DUNCAN FORBES

Immaterieller Tramp

Der Film Postmodern Times (2017) von Michael Mandiberg ist eine Neuschöpfung von Charlie Chaplins Modern Times (Moderne Zeiten, 1936), die Einstellung für Einstellung von freien Mitarbeiter*innen nachgestellt wurde, die über Fiverr, einen Online-Marktplatz für digitale Dienstleistungen, angeheuert wurden. Das in mehr als 25 Ländern mit 182 Darsteller*innen gedrehte Ergebnis ist eine widersprüchliche und auf seltsame Art und Weise fesselnde Transformation des Originals. Der Tramp und seine unzähligen globalen Darsteller*innen tappen ins und aus dem Bild und führen die gegenwärtige digitale Fabrik in einen kritischen Dialog mit der berühmtesten satirischen Interpretation ihrer fordistischen Vorgängerin. Damit wirft Mandiberg – wie auch in anderen Kunstwerken – Fragen auf zu künstlerischer Arbeit, zur Methode der Aneignung und zur Mikropolitik zeitgenössischen Kunstschaffens.

Wenn es Mandibergs Ziel ist, unser Verständnis von Arbeit in der Kunst zu vertiefen, dann ist es notwendig, präzise zu sein, was die Politik von Produktion, Post-Produktion, Genehmigungen, Namensnennung und Vertrieb anbelangt. Tatsächlich sind die Bedingungen, die diese Bereiche steuern, zentral für die Arbeit. Mittels Software unterteilte Mandiberg Modern Times in 581 Ausschnitte, zu denen dann jeweils Beschreibungen verfasst wurden (die in der Folge zu einem Drehbuch wurden). Im Anschluss veröffentlichte Mandiberg Anfragen auf Fiverr, in denen Freischaffende aufgefordert wurden, zunächst einen Ausschnitt einzureichen. Waren sie erfolgreich, erhielten sie an die zehn weitere, quer durch den Film verteilte Szenen. Die Qualität der Darstellung oder des Schauspiels war dabei kein Kriterium – die einzige Anforderung lautete, dass der Film horizontal gedreht werden musste. Akteur*innen erhielten zwischen 5 und 40 US-Dollar pro Ausschnitt, abhängig von der Komplexität der Inszenierung, der Dauer der Einstellung und der Anzahl der involvierten Darsteller*innen. Die Ausschnitte wurden dann prä­zise bearbeitet, um den Film zu rekonstruieren, und mit Szenen aus dem Original durchsetzt, um die Erzählung entsprechend einzubetten und die Gegenüberstellung zwischen fordistischer und digitaler Fabrik zu verankern. Postmodern Times weist die gleiche Länge und grundsätzlich die gleiche Struktur wie sein Vorgänger auf. Sämtliche Schauspieler*innen werden zu Beginn des Films genannt, für die Regie zeichnet Mandiberg verantwortlich. […]

Die Arbeitsverhältnisse des Films, die Ökonomien seiner Herstellung und Vorführung sind bezeichnenderweise die Botschaft von Postmodern Times. Sie stehen jedoch auch in Einklang mit umfassenderen Diskussionen, die aktuell zum Zustand künstlerischer Arbeit stattfinden, insbesondere in Verbindung mit den Texten von Dave Beech.¹

1 Dave Beech, Art and Value. Art’s Economic Exceptionalism in Classical, Neoclassical and Marxist Economics, Boston: Brill 2015.

Textbeitrag in Camera Austria International 158/2022, S. 9–18.

MARINA VISHMIDT

Sicherheitstheater. Über Pilvi Takalas Close Watch

Auf den ersten Blick lässt Pilvi Takalas jüngstes Projekt, das derzeit im finnischen Pavillon auf der 59. Venedig Biennale zu sehen ist, einen Wendepunkt vermuten. Während die Künstlerin mit ihren Projekten in der Vergangenheit häufig die Grenzen des akzeptablen Verhaltens in öffentlichen/privaten Räumen wie Disneyland oder Einkaufszentren austestete, tritt sie in Close Watch (2022) als Hüterin der »öffentlichen Ordnung« auf. Aber was macht diese Ordnung aus und wen schließt sie ein? Dies sind einige der Fragen, die das Projekt aufwirft, und wie sich zeigen wird, reichen die möglichen Antworten weit über den Kontext hinaus, in dem die Künstlerin sie stellt.

