KIRSTY BELL

Monika Sosnowska: Das Leben durch das Auge der Architektur

RAIMAR STANGE

John Smith: Stadtbilder mit und gegen Ton

Dem »unzuverlässigen Erzähler«1 gelingt es in »The Girl Chewing Gum« filmische Fiktion und dokumentarischen Fakt geschickt ineinander zu verweben, letztlich handelt es sich bei dem Bildmaterial um nichts anderes, als um lapidar-alltägliche Aufnahmen aus dem London der mittleren 1970er Jahre. Dank dieser Aufnahmen berichtet »The Girl Chewing Gum« zwar auch über den urbanen Alltag in der Themse¬stadt, primäres Thema aber ist dieser in der frühen Arbeit jedoch sicher nicht. Noch ging es John Smith offensichtlich um besagtes humorvoll-narratives Abarbeiten an der konzeptionell-formalen Strenge des strukturalistischen Films. Und um das Reflektieren unserer Wahrnehmung von cineastischem Material im Spannungsfeld von künstlerisch inszenierter Illusion und »realistischem« Abbild.
In dem Film »The Man Phoning Mum« (2011), einem Remake von »The Girl Chewing Gum«, tritt jedoch die Veränderung der urbanen Situation dezidiert in den Vordergrund. John Smith hat hier die lange Einstellung aus »The Girl Chewing Gum« 35 Jahre später noch einmal gedreht. Diese Aufnahme überlagert dann in »The Man Phoning Mum« die ursprüngliche Einstellung. So werden signifikante Veränderungen im Stadtbild sichtbar: Besagte Uhr wurde entfernt, das Kino ist ersetzt durch Neubauten, die PassantInnen telefonieren mit Handys…

1 John Smith, Solo Show, Hrsg. von Gemma Lloyd und Gareth Bell-Jones, London: Roya

Textbeitrag in Camera Austria International 120/2012, Seite 21–32.

PAUL INGENDAAY

Hans Haacke: »Was ich mir für eine Welt erträume«. Die Konzeptkunst von Hans Haacke überdauert die Ruinen des spanischen Immobilienbooms: Über die Installation »Luftschlösser«, 2012

Grundstücke wurden zugeteilt, aber nie bebaut. Maschenzäune begrenzen die Karrées, die irgendein planender Geist in der Baubehörde ersonnen haben muss, bevor die Visionen der Bauherren zerstoben. Auf dem Asphalt sind Linien gezogen, auch Bänke stehen da, aber die Häuser, sie fehlen: Kaum jemand streift durch die Bauwüste, nur manchmal ein Spaziergänger mit Hund. Tausende identische Kugellaternen beleuchten die Szenerie.

Die Trostlosigkeit dieser Investitionsruine, von deren Dimensionen man sich im nördlichen Europa kaum einen Begriff macht, wäre Anlass für einen kritischen soziologischen Artikel. Doch Haacke nahm sich vor, die Sprache der Steine, des Betons und des gestalteten öffentlichen Raums zu entziffern. Und er wurde mit einer kleinen Epiphanie belohnt. Was er sah, tauchte das Elend der spanischen Krise in ein surreales Licht. Dort, wo der Bau unterbrochen und die Betonmischer zum Stillstand gekommen waren, prangten frische Straßenschilder: Straße der Pop-Art, Straße der Konzeptkunst, Straße der gegenständlichen Kunst und so weiter. Jemand hatte es gut gemeint, einen Anspruch formuliert und eine Utopie entworfen. Ensanche de Vallecas sollte ein Monument humanen Wohnens werden. Man träumte von Galerien und bezahlbaren Ateliers, von Workshops für die Kleinen. Zeichen rührender Naivität seitens der Gemeinde? Boshafte Stiche des zynischen Baugewerbes? Man durfte rätseln, was die Bezeichnungen, die auf Zukunft und Kreativität verwiesen, mit der Gegenwart dieses Baudesasters zu tun haben mochten.

