HANS ULRICH OBRIST

Gesamtkunstwerk

HUO Was zeigst du in deiner ersten Soloausstellung in London bei Belmacz¹?
JLK Neben den Soft-Skulpturen gibt es eine große Tapete, eine große Collage, auf der ich mich als eine Figur von Richard Lindner, die mit Piktogrammen aus dem Film »Yellow Submarine« (GB, 1968) bemalt ist, inszeniere. Auf einer zweiten Tapete zeige ich meine Muse. Ich finde Hypermaskulinität in Kombination mit Dessous für Männer spannend. HUO Und wer ist deine Muse?
JLK Der brasilianische Künstler Ymo 09. Ich habe bei Raf Simons Design studiert und bei Heimo Zobernig Bildhauerei, in meinen Installationen verschränke ich Kunst und Design, Kunst- und Designgeschichte. Für meine Ausstellung in der Wiener Galerie Georg Kargl im Jänner 2020 setze ich mich mit unterschiedlichen Ästhetiken und Handwerkstechniken auseinander, eine Beschäftigung, die an mir als Person nicht spurlos vorübergehen wird. Der Begriff Artisan zieht mich unheimlich an. Es wird ganz stark um Handwerk gehen, bis hin zu einem Siebzigerjahre-Bastelbuch der Ästhetik. Ich finde auch Ästhetiken, die mich herausfordern, immer wieder spannend oder Dinge, wo man sagt, mmh, das geht noch nicht.
HUO Es ist also ein Zusammenbringen von diesen Feldern und die Arbeit artikuliert sich mehr im Feld der Kunst als der Mode?
JLK Ja, auf jeden Fall. Für die Biennale von Lyon wird es eine Gemeinschaftsarbeit mit Ashley Hans Scheirl geben.
HUO Es gibt dann Einzelarbeiten und Zusammenarbeiten?
JLK Genau, ja. Ich arbeite sowohl solo als auch in Kooperationen. Es ist wichtig, eine eigene künstlerische Sprache zu entwickeln und diese dann bei Gemeinschaftsprojekten einzubringen. Für die Biennale (von Lyon) werden Ashley Hans Scheirl und ich eine große Szenografie entwickeln. Dazu wird es in Kooperation mit dem Modelabel »House of the very island’s …« eine Kollektion geben, in der wir aus Ashleys Malereien Stoffdrucke entwickeln, welche BROCHIER für uns auf Seide druckt. Bilder verlassen den Kunstraum und gehen auf die Straße. Es wird auch eine Videoarbeit geben, eine Szene mit einem Reenactment von »Oscar« mit Luis de Funès (FR, 1967). Humor ist sehr wichtig. Herausfordernde Themen verbreite ich gern mit Hilfe von Ästhetik und Humor. Mainstream kann ein spannender Ort sein. Der Titel für die Ausstellung in London ist ein Zitat aus einem Beatles-Song: »I am he as you are he as you are me. And we are all together«, eine Erinnerung an eine Zeit, in der Populärkultur auch experimentell war. Also früher habe ich immer, wenn ich jemanden kennengelernt habe, gefragt: Magst du die Beatles? Wenn die Person nein gesagt hat, habe ich mir gedacht, na tsss … Da bin ich jetzt milder.

¹ »Jakob Lena Knebl. I am he as you are he as you are me. And we are all together«, 17. 5. – 6. 7. 2019.

Textbeitrag in Camera Austria International 147/2019, S. 7–20.

MATEUSZ KOZIERADZKI

Kunst, Körper, Sexualität

In diesem Rückblick werde ich die Rezeption von Sexualität in den Arbeiten der Künstlerin aus den 1960er- und 1970er-Jahren vorstellen. Am 4. November 1972 schrieb sie unter dem Titel »Transformative Haltung« ein Manifest, das ihre künstlerischen Interessen definiert: »Kunst passiert in jedem Moment der Realität: jede Begebenheit, jede Sekunde ist für ein Individuum einzigartig. Deshalb zeichne ich gewöhnliche und triviale Vorgänge auf, wie Essen, Schlafen, Kopulieren, Ausruhen, Sprechen und so weiter. Außerdem ist jede Aktion als Teil der Realität eines Menschen absolut gleichwertig mit einer evozierten mentalen Reaktion bei den Betrachter*innen einer Aufzeichnung. Ich kann also das Erfassen einer Aktivität in eine andere verschieben. Nicht der Inhalt oder die formale Erscheinung ist wesentlich, sondern im Effekt liegt die Bedeutung.«¹