Der spezifische Charakter von Takalas bisherigem Werk lässt sich anhand der Art und Weise beschreiben, wie sie die Institutionskritik »externalisiert«. Sie richtet ihre Kritik nicht auf die Kunst, sondern benutzt diese, um Felder wie Marketing und Gaming oder soziale Codes zu unterwandern, zum Beispiel jene, die vorschreiben, dass man Geld in einem opaken Behältnis mit sich trägt oder Fremde in Co-Working Spaces nicht berührt. Die Tatsache, dass die Kunst ihr als Hilfsmittel dient und nicht etwa als Alibi, ist für ihre Praxis essenziell: Ihren Status als Künstlerin legt sie in diesen unheimlichen Erkundungen nie offen. Wie in früheren Projekten arbeitete sie auch in Close Watch nach dem geheimdienstlichen »Need-to-know«-Prinzip: Höhere Führungskräfte wurden über das Vorgehen informiert, nicht aber die Kolleg*innen, damit die Finte auch funktionierte. Ein wesentlicher Unterschied bestand jetzt allerdings darin, dass die Kolleg*innen Takala einige Wochen vor dem geplanten Ende ihres Personaleinsatzes googelten und dass die Künstlerin außerdem nicht von dem Unternehmen eingeladen oder beauftragt worden war. Auch gab es in Close Watch nicht wirklich eine Finte. Takala initiierte das Projekt selbst und absolvierte alle dafür erforderlichen, vermutlich wenig umfangreichen Schulungen, um als Sicherheitskraft in einem der größten Einkaufszentren in Finnland zu arbeiten. Ebenso wichtig: Die bei der Arbeit entstandenen Beziehungen zwischen Takala und ihren temporären Kolleg*innen, die in monatelangen Gesprächen und gefilmten Forumtheater-Workshops erweitert wurden. Einige von ihnen sind in der Installation auf der Biennale zu sehen und werden in der Begleitpublikation vorgestellt. In diesem Sinne nimmt Close Watch eine entschiedene Sozialisierung jener verworrenen Selbstbetrachtungen vor, zu denen Takalas bisherige Arbeiten zunächst die Betrachter*innen und erst an zweiter Stelle die anderen Anwesenden in jenen codierten Räumen anregten, durch die sie sich bewegte.

Textbeitrag in Camera Austria International 158/2022, S. 19–28.

ANTHONY CARFELLO

Mit Kathi Hofer bei der Arbeit

In den letzten Jahren ist »Die Zukunft der Arbeit« im Schreiben und Publizieren zu einem unausweichlichen Klischeetitel geworden. Im Gegensatz zu den von vornherein feststehenden Schlussfolgerungen, die aus solchen Überschriften üblicherweise gezogen werden, bietet die in Berlin lebende österreichische Künstlerin Kathi Hofer eine nuancierte Befragung der Begriffe Tätigkeit, Arbeit und Branding, wobei sie verschiedene Blickwinkel einnimmt und die Betrach­te­r*innen an diverse Schauplätze führt. Hofers Praxis umfasst Fotografien, gefundene Objekte und performative Interaktionen und erinnert an den Ansatz des US-amerikanischen Chronisten Studs Terkel in seiner Interview-Sammlung Working (1983), in der »Menschen darüber sprechen, was sie den ganzen Tag tun, und wie es ihnen mit dem geht, was sie tun«, wie es im Untertitel des Buches heißt. Nur dass Hofers Untersuchungen aktualisiert sind, um auch Fern­arbeit, »Anti-Arbeit«, Prekarität und das, was der Anthropologe David Graeber »Bullshit-Jobs« nennt, zu berücksichtigen – also all das, was in den Jahren seit dem Erscheinen von Working neu aufgekommen ist. Hofer fragt, was Menschen tun/taten und wie sie sich fühlen/fühlten, aber auch, warum sie es tun/taten und für wen, und was sie stattdessen lieber wären beziehungsweise tun würden/getan hätten. Ihre eigene Tätigkeit beschreibt sie als Übersetzung, die zwangsläufig auf etwas folgt, das erst hervorgebracht wurde, um dann von einer zukünftigen Warte aus überdacht zu werden.

