, die im urbanen Raum aufeinandertreffen. Sie zeigen auch Bourdieus affektive Bindung an dieses Land, seinen Respekt für die Menschen und die Bemühungen um eine Rehabilitierung traditioneller Kulturen.
2001 hat Pierre Bourdieu sein Archiv von Fotografien (ca. 700 Negative, 140 Originalabzüge) sowie begleitende Aufzeichnungen, die während seiner Feldforschungsarbeiten in Algerien entstanden sind, Camera Austria anvertraut. Nachdem 2017 ein weiteres Konvolut von Originalmaterialien entdeckt worden war, wurde das Archiv 2019 vollständig neu digitalisiert. Dies ermöglicht es nun, einen Fundus von nahezu 1.200 fotografischen Aufnahmen, geordnet nach Archiv-Nummern, eingehend zu studieren. Das digitale Archiv umfasst derzeit 1.153 Objekte (1.003 Scans von Negativen, 150 Reproduktionen von Abzügen ohne Negativ).
In enger Zusammenarbeit mit der Fondation Bourdieu wurde das Archiv gesichert, strukturiert und kuratorisch wie auch editorisch betreut. 2003 wurde die Ausstellung In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung erst am Institut du Monde Arabe in Paris und zur Eröffnung des Eisernen Hauses am neuen Standort von Camera Austria in Graz gezeigt. Die Ausstellung ist seither weltweit in zahlreichen Übernahmen gezeigt worden. Das zeitgleich von Franz Schultheis und Christine Frisinghelli herausgegebene Buch ist bisher in neun Sprachen erschienen, eine Neuauflage der französischen Ausgabe Pierre Bourdieu. Images d’Algérie ist soeben bei Actes Sud erschienen.
Unsere Arbeit mit dem Archiv zielte zu jeder Zeit darauf ab, diesen besonderen, davor kaum bekannten Aspekt der Arbeit Pierre Bourdieus im Kontext seiner anthropologischen und soziologischen Forschungen zu Algerien zu situieren, um dem gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Anspruch der Arbeiten gerecht zu werden. Gleichzeitig sollten die Fotografien in ihrer fotohistorischen Qualität gewürdigt werden.
Ab 2018 waren die Fondation Bourdieu und Camera Austria mit dem Centre Pompidou über einen Ankauf und die weitere Betreuung des Archivs im Gespräch, denn die Möglichkeit, die Originalfotografien und -dokumente langfristig in konservatorisch optimalen Verhältnissen unterzubringen ist bei Camera Austria nicht gegeben. Neben der fotohistorischen Arbeit des Museums würde auch die Zugänglichkeit der Materialien in der Bibliothèque Kandinsky für weitere Forschungen bedeutend erhöht werden. In einer ersten Ausstellung (kuratiert von Florian Ebner, Centre Pompidou, in Zusammenarabeit mit Christine Frisinghelli und Franz Schultheis) mit dem Titel Penser par l’expérience photographique. Pierre Bourdieu: Images d’Algérie / Paul Virilio: Bunker Archéologie. (14. 10. 2024 – 10. 3. 2025) sind thematische Tableaus von Originalfotografien und Originalaufzeichnungen derzeit im Centre Pompidou zu sehen.
Camera Austria wird weiterhin Übernahmen der Ausstellung und Publikationsprojekte ausgehend von dem Material realisieren. Das digitale Archiv, das immer wieder von Forschenden konsultiert wird, ist nach Anmeldung zugänglich.
Christine Frisinghelli
Februar 2025
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Der Austausch zwischen Camera Austria, der Fondation Bourdieu und dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu zwischen 2000 und 2002 mündete in ein weit reichendes Projekt: Pierre Bourdieu hat Camera Austria sein gesamtes Archiv von Fotografien, die während seiner Feldforschungsarbeiten in Algerien zwischen 1958 und 1961 entstanden sind und wie er sagt, sein frühestes und zugleich aktuellstes Werk darstellen, mit dem Ziel anvertraut, diese Fotografien in einer Ausstellung und Publikation erstmals der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In Zusammenarbeit mit Pierre Bourdieu (der zu Beginn des Jahres 2002 Jahres leider verstorben ist) und Franz Schultheis, Fondation Bourdieu, wurden die fotografischen Dokumente gesichtet und strukturiert und zu zeitgleich in Algerien entstandenen ethnographischen und soziologischen Studien in Beziehung gesetzt.
