Camera Austria International

161 | 2023

  • CARLOS KONG
    Ein Bild ist ein Migrant ist ein Monument ist einer Erinnerung
  • AYKAN SAFOĞLU
  • ALEXANDRA JUHASZ
    Eine mediale Praxis der Schadensbegrenzung
  • SKY HOPINKA
  • ROSALYN D’MELLO
    Gemolkene Zeit
  • CHIARA BARDELLI NONINO
    Im Garten der Scheidewege
  • ALBA ZARI
  • SARAH ZÜRCHER
    Die Diaspora durch die Linse der Erinnerung, der Vertreibung und des Seeverkehrs
  • ZINEB SEDIRA

Vorwort

Die in Camera Austria International Nr. 161 vorgestellten Arbeiten widmen sich dem weiten Spannungsfeld um Zugehörigkeit, Ver-Ortung, Migration und Identität. Zusammen kommen hier Positionen, die diese Themen auf ganz unterschiedliche Weise vermitteln und in deren Werken nicht allein die Repräsentation des Individuums im Zentrum steht. So arbeiten die vorgestellten Künstler*innen bisweilen auch in kollaborativen Kontexten und beziehen Archivmaterial und persönliche, mündlich weitergetragene Geschichten ebenso ein wie Texte, Objekte und Fundstücke. Nicht zuletzt geht es in den präsentierten Arbeiten auch um Fragen der Sichtbarmachung von familiären und durch gleiche Anliegen verbundenen Gemeinschaft(en), die sich unserer alltäglichen Wahrnehmung entziehen, die Rolle fotografischer und filmischer Bilder in der Vermittlung historischer, mitunter verdrängter Narrative und um eine kritische Hinterfragung, wie Identität und das Gefühl von Zugehörigkeit konstruiert und über Generationen weitergegeben werden.

 

Volltext

Camera Austria International 161 | 2023
Vorwort

Die in Camera Austria International Nr. 161 vorgestellten Arbeiten widmen sich dem weiten Spannungsfeld um Zugehörigkeit, Ver-Ortung, Migration und Identität. Zusammen kommen hier Positionen, die diese Themen auf ganz unterschiedliche Weise vermitteln und in deren Werken nicht allein die Repräsentation des Individuums im Zentrum steht. So arbeiten die vorgestellten Künstler*innen bisweilen auch in kollaborativen Kontexten und beziehen Archivmaterial und persönliche, mündlich weitergetragene Geschichten ebenso ein wie Texte, Objekte und Fundstücke. Nicht zuletzt geht es in den präsentierten Arbeiten auch um Fragen der Sichtbarmachung von familiären und durch gleiche Anliegen verbundenen Gemeinschaft(en), die sich unserer alltäglichen Wahrnehmung entziehen, die Rolle fotografischer und filmischer Bilder in der Vermittlung historischer, mitunter verdrängter Narrative und um eine kritische Hinterfragung, wie Identität und das Gefühl von Zugehörigkeit konstruiert und über Generationen weitergegeben werden.

Ausgehend von Walter Benjamins in den 1930er-Jahren verfass­tem, skizzenhaften Erzählband Berliner Kindheit um neunzehnhun­dert arbeitet Carlos Kong heraus, wie Aykan Safoğlu in seinem Schaffen sowohl Bilder aus fotografischen Archiven, transgenerationale Erfahrungen und Traumata sowie autobiografische Erlebnis­se zusammenbringt. »In den vergangenen zehn Jahren hat Aykan Safoğlu in seiner künstlerischen Praxis eine eigenständige fotografische Sprache entwickelt, mit der er schemenhafte Erinnerungen an sein Aufwachsen in Istanbul und seine gelebten Migrationserfahrungen zwischen der Türkei und Deutschland abbildet. Safoğlus migrantischer Blick – aus der Perspektive seiner spezifischen historischen Situiertheit heraus – ist rückblickend und vorausschauend zugleich.«

Sky Hopinka entwickelt in Dislocation Blues aus dem Jahr 2017 eine »mediale Praxis der Schadensbegrenzung«, wie Alexandra Juhasz es formuliert. Die Autorin liest das Video, in dem Hopinka das von April 2016 bis Februar 2017 eingerichtete Protestcamp entlang der Dakota Access Pipeline in Standing Rock punktuell filmisch begleitet und auch die Stimmen von zwei Aktivist*innen einbringt, im Kontext der »Philadelphia Principles« des Kollektivs Mad Ecologies. Kernthema dieses Manifests ist ein Eintreten für eine bessere, solidarische Gesellschaft, die trotz all der individuellen Unterschiede ihrer Mitglieder in gemeinsamen Anliegen und dem Wunsch, die kollektiven Träume zu realisieren, verbunden ist. »Im Camp sind Leute über Differenzen hinweg, im Kampf, im Protest zu Familie geworden. Nicht für sich selbst, sondern für ein neues, bewegliches Wir.« 

Rosalyn D’Mello reflektiert in ihrem autotheoretischen Essay »Gemolkene Zeit«, wie sich ihre Arbeit als Autorin seit der Geburt ihres Sohnes verändert hat und inwiefern sich der Prozess des Schreibens und die Verschriftlichung ihrer weiblichen Subjektivität seither in ihren Alltag integrieren: »Zum Teil widerstrebt mir das Schrei­ben aus Angst vor Frustration sowie davor, endlich den geheiligten Gedankentempel betreten zu können, nur um an dessen Schwelle festzustellen, dass mir gerade genug Zeit für einen flüchtigen Blick ins geweihte Innere bleibt, nicht aber zum Verweilen – weil Körper und Aufmerksamkeit schon wieder anderswo benötigt werden.« Zum Tragen kommen dabei auch ihre Situiertheit zwischen ihrer Familie mütterlicherseits in Indien und der Familie ihres Partners in Südtirol, wo sie seit Beginn der Pandemie lebt, und davon ausgehend die Verbindungen, die sich über Kontinente und Generationen hinweg entspinnen.

