LISA STUCKEY

Aus ihrer Zeit gefallene Sequenzen

Karina Nimmerfalls Spurensuchen nehmen im »pseudo-doublet: Realität/Wirklichkeit«¹ ihren Ausgangspunkt. Phänomenologisch lassen sich, so die Philosophin Sybille Krämer, eine »Reihe binärer Konfigurationen« der Spur ausmachen, die nach einem Sowohl-als-Auch-Schema funktionieren – zwischen den Polen von (i) »Objekt und Tätigkeit«, (ii) »Präsenz und Absenz«, (iii) »Kausalität und Interpretation«, (iv) »Störung und Ordnung«, (v) »Widerfahrnis und Ermittlung« und (vi) »Natürlichkeit und Sozialität«.² Ausgangspunkt von Nimmerfalls Fallstudien und Serien ist meist ein architektonisches Objekt oder Gefüge. Dafür sucht sie die tatsächlichen Orte auf, um sich diesen in vorerst dokumentarischem Gestus fotografisch oder filmisch anzunähern; zudem konsultiert sie Archivbestände, wo sie historische Materialien ausfindig macht. Es folgen Prozesse des Re-Montierens bildlicher und sprachlicher Versatzstücke oder das Simulieren von Räumen, die es mitunter in physischer Form nicht (mehr) gibt, weil sie zerstört, abgerissen oder aber niemals realisiert wurden. Im Transfer in den Ausstellungsraum, eng an eine publikatorische Praxis gebunden, kommt dem Display eine gesteigerte Bedeutung zu: Es ist nicht nur structure of support, sondern folgt einer zitativen Logik im Hinblick auf den untersuchten Sachverhalt. Evidenzgenerierende Materialien erfüllen dabei weniger den Zweck einer Beweisführung, als den der Öffnung von Möglichkeitsräumen städtischer Transformationsprozesse in geografisch- wie philosophisch-topologischer Hinsicht.

Relativ rezeptionsoffen angelegt, liegen diskursive Bezugspunkte Nimmerfalls rechercheintensiver Arbeiten etwa in Theorien um den »Thirdspace« (Edward Soja); denn die Künstlerin interessiert sich nicht allein für eine soziologische Raumbetrachtung, sondern im Wesentlichen für den imaginären Raum: In diesem bestreikt das Zeitgefühl mitunter die lineare Leserichtung, welche manche Grammatiken uns vorgeben.

Als Spurensuche zweiter Ordnung beleuchtet dieser Aufsatz vier von Karina Nimmerfalls jüngsten Projekten in ihrer transmedialen künstlerisch-forschenden Kosmologie unter folgenden konzeptuell-methodischen Gesichtspunkten: I. Szenariodenken zwischen time und tense, II. Philologisch-architektonische Objektbiografie, III. Unheimliches ausstellen sowie IV. Einen Kreis ziehen for the not yet / anymore.

¹ Jean-François Courtine, »REALITY«, in: Dictionary of Untranslatables. A Philosophical Lexicon, hrsg. von Barbara Cassin, Princeton und Oxford: Princeton University Press 2014 [2004], S. 879.
² Sybille Krämer, »Immanenz und Transzendenz der Spur: Über das epistemologische Doppelleben der Spur«, in: Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, hrsg. von Sybille Krämer, Werner Kogge, Gernot Grube, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 158–162.

Textbeitrag in Camera Austria International 152/2020, S. 7–18.

DHYANDRA LAWSON

Janna Ireland macht Demütigungen zu Triumphen

In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts verboten rassistische Auflagen in weißen Wohngegenden den Verkauf von Häusern an People of Color. Millionen Afroamerikaner*innen hatten auf der Suche nach einem besseren Leben den Süden und die harschen Jim-Crow-Gesetze in Richtung der nördlichen und westlichen Bundesstaaten hinter sich gelassen. Weiße Hausbesitzer*innen reagierten mit diskriminierenden Auflagen auf diese große Wanderungsbewegung, die sogenannte »Great Migration«, um People of Color aus ihren Vierteln fernzuhalten. Solche Absprachen durchdrangen die Vororte des ganzen Landes, und auch die von Los Angeles.