Die Fragen rühren an den Kern von Haackes Installation. Ihr Titel, »Luftschlösser«, greift nicht nur auf ein schönes deutsches Wort für Hirngespinste und überzogene Hoffnungen zurück, er spielt untergründig auch auf die wichtigste Figur der spanischen Kulturgeschichte an, Don Quijote von der Mancha. Der Idealismus des Ritters von der traurigen Gestalt war ein einziges Luftschloss. Statt zu erkennen, was es mit der Wirklichkeit auf sich hat, lebt Don Quijote in einer Parallelwelt aus Burgen, Riesen, Edelfräulein und Ritterheldentaten. Allerdings: Während der berühmteste Träumer der spanischen Literatur liebenswert ist und seine Phantasie auf seine Umgebung ansteckend wirkt, hat das realitätsferne Profitkalkül des entfesselten Bausektors ein ganzes Land an den Rand des Ruins gebracht.

Textbeitrag in Camera Austria International 120/2012, Seite 33–44.

T. J. DEMOS

Renzo Martens im Gespräch mit T. J. Demos: Institutionenkritik nützt letztlich nur ­wenigen Weltgegenden

RM:   Das Institute for Human Activities strebt den Bau eines Kunstzentrums an. Es soll ein Museum, ein Residency-Programm und eine Schule mit Meisterklassen entstehen. Wir werden Kunstausbildung für PlantagenarbeiterInnen anbieten. Die TeilnehmerInnen sollen aus allen möglichen Gruppen kommen, etwa auch aus der Gruppe der WaldbewohnerInnen, die sich vielleicht nicht als Künstler sehen, aber über alle möglichen kreativen Fähigkeiten verfügen. Dazu wollen wir KünstlerInnen aus Kinshasa und anderen afrikanischen Städten einladen. Und wir werden Leute aus dem Westen einbeziehen. So werden wir den PlantagenarbeiterInnen am Ende hoffentlich helfen können. Ehrlich gesagt, arbeiten sie ja indirekt jetzt schon für uns, in einer sehr altmodischen Form, indem sie uns als Tage- oder Stundenlöhner ihre körperliche Arbeitskraft zur Verfügung stellen. Dabei verdienen sie nicht viel. Wir wollen ihnen helfen, in eine neue immaterielle und affektive Ökonomie einzutreten.

TJD:  Das Institut soll also als eine Art Bildungszentrum und später als Ausstellungsort für aufstrebende KünstlerInnen fungieren? Wenn ja, wie wird das eigentlich mit dem Verkauf geregelt? Wie wir aus deinem Film „Episode III: Enjoy Poverty“ (2009) wissen, war das doch gerade ein Hindernis. Die von dir ausgebildeten kongolesischen Fotografen bekamen letztlich keine Presseausweise und konnten ihre Fotos nicht an internationale Medienagenturen verkaufen.

RM:   Ja, die Verkäufe werden unter der Dachorganisation des Instituts erfolgen. Die Erlöse gehen natürlich nicht ans Institut, sondern an die jeweiligen KünstlerInnen. Aber das Projekt wird so etwas wie ein Marken-Konzept umfassen, weil niemand einfach ein bestimmtes Gemälde ausstellt oder kauft, sondern eher in die gesamte Unternehmung – die übergreifende soziale Skulptur oder das künstlerische Experiment – investiert. Dieses System wird für das Mandat dieser Kunst und ihre Kritikalität stehen.

Textbeitrag in Camera Austria International 120/2012, Seite 45–52.

JAN VERWOERT

Zeuge Bild 4/4 Bildermacher gegen Körperfresser

Bist du jetzt glücklich?
Ich kanns dir nicht sagen.
Warum?
Weil ich keine Ahnung hab, wie man Glück zeigt.
Wieso?
Weil ich glaube, dass Bilder vom Glück lügen. Sie machen dir was vor. Was sich nie erfüllen wird. Auch wenn sie Erinnerungen festhalten von schon erfüllten Träumen. Denn gerade die sagen dir ja vor allem: In diesem Augenblick war das dein Glück. Aber das war einmal. Ist jetzt Vergangenheit. Vergiss sie. Kommt nicht wieder. Macht dich bloß traurig. Schminks dir ab.
Und Bilder von der Zukunft? Solche, die zeigen, wie du dir dein Lebensglück ausmalst? Paradebeispiele für Zukunftstraumbilder sind Fotos in Schaufenstern von Immobilienbüros. Diesen Traum vom Glück im Eigenheim so zu träumen, wie er geträumt werden will, heißt, den passenden Umgang mit den Schaufenstern zu erlernen. Das ist eine hohe Kunst.

Textbeitrag in Camera Austria International 120/2012, Seite 67–68.