Hofers HOFER (2016) kommt viele Jahre nach deren Blütezeit noch einmal auf eine inzwischen nicht mehr existierende Handelsmarke zurück. Mit der katalogisierenden Denkweise einer Archäologin widmet sie sich dem Geschäft ihrer Großeltern im österreichischen St. Johann im Pongau, das von 1947 bis 2003 auf die Herstellung und den Verkauf von Walkjankern spezialisiert war. Bei einem Walkjanker handelt es sich um eine traditionelle alpenländische Jacke, die in einem aufwendigen Prozess des Strickens und anschließenden Kochens von Schurwolle hergestellt wird, um das Gewebe möglichst wetterfest zu machen. Für ihren Beitrag zu einer Zwei-Personen-Ausstellung im mumok in Wien (Hawser/Hofer, 4. März bis 22. Mai 2016) erstellte Hofer anhand der physischen und werblichen Überreste der Firma eine Biografie der verblichenen Corporate Identity. Die Künstlerin installierte eine Auswahl von Hofer-Gilets und -Jankern an den Wänden sowie an einer Kleiderstange, die unter einem gefundenen Sweatshirt mit der fröhlichen Aufschrift »Best Company« platziert war. Daneben waren mit Leinen bezogene Tafeln in einer Weise angeordnet, die an minimalistische Malerei denken ließ. An den beiden größten Tafeln waren Wollmuster und darauf abgestimmte Krawatten des Modedesigners und Hofer-Enthusiasten Kenzō Takada befestigt.

Textbeitrag in Camera Austria International 158/2022, S. 29–38.

JENS ASTHOFF

Natur des Menschen

Ein Stück Graubrot wird zum Bild: geducktes Oval, grobporig blass und mit krustigem Rand wie ein Rahmen. Von schräg oben fotografiert, ganz so, als läge es vor einem auf dem Teller. Doch es gibt kei­nen Teller. Es gibt nur das Brot. Freigestellt, ohne greifbaren Umraum, deutlich vergrößert. Die schlichte Konzentration auf den Ge­gen­stand. Das Bild hat auch ein Pendant: die gleiche Scheibe Graubrot, nun mit Butteraufstrich, wie die erste knapp formatfüllend fotografiert. In lichtem Grau erzählt die Motivfolge von Mate­rialauftrag und Basis und ist so flächig-bildhaft präsent, dass sich das beinahe als Paraphrase von monochromer Malerei und Leinwand deuten ließe: der raue Bildgrund, das Allover, die dynamische Geste – alles da. Die fotografische Inszenierung verleiht dem Gegen­stand bei aller Lakonie und Nüchternheit etwas Ikonisches. Doch von da aus spricht die Fotofolge zugleich von etwas völlig anderem: Sie ist als komprimiertes Bild von Alltag lesbar. Auf denkbar minimalistische Weise wird da ein Grundnahrungsmittel vor Augen gestellt: unser täglich Brot, Ernährung im Infinitiv, exemplarisch vor und nach der Zubereitung.

Es ist diese Art Präzision zur Mehrdeutigkeit, die charakteristisch ist für Laura Bielaus Fotografie: Meist sieht man auf den Bildern recht genau, um was es sich handelt, doch nicht immer ohne Weite­res, worum es geht.¹ Die Offenheit, die semantische Anschlussfähigkeit von mal einfachen, mal hochspezifischen Motiven fungiert künstlerisch sinnstiftend. Kontext ist ein entscheidendes Momentum, bei Bielau steht kein Bild für sich allein. Sie erarbeitet ihre Sujets in Werkgruppen – ein Prozess, der sich oft über Jahre erstreckt und in dem sie ihre Themen qua Recherche vielfältig einkreist und motivisch entwickelt. So entstehen ihre Fotos etwa während Aufenthalten in Forschungseinrichtungen und Arbeitsstätten, bei der In­ter­­netsuche, aus Alltagserfahrungen – aber auch als Inszenierungen im Atelier. Die Bildproduktion durchläuft einen fortwährenden Prozess von Auswahl und Neuordnung, Bielau komponiert Reihen, verdichtet Bildfolgen. Zuletzt münden diese – außer in Ausstellungen – im Format des Fotobuchs: Dort sind Bilder in eine feste Syntax² gerückt, greifen zur Kontextualisierung gleichsam nach den Seiten hin aus und deuten so den Raum der Abfolgen und Nachbarschaften aus.

