SIMON BAIER

Anne Collier: Albus / Ater

Wie ereignet sich dieser Ausschluss von Geschichtlichkeit genau? Auf der einen Seite sind die Fotografien auf ein Anhalten der Zeit selbst im neutralen Raum des Studios gerichtet, in dem das Selbst, der Körper und die gegenwärtige Welt nur als distanzierte und fragmentierte Repräsentation erscheinen darf. Vieles von dem, was sich dort zeigt, scheint aber doch gerade von einer bestimmten Vergangenheit zu sprechen: Wie bereits gezeigt, sind es obsolete Medien oder sogar obsolete Formen der Repräsentation. Die Arbeit »Two Photo Albums« (2015) tut dies exemplarisch: Auf ihr sind zwei Fotoalben von der Außenseite, also ihr Einband zu sehen. Diese Einbände zeigen Liebespaare in einem idyllischen Landschaftsgarten in intimer Zweisamkeit. Im linken Fall ist diese Zweisamkeit jedoch selbst durch das Lesen des Mannes in einem Buch in eigenartiger Weise gestört, während die Frau sich doch an ihn schmiegt. Die Objekte transportieren als kommerzielle Fotografie dabei nicht nur ein bestimmtes Gefühl – idyllische Intimität – die uns entweder ansprechen mag, oder die uns als abgeschmackt abstößt. Sie verweisen zudem auf eine bestimmte Vergangenheit, der sie entstammen, die uns aber durch Colliers Präsentation – in sehr ähnlicher Weise wie es die kommerzielle Fotografie in Bezug auf ihr Sujet selbst tut – als nur vages Gefühl dafür präsent wird. Als Dokumentation einer historischen Episteme der Fotografie geht ihr analytischer Wert gegen Null. Die Titel geben deshalb strategisch auch keine weitere Information dazu an, wann genau diese Fotoalben produziert wurden, oder welchem kulturellen Kontext sie entstammen. Nicht nur, was diese Fotografien zeigen, ist Teil einer Industrie der Produktion von generischen Affekten, oder kurz: von Sentimentalem. Collier selbst partizipiert in gewisser Hinsicht an dieser Industrie. Sie zeigt all dies als nur allgemein Vergangenes, das aber keine bestimmbare Historizität besitzt. Es ist schlicht aus unserer Gegenwart entfernt und allein deshalb haftet daran der Geschmack von Erinnerungen, die aber weder unsere eigenen sein müssen noch einen bestimmten Inhalt haben.

Textbeitrag in Camera Austria International 132/2015, S. 5–16.

MATTHIAS REICHELT

Den Umbrüchen auf der Spur: Die Bilderzählungen von Helmut und Johanna Kandl

Thomas Bernhard lässt in seinem Roman Auslöschung den Erzähler Franz-Josef Murau eine Suada über die Fotografie zelebrieren, die in der völlig maßlosen und alle wirklichen Katastrophen ignorierenden Aussage gipfelt: »Die Fotografie ist das größte Unglück des 20. Jahrhunderts.«¹ Interessanterweise wendet sich Murau dann doch den Fotografien seiner Familie zu und nutzt sie als Reservoir seiner subjektiven Erinnerung. Und auch wenn die Subjektivität der Fotografie sowie ihr Unvermögen, als schlüssiger und sicherer Beweis für die Wirklichkeit dienen zu können, hinlänglich bekannt ist, so hat die digitale Bilderflut exorbitant zugenommen. Die Wirkmacht der Fotografie ist vor diesem Hintergrund ungebrochen und prägt über die mediale Verbreitung kollektive Bilder und auch gesellschaftspolitische Haltungen.
Helmut und Johanna Kandl knüpfen genau an diese Wirkmacht der Fotografie an, um existierende Bilder zu hinterfragen, zu stören, ironisch zu brechen, oder ganz eigene Narrative zu komponieren. Seit dem Beginn ihrer Kooperation im Jahr 1997 basieren viele Projekte auf gemeinsamen Reisen des Künstlerpaars und seinem Fokus auf die Veränderung gesellschaftlicher Realität seit dem politischen Umbruch 1989. Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und die Auflösung des Ostblocks brachte zwar eine unbekannte Freiheit, die jedoch gleichermaßen Freiheit von sozialer Sicherheit bedeutete. Die brachiale Konvertierung eines maroden ökonomischen Systems und das Implantieren eines neoliberalen kapitalistischen Systems führten zu hoher Arbeitslosigkeit, Armut und zu neuen ethnischen Spannungen. Es sind diese Veränderungen an den ehemaligen Grenzen vormals antagonistischer Systeme, die den Kandls ins Auge fallen. Das Künstlerpaar hält seine subjektiven Eindrücke in Fotografie, Video und Text fest: Stadt-, Dorf-, Straßenszenen, Bilder von Märkten, das Entstehen von Schattenökonomien, den Verfall der Städte, die Verarmung der Bevölkerung, die Reminiszenzen an vergangene Geschichte in Form von Denkmälern, das Scheitern der propagierten Utopie ebenso wie das Ausbleiben der versprochenen blühenden Landschaften. Die hier so schlagwortartig wie beispielhaft angeführten Themen und Motive spielen in den »Bilderzählungen« der Kandls eine wichtige Rolle.

¹ Thomas Bernhard, Auslöschung, Frankfurt / Main: Suhrkamp Verlag 1988, S. 30.

Textbeitrag in Camera Austria International 132/2015, S. 17–28.