Die Künstlerin Janna Ireland lebt in Los Angeles und in ihrer Arbeit Breakfast on the Patio (Frühstück auf der Veranda, 2012) porträtiert sie sich selbst in einem Vorstadthaus vor einer dekadenten Tafel, die einem Stillleben von Floris van Schooten aus dem sechzehnten Jahrhundert gleicht. Sie trägt ein seidenes Nachthemd und einen Morgenrock. Aber Ireland lebt hier nicht. Sie sagt: »Ich denke, eine gewisse Entfremdung war immer schon Teil meiner Erfahrungen«.¹

Die Künstlerin beschäftigt sich mit den physischen, politischen und emotionalen Aspekten des Wohnens. Sie fotografiert sich und ihre Familie oft in häuslichen Settings, die mit der strikten Trennung von Wahrheit und Fiktion, Dokumentation und Performance brechen. In ihrer Arbeit werden die komplexen Beziehungen im Zusammenleben der Menschen offengelegt. Sie untersucht, ausgehend von ihrer eigenen Erfahrung, die größeren Zusammenhänge hinter der Frage, wo Menschen leben.

Ireland wurde in Philadelphia geboren, wo sie auch aufwuchs. Als sie elf war, verlor die Familie ihr Zuhause. Bei ihrer Mutter wurde eine Krankheit fehldiagnostiziert und die Familie zerbrach – in Irelands Worten – nach jahrelanger Fehlbehandlung. Obdachlos und fast ohne eigene Sachen zog Ireland bis zu ihrem 14. Lebensjahr von einem Familienmitglied zum nächsten. In ihrer frühen Serie The Spotless Mirror (Der makellose Spiegel, 2011 – 2013), die sich später zu Milk and Honey (Milch und Honig, seit 2018) entwickelte, zeigt sie sich selbst, ihren Mann und ihre zwei Kinder in einem kalifornischen Wunderland. Im Zuge dieser Projekte beschäftigte sie sich mit den Häusern und Anlagen des afroamerikanischen Architekten Paul Revere Williams. In kontrastreichen Schwarz-Weiß-Bildern macht sie auf Williams als einen der wichtigsten und unterbewertesten Wegbereiter der amerikanischen Architektur des zwanzigsten Jahrhunderts aufmerksam.

¹ Sofern nicht anders angegeben, stammen die Zitate der Künstlerin aus einem Gespräch mit der Autorin in Vorbereitung des Textes.

Textbeitrag in Camera Austria International 152/2020, S. 19–30.

CALLUM BEANEY

Unvollendetsein ist Vollendung. Jerome Mings Oobanken

Jerome Mings Oobanken (2013 – 2014) besteht aus einer Serie von Fotografien, die Skulpturen und Modelle in unterschiedlichen Stadien der Vollendung zeigen. Diese Stücke reichen von einer hausähnlichen Struktur auf einem Displaytischchen bis zu einer zerbrochenen Modellsäge, die es vermutlich nie in eine Ausstellung geschafft hat. Mings Fotografien, die zunächst wie Episoden aus dem schöpferischen Prozess hinter experimentellen Skulpturen und Performances wirken, erinnern ein wenig an die Werkdokumentationen einiger Konzept- und Land-Art-Künstler*innen der 1970er- und 1980er-Jahre, wo die Kamera oftmals lediglich als Werkzeug zur Repräsentation der mit dem installierten Werk verbundenen Performance oder Arbeit diente.

»Es ist wunderbar, wenn man versteht, wie die Arbeit funktioniert, aber etwas über ihre Entstehung zu erfahren, darüber, wie sie gemacht wurde, gibt ihr dieses Intime.«¹

Ohne jedwede Erklärung vonseiten des Künstlers sind wir eingeladen, diese Dokumentation seines schöpferischen Prozesses zu betrachten und zu schauen, wo er stattfand. Manchmal kann das Fehlen einer Erklärung oder eines Kontexts es einem schwer machen, zu verstehen, worum es in der Arbeit geht, was sie einem sagen will. Genau diese Ambiguität gibt einem aber auch die Möglichkeit, eine Arbeit aus mehreren Perspektiven zu erleben, und eben aus dieser Ambiguität heraus ein Verständnis davon zu entwickeln.

Auch wenn diese fotografischen Episoden in erster Linie Mings Umfeld und seine schöpferische Erkundung dieses Umfelds skizzieren, so eröffnen sie zusammengenommen doch auch einen Dialog über den schöpferischen Akt selbst. Vor Mings Kamera haben Gelingen und Misslingen, vollendete Arbeit und Experiment den gleichen Stellenwert. Sie lässt uns sehen, welche Entscheidungen der Künstler trifft: was einen Platz in der Ausstellung erhält und was für Experimente auf dem Weg dorthin unternommen werden.