Diese Fotografien aus Algerien stellen zunächst wichtiges ethnographisches Primärmaterial dar, sollen also nicht losgelöst vom spezifischen Erkenntnisinteresse, das der Selektion der Motive, dem jeweiligen Blickwinkel, dem Einbezug des Kontextes und somit der Konstruktion des festzuhaltenden Gegenstandes selbst zugrunde lag, betrachtet und interpretiert werden, will man nicht einem ahistorischen ästhetischen Purismus huldigen und die kontextspezifische gesellschaftliche Bedeutung und politische Dimension dieser Bilder ignorieren. Diese sind schon von ihren Entstehungsbedingungen her »gerahmt« und datiert, stehen in einem klaren sozio-historischen Zusammenhang und zielen darauf ab, diesen in einer spezifischen Art und Weise zu dokumentieren bzw. in Bourdieus eigener Sprache: zu objektivieren.
Alle grundlegenden Themen der Bourdieu’schen Soziologie sind schon in diesem frühen Stadium präsent: Er fragt nach den unterschwelligen Regeln des Tauschs, nach der sozialen Einbindung des Wirtschaftens, dem Verhältnis von Zeitstrukturen und Rationalität, den symbolischen Ordnungen der Gesellschaft und Herrschaftsbeziehungen zwischen den Geschlechtern, Generationen und sozialen Klassen: Fragen also, die auch in seinen jüngsten Schriften erkenntnisleitend sind. Die Fotografien werden als »Achsenwerk« verstanden und dienen als Katalysatoren, verschiedene Themenkomplexe, die im theoretischen Werk Pierre Bourdieus angelegt sind, herauszuarbeiten.
Die nun erstmals um ihre fotografische Komponente ergänzten wegweisenden Feldforschungen Bourdieus bieten Einblick in den Status nascendi der Bourdieu’schen Soziologie. Neben dieser werkgeschichtlichen Dimension bleibt den Fotografien Bourdieus aber auch der Charakter eines beeindruckenden sozio-historischen Dokuments. Sie zeugen von einer gesellschaftlichen Welt voller Ungleichzeitigkeiten, deren Menschen auch heute noch nicht ihre Heimatlosigkeit und Entwurzelung – eine Entfremdung gegenüber Tradition und Moderne zugleich – überwunden haben. Vielleicht liegt die hier zum Ausdruck kommende Tragik Algeriens ja gerade darin, dass sie auch nach vier Jahrzehnten nichts an Aktualität und Realismus eingebüßt haben.
»Den verstehenden Blick des Ethnologen, mit dem ich Algerien betrachtet habe, konnte ich auch auf mich selbst anwenden, auf die Menschen aus meiner Heimat, auf meine Eltern, die Aussprache meines Vaters und meiner Mutter, und mir das alles so auf eine völlig undramatische Weise wiederaneignen, denn hier liegt eines der großen Probleme entwurzelter Intellektueller, welchen oft nur die Wahl zwischen Populismus und verschämter Selbstverleugnung (als Reaktion auf die symbolische Gewalt der Klassengesellschaft) zu bleiben scheint. Ich bin diesen Menschen, die den Kabylen sehr ähnlich sind und mit denen ich meine Kindheit verbracht habe, mit dem Blick des Verstehens begegnet, der für die Ethnologie zwingend ist und sie als wissenschaftliche Disziplin definiert. Die Fotografie, die ich zunächst in Algerien und dann im Béarn betrieb, hat als Begleiterin auf diesem Weg zweifellos viel zu dieser Konversion des Blickes beigetragen, die eine wahre – und ich glaube, das Wort ist nicht zu stark – Sinnesänderung voraussetzte. Denn die Fotografie ist Ausdruck der Distanz des Beobachters, der Daten speichert und sich dabei immer bewusst bleibt, dass er Daten speichert (was in so familiären Situationen wie der eines Dorfballes nicht immer einfach ist), aber zugleich setzt die Fotografie auch Vertrautheit, eine Aufmerksamkeit und Sensibilität selbst für kaum wahrnehmbare Details voraus, Details, die der Beobachter nur durch eben diese Vertrautheit unmittelbar zu verstehen und zu interpretieren vermag, eine Sensibilität für das unendlich kleine Detail einer Situation, das selbst dem aufmerksamsten Ethnologen zumeist entgeht. Die Fotografie ist aber auch eng verwoben mit dem Verhältnis, das ich zu jedem Zeitpunkt zu meinem Gegenstand unterhalten habe, und ich habe keinen einzigen Augenblick lang vergessen, dass es sich dabei um Menschen handelte, Menschen, denen ich mit einem Blick begegnet bin, den ich – auch wenn ich befürchte, mich dadurch lächerlich zu machen – als liebevoll, ja als oft gerührt bezeichnen möchte.«
(Pierre Bourdieu im Gespräch mit Franz Schultheis. In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung, S. 11)
Bildmaterial
Die honorarfreie Veröffentlichung ist nur in Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Ausstellung und die Publikation gestattet. Wir ersuchen Sie die Fotografien vollständig und nicht in Ausschnitten wiederzugeben. Bildtitel als Download unter dem entsprechenden Link.