Der Text weist eine deutliche Nähe zur Konzeptkunst auf, zu deren Pionier*innen Natalia LL in Polen zählt. Das Interesse, einfache Tätigkeiten aufzuzeichnen, bezog sich nicht nur auf die bloße Präsentation der tatsächlichen Realität, wie etwa im Video »Permanent Registration Every 1 km of the E22 Motorway« (1970), welches den Raum einer spezifischen Distanz zur Straße dokumentiert. Es war vielmehr der Versuch, Aufmerksamkeit auf jene wesentlichen Elemente des menschlichen Lebens zu lenken, die als derart trivial galten, dass sie im Alltag unbeachtet blieben und als Gegenstand in der bildenden Kunst unterschätzt wurden. Bereits ziemlich früh, zwischen 1968 und 1969, begann Natalia LL mit ersten Versuchen im Bereich der »erotischen Fotografie«, zur gleichen Zeit las sie Georges Bataille und Marquis de Sade. Diese Fotografien (etwa die Serien »Mix«, 1968, oder »Intimate Sphere«, 1969) zeigen nackte, sich umarmende Körper oder sexuelle Akte und waren ihre Versuche, ihr künstlerisches Selbst zu finden. Zum einen verweisen die Stop-Motion-Aufnahmen von Szenen auf spätere konzeptuelle Einschreibungen oder kündigen diese sogar an. Zum anderen distanzierte sich Natalia LL von weitgehend populären künstlerischen Tendenzen wie etwa der lyrischen Abstraktion oder der figurativen Kunst. Einige der Szenen zeigen Personen aus dem Umfeld der Künstlerin, die meisten aber wurden von Natalia LL und ihrem Ehemann (seit 1964) Andrzej Lachowicz selbst performt. Im Jahr 1970 gründeten die beiden Künstler*innen gemeinsam mit Zbigniew Dłubak und Antoni Dzieduszycki die PERMAFO Galerie – die in Wrocław bis 1981 wirkte.

¹ Natalia LL, »Transformative attitude«, TEXTY, Bielsko-Biała: Bielska Gallery BWA 2004, S. 279.

Textbeitrag in Camera Austria International 147/2019, S. 21–34.

JUNE DREVET

Alufolienträume

Die allgemeine Beschaffenheit der Gegenwart lässt sich als eine des Übergangs beschreiben – politisch, technologisch und sozial. Das denke ich etwa ein Mal täglich, wenn ich mich auf und in den Verkehrsadern der Großstadt Berlin bewege. Im Vorbeiflug unzählige Baustellen, scheinbar bis in alle Ewigkeit umzäunt, vielmehr die verwaisten Anfänge groß angelegter Veränderungsvorhaben denn zukunftstaugliche Investitionen. Dazwischen Wesen – Menschen, Tiere, Pflanzen. Hier die, die den Übergang vorantreiben und dort jene, die versuchen, mit ihnen mitzuhalten. Schaue ich auf Paul Hutchinsons Fotografien, stelle ich fest, dass es sich nie um fixierte Positionen, sondern um fragile Verhältnisse handelt, aus denen sich die Einstellung gegenüber der äußeren Wirklichkeit einer zeitgenössischen Großstadt zusammensetzt. So sind mir die Motive seiner Bilder zum einen aus der unmittelbaren Erfahrung durchweg bekannt, zum anderen erzeugen sie fortlaufend Irritationen. Der Berliner Fotograf macht diesen Übergang nicht nur motivisch zum Zentrum seiner künstlerischen Arbeit, sondern auch auf technischer sowie auf formaler Ebene, sodass wir schlussendlich ein Geflecht aus einer Motivvielfalt, eine Verschmelzung fotografischer Genres, von Aufnahmetechniken und lyrischen Texten vor uns haben. Seine künstlerische Intention: ein Bewusstsein für die eigene Zeit zu schaffen.