1 »Eigentlich ist es gerade der Reiz, dass es so unterschiedliche Motive sind.« Laura Bielau im Gespräch mit dem Autor am 29. April 2022 in ihrem Berliner Atelier. Alle folgenden Zitate Bielaus entstammen diesem Gespräch.
2 Bielau spricht von »einer Art Grammatik in der Fotografie«, in der »es um Lesbarkeit geht, ähnlich, wie man Bücher liest.« Man müsse sich »auf die Bilder einlassen und genau hinschauen, […] eigentlich in allen Bildern, die ich mache.«

Textbeitrag in Camera Austria International 158/2022, S. 39–48.

OLAMIJU FAJEMISIN

Die Kehrwertfunktion der Zeit

Es gibt viele Künstler*innen, die Filme machen, sich aber nicht als »Filmemacher*innen« bezeichnen würden oder diesen Titel verdienen – auf den britisch-ghanaischen Künstler und Filmemacher Larry Achiampong aber trifft beides zu. Seine jüngsten Filme erzählen mit postkolonialer Kritik beladene Geschichten, die teils als Reaktion auf das derzeit beunruhigende politische Klima in Großbritannien, teils als Memoiren oder Relikte entstanden sind. Achiampong, der in unterschiedlichen Medien, wie etwa Skulptur, Installation, Fotografie und Performance arbeitet, ist vor Kurzem mit seiner Familie aus London weggezogen und führte das Zoom-Gespräch mit mir von seinem neuen Atelier aus, das an der Themse in Essex liegt. In einer Reihe von Anekdoten, bei denen es um persönliche Erinnerungen ebenso ging wie um die Geschichten hinter seinen Lieblingsvideospielen, erklärte mir Achiampong die Logik hinter den Welten, die er in seinen Kurzfilmen und in seinem kürzlich veröffentlichten Spielfilmdebüt festhält.¹

Die Serie Relic Traveller (seit 2017) bietet vielleicht den besten Einstieg in Achiampongs Werk. Über mehrere Abschnitte hinweg wird hier durch verschiedene Sound- und Filmarbeiten, Performances, Fahnen und Skulpturen ein Gewebe aus panafrikanischen Geschichten ausgebreitet. Dieser epische, intermediale Stoff durchfließt mehrere bedeutsame Orte unter der gedanklichen Voraussetzung einer nahen Zukunft, in der die Infrastrukturen des »Globalen Westens« zusammengebrochen sind und die »Afrikanische Union« zu einer neuen Weltmacht aufgestiegen ist. Die Mischung aus Erzählsträngen von sozialer Verunsicherung, weißem Nationalismus, Postkolonialismus, Vertreibung und Migration lässt vermuten, es handele sich um eine Art Nacherzählung oder Gedenken. Wie sich jedoch herausstellt, hat Zeit im Werk des Künstlers eine Kehrwertfunktion. Etwas, das man einfachheitshalber »Afrofuturismus« nennen könnte, blitzt zwar immer wieder auf – die Titelheldin ist Mitglied der »Relic Travellers’ Alliance«, ausgerüstet mit Weltraumforschungstechnologie hat sie den Auftrag, aus der Afrikanischen Union auszureisen, um Informationen zu sammeln, die im Zuge des politischen Zusammenbruchs in alle Winde verstreut wurden – doch handelt es sich nicht um eine utopische Vision. Trotz der mythischen, fast schon revisionistischen Prämisse ächzt jeder einzelne Aspekt des Werks unter der Last postkolonialer Spannungen.

1 Alle Zitate des Künstlers stammen aus einem Gespräch zwischen ihm und der Autorin dieses Textes, das am 20. April 2022 stattfand.

Textbeitrag in Camera Austria International 158/2022, S. 49–58.