GUY MANNES-ABBOTT

Ala Younis: Figuring Lesser Baghdadis (One to Seven)

Eins. Micky Maus befindet sich nicht unter den Bronzefiguren, die Jewad Selims »Nusub al-Hurriya« (Freiheitsdenkmal, 1961) auf dem Tahrir-Platz von Bagdad bevölkern. Die anthropomorphe Lieblingsmaus des 20. Jahrhunderts ist aber eine der sieben Figurinen, die Ala Younis in ihrer Installation »Plan for Greater Baghdad« (2015) versammelt. Und vier dieser sieben – Selim, Rifat Chadirji, Abdel Karim Kassem und Saddam Hussein – stehen in Verbindung mit Selims Denkmal.
»Plan for Greater Baghdad« – so nannte Frank Lloyd Wright seinen 1957 vorgelegten Neuentwurf der Stadt als persianische Fantasie. Wright ist nicht unter den Figurinen, die um das Modell eines eigentümlich geformten Bauwerks gruppiert sind. Ebenso fehlen darunter jene, für die Wright Denkmäler vorgesehen hatte: Harun al-Rashid und Aladdin mit der Wunderlampe. Bei ersterem handelt es sich um eine Verwechslung mit Bagdads eigentlichem Stadtgründer al Mansur, bei letzterem um eine Übersetzerzugabe zu Tausendundeine Nacht. Platz in der Installation, wenn auch nicht in Selims Fries, bekommt dafür der Planer der modellierten Merkwürdigkeit: Le Corbusier.
Der Erfolg von Micky Maus begründete 1928 das Imperium von Walt Disney. In Archivmaterial des irakischen Fernsehens begrüßt ein verkleideter Micky einen Regierungsvertreter bei einer Feier in Le Corbusiers Gymnase de Bagdad – dem im Modell dargestellten Bauwerk. Man schreibt das Jahr 1990, und der Funktionär ist ein ergebener Agent, der über der Szene thronenden traditionell gekleideten Person: Saddam. Micky ist eine von mehreren Disney-
Figuren, die an diesem Silvesterabend in der kurzen Verschnaufpause zwischen dem zermürbenden Krieg gegen den Iran und Saddams Überfall auf Kuwait zu patriotischen Liedern tanzten.

Textbeitrag in Camera Austria International 132/2015, S. 29–40.

CECILIA FAJARDO-HILL

Teresa Burga: Offenes Werk

Teresa Burga befragt seit den 1960er Jahren traditionelle Vorstellungen von Kunst sowie die Rolle und Stellung der Frau in der Gesellschaft. Mit ihrer eigenwilligen, kritischen Haltung in Gender- und Kunstfragen ist Burga eine prägende Figur für die kritische und konzeptuelle Ausrichtung zeitgenössischer Kunst. Wir wissen,
dass es außerhalb des europäischen und nordamerikanischen Mainstreams in der Welt Hunderte von KünstlerInnen gibt, die trotz des Umstands, dass sie in der Kunstgeschichtsschreibung, Überblicksdarstellungen und großen Museumsausstellungen nicht vorkommen, einige der radikalsten und ungewöhnlichsten Kunstwerke des 20. Jahrhunderts geschaffen haben – Werke, die wir erst jetzt allmählich kennenlernen. Die in Peru außerhalb wie innerhalb der Kunstwelt arbeitende Burga ist eine dieser KünstlerInnen.
Teresa Burgas Bemerkung, dass die Herstellung von Kunst nicht von der Kunstintention des/der Herstellenden abhängig sei, lässt sich als Ablehnung der Auffassung verstehen, Künstler zu sein bedeute, sich einem bestimmten akademischen Regelkanon zu fügen. Ihr Begriff des »Nicht-Werks« widersetzt sich auch dem Diktat zur Produktion ästhetischer Objekte mit Marktwert, der durch »Subjektivität« und das Talent zur Herstellung schöner Dinge determiniert wird.

Textbeitrag in Camera Austria International 132/2015, S. 41–52.

CINENOVA FEMINIST FILM AND VIDEO DISTRIBUTOR

MADELEINE BERNSTORFF, SANDRA SCHÄFER: Leuchtendes Korn, flimmernde Zeilen, Stapel von Papier

London 1986. Ruth Novaczeks erster Film »Tea Leaf« entsteht und der Greater London Council, der sich die großzügige Förderung von Grassroots-Organisationen und deren Diversität auf die Fahnen geschrieben hat – darunter auch die Frauen-Filmverleihe Circles und Cinema of Women (aus denen später Cinenova hervorgeht)°–, wird von der konservativen Regierung aufgelöst. Die beiden feministischen Verleihe rutschen nun unter die Zuständigkeit des British Film Institute, das ihnen dann seinerseits wegen starker Kürzungen Anfang der 1990er Jahre nahelegt, zu fusionieren und einen Businessplan zu erstellen.
In der Filmabteilung der Saint Martin’s School of Art in London hatten seit Mitte der 1980er Jahre Filmemacher_innen wie Sandra Lahire, Ruth Novaczek und Isaac Julien die klassische, puristische Avantgarde der weißen Männer mit eigenen vehementen politischen Statements und brillanten Filmen hinter sich gelassen. 1983 gründete sich das Sankofa Film and Video Collective, 1984/85 entstand dessen Film »Territories«, eine vielstimmige poetische Untersuchung Schwarzer britischer Kultur anhand des Notting Hill Carnival, 1987 tourte das von Circles zusammengestellte Programm »Black Women and Visibility« durch ganz England.

Textbeitrag in Camera Austria International 132/2015, S. 67–68.