Paul Hutchinsons Biografie ist geprägt von zahlreichen Aufenthalten in Großstädten in unterschiedlichen Regionen der Welt, bevor er nach Berlin zurückkehrte – dorthin, wo er als Kind einer deutsch-irischen Familie in der Nachwendezeit aufgewachsen ist und während seiner Jugend in Berlin-Schöneberg im Kontext von Immigration, Prekariat und Hip-Hop seine Zeit auf den Straßen und an öffentlichen Plätzen verbrachte. Nach dem Leitsatz »the city as a stateless mind«¹ spürt Hutchinson in seiner fotografischen Praxis den generellen Energien von Großstädten nach, die im Grenzgang zwischen Rauheit und Poesie entstehen.

¹ So betitelte das Kunst-Straßenmagazin Arts of the Working Class seine erste Ausgabe 2018.

Textbeitrag in Camera Austria International 147/2019, S. 35–48.

REGINE EHLEITER

Groups (1969/70)

Im November 1969 organisierte die amerikanische Kunstkritikerin Lucy R. Lippard in der Galerie der New Yorker School of Visual Arts eine kleine Ausstellung mit seriellen Foto-Text-Arbeiten. Ihr Titel »Groups« verweist auf das Motiv der rund zwanzig ausgestellten Beiträge: Lippard hatte die Künstler*innen im Vorfeld gebeten, eine Woche lang jeden Tag ein Foto einer Gruppe von Menschen in ähnlicher Anordnung aufzunehmen und diese Bilder anschließend genau zu beschreiben. Wenige Monate später, im März 1970, präsentierte sie die Hälfte der Beiträge noch einmal als »Magazinausstellung« in der britischen Zeitschrift Studio International.¹ Es war das erste Projekt dieser Art in einem Mainstream-Kunstmagazin und erinnert exemplarisch an den Versuch einer neuen Generation unabhängiger Kurator*innen, die etablierten Institutionen des Kunstsystems zu umgehen und durch alternative Praktiken des Ausstellens Kunst einem möglichst großen Publikum zugänglich zu machen.

Lippard konzipierte ihre Ausstellung als »Experiment«.² Es ging ihr darum, alle Künstler*innen mit der gleichen Situation und Aufgabenstellung zu konfrontieren. Die eigens produzierten Fotografien und Texte zum selben Gegenstand sollten zeigen, wie sich im Vergleich verbale und visuelle Aussagen voneinander unterscheiden. Lippard arbeitete damals bereits an einer frühen Fassung ihres experimentellen Romans I See / You Mean, der auf Beschreibungen von Fotografien beruhte. Die darin behandelten Fragen nach dem Verhältnis von Text und Bild, der Subjektivität von Wahrnehmung und verschiedenen Lesarten von Text spielten auch bei einem Schreibseminar eine wichtige Rolle, das sie 1969 für Studierende der School of Visual Arts in ihrer Wohnung in der Lower East Side anbot: Bei den Übungen ließ sie halb verdeckte Objekte zirkulieren oder verwies auf Gegenstände im Raum, die die Anwesenden später beschreiben sollten.

An »Groups« nahmen einige Studierende dieses Seminars teil. Die meisten der Teilnehmer*innen waren jedoch Künstler*innen aus Lippards Freundes- und Bekanntenkreis, darunter sowohl die New Yorker Maler*innen Robert Huot, Alex Katz, Sylvia Mangold und Kestutis Zapkus, die in der Regel nicht mit Fotografie arbeiteten, als auch Konzeptkünstler*innen wie Robert Barry, Ingrid und Iain Baxter (N.E. Thing Co.), Douglas Huebler, Adrian Piper und Lawrence Weiner, die sich ebenso wenig in erster Linie als Fotograf*innen verstanden.

¹ Lucy R. Lippard, Brief an Peter Townsend, 1. 1. 1970, Archives of American Art, Smithsonian Institution.
² Lucy R. Lippard, »Groups«, in Six Years, New York: Praeger 1973, S. 120.

Textbeitrag in Camera Austria International 147/2019, S. 49–52.

LUCY R. LIPPARD