Auch Alba Zari beschäftigt sich in den Projekten The Y (2014–16) und Occult (2019) mit ihrer Familiengeschichte. Während sie in The Y mittels Recherchen und forensischen Methoden bestrebt ist, etwas über die Identität ihres leiblichen Vaters, den sie nie kennengelernt hat, zu erfahren, versucht sie in Occult den Lebensweg ihrer Mutter und deren Verstrickungen in die Sekte Children of God, in der auch die Künstlerin die ersten Jahre ihres Lebens verbracht hat, nachzuzeichnen. »Zwangsläufig vielschichtig und komplex ist die Arbeit, die auch bei den Betrachter*innen Spuren hinterlässt. Permanent wird man hier mit unangenehmen Fragen und Fakten konfrontiert, unablässig an die fundamentale Mehrdeutigkeit der Fotografie erinnert, eines Mediums, das Fiktion, Propaganda und Wahrheit gleichermaßen mit unerschütterlichem Eifer dienen kann«, beschreibt Chiara Bardelli Nonino die Arbeit.

Sarah Zürcher kontextualisiert das langjährige, überaus komplexe und vielschichtige Werk von Zineb Sedira, die im Jahr 2022 Frankreich bei der Biennale di Venezia vertreten hat und die Themen um Migration, familiäre Verbundenheit und die komplexen Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien seit Beginn ihres künstlerischen Schaffens immer wieder in den Blick nimmt. »Fasziniert von der Idee der Bewegung und Verpflanzung, von Fragen der Ursprungs und der Urheberschaft, durchdenkt sie das Thema geografischer und kultureller Entwurzelung neu, untersucht es aber auch historisch mittels verschiedener Erzählweisen, die als Hüllformen des an soziale, ökonomische und politische Dimensionen gebundenen Gedächtnisses fungieren.«

Mit Ende des Jahres 2022 hat Reinhard Braun, der dem Projekt Camera Austria seit 1992 in verschiedensten Rollen verbunden war und 2011 gemeinsam mit Maren Lübbke-Tidow als Chefredakteurin (bis 2013) die Leitung der Institution übernommen hat, seine Tätigkeit als Künstlerischer Leiter von Camera Austria und als Herausgeber der Zeitschrift Camera Austria International zurückgelegt. Wir freuen uns, auch in Zukunft an diese langjährige Zusammenarbeit anzuknüpfen, und dass er mit dieser Ausgabe die Kolumne übernimmt. Ab sofort wird Reinhard Braun in den »Re-Readings« gemeinsam und abwechselnd mit Marc Ries kanonische Bücher der Fototheorie in den Blick nehmen und diese aus heutiger Sicht neu betrachten und in zeitgenössische Überlegungen zur Fotografie einbetten. Darüber hinaus dürfen wir Ihnen mit dieser Ausgabe auch unsere neue Kollegin Anna Voswinckel vorstellen, die das Team von Camera Austria seit Beginn dieses Jahres ergänzt und das Ausstellungsprogramm ab Herbst 2023 mit uns gestalten wird. Für die gleichnamige Rubrik der aktuellen Ausgabe hat sie in der Bibliothek von Camera Austria mit Annelies Štrbas Shades of Time ein Buch ausgewählt, das ihr im Fotografiestudium eine komplexe Auseinandersetzung mit den verschränkten Themen Herkunft, Zugehörigkeit und Verortung eröffnete.

Während diese Ausgabe von Camera Austria International in den Druck geht, jährt sich der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann. Seither mussten Millionen Menschen das Land verlassen oder leben in der Ukraine in einer Realität, die mit dem Alltag, wie man ihn vor dem Krieg kannte, nichts mehr zu tun hat. Wir haben uns entschieden, das Forum dieser Ausgabe zu nutzen, um ukrainischen Fotograf*innen eine Stimme zu geben und haben Kateryna Radchenko, Leiterin und Kuratorin der Odesa Photo Days, eingeladen, die Arbeit von sechs jungen ukrainischen Künstler*innen vorzustellen. 

Susan Sontag hat die Frage aufgeworfen, »[…] wie stark uns Fotos darin beeinflussen, welchen Katastrophen und Krisen wir unsere Aufmerksamkeit schenken, worum wir uns kümmern und letztlich auch, wie wir diese Konflikte beurteilen.« Dennoch gibt es immer wieder Katastrophen, die diesen – stets auch ideologischen – visuellen Filter durchdringen, wie es gerade die Berichte aus dem Süden der Türkei und dem Nordwesten Syriens angesichts des Erdbebens im Februar dieses Jahres tun, dessen Folgen für uns unvorstellbar bleiben. Mehr als 42 000 Menschen (Stand 16. Februar) haben bei diesem ihr Leben verloren, Zehntausende wurden