Gleichzeitig bringen Fotografien ihre eigene Betrachtungserfahrung mit sich, die über die bloße Dokumentation hinausgeht. Ming nimmt Skulpturen durchwegs gerade von vorne auf (gelegentlich auch nach unten geneigt, aber horizontal in der Waage). Zusätzlich werden durchgängig weiche Schattierungen eingesetzt, die Oobanken formale Konsistenz verleihen. Die Bilder erscheinen in hohem Maß komponiert, arrangiert wie altmeisterliche Stillleben mit Ton- und Glasgefäßen. Als Abfolge komponierter Szenen fügt sich die »Dokumentation« allmählich zu einem Ganzen, erscheint als eigenständiges Werk.

¹ Die Zitate von Jerome Ming stammen aus Gesprächen mit dem Verfasser zwischen 23. September und 10. Oktober 2020.

Textbeitrag in Camera Austria International 152/2020, S. 31–42.

RAPHAEL DILLHOF

oceans + ghosts

Quallen- und Delfinaufkleber, grell-schillernde Plastikeidechsen, neonblaue Traumfänger und transparente Kunststoffmuscheln: Die Gegenstände, die die deutsche Künstlerin Jenny Schäfer in ihrem vielseitigen und vielschichtigen Werk zu Protagonisten ihrer Bildwelten macht, sind an den äußersten Randbereichen der Ästhetik angesiedelt, in dem Bereich der Konsumwelt, der mal als Populärkultur, mal als Trash bezeichnet wird. Ihre Arbeiten sind Expeditionen in die endlos scheinenden Regale der Spielwarengeschäfte, die Untiefen der Euroshops und Dekoabteilungen, Forschungen in einen ganz bestimmten Bereich des Lebens, in dem alles glänzt, schillert, glitzert und fasziniert: Wie müssen Oberflächen beschaffen sein, um uns zu anzuziehen? Welche Farben wecken Begehren? Was gibt es alles zu sehen in den Geschäften, in die sich Vertreter*innen der Hochkultur sonst kaum verirren, die aber womöglich noch aus der eigenen Kindheit vertraut sind?

Spielwaren, Dekorationsartikel, Zeugnisse der schillernden Welt des Spätkapitalismus: Schäfer nimmt diese Dinge und enthebt sie in ihrer künstlerischen Praxis ihrem Kontext, holt sie aus den Kinderzimmern und den Welten des Konsums. In digitalen und analogen Bildcollagen stellt sie die Künstlerin frei, montiert sie bühnenbildhaft vor neue Hintergründe, platziert sie in seltsame Zwischenwelten oder ordnet sie in Schichten an. In teils raumgreifenden Installationen kombiniert sie diese Bilder anschließend mit gefundenen Objekten, Postkarten oder Postern, mit Spielfiguren oder Werbematerial. Heraus kommen atmosphärische, assoziative Tableaus voller Rätsel – ob sie in ihrem 2016 erschienenen Buch Mystery Hystery zur Materialsemantik von falschen Marmorplatten oder Holzfurnier arbeitet oder in der kürzlich im Jenaer Kunstverein gezeigten Serie World can only be saved by horses (2019) mit My Little Pony-Figürchen und Einhörnern die Prävalenz von Pferden in heimischen Kinder- und Jugendzimmern zum Thema macht.

Auch in ihrer aktuellen Serie oceans + ghosts (2020) folgt sie dieser künstlerischen Strategie. Ihre Quallen, schwebend-mysteriöse Meerestiere, platziert sie da über der undefinierbaren Landschaft eines Wüstenplaneten. Eine Spielzeug-Plastikmuschel hängt über einer grellroten See, ersetzt mit ihrer Perle den romantischen Sonnenuntergang. Auf dem schwarz-weißen Hintergrund eines stillen Meerespanoramas klebt glitzernd eine überbordende Anzahl von Delfinstickern, und eine bläulich-schimmernde Kunststoffechse findet sich auf eine Collage von Spielzeugbergen montiert. Das Meer und seine Geister, seine leblosen, falschen Stellvertreter aus Kunststoff, die den endlosen Ozean in unseren Haushalten repräsentieren, setzt Jenny Schäfer in ihrer aktuellen Serie in Szene und kombiniert sie mit der echten Welt da draußen.

Textbeitrag in Camera Austria International 152/2020, S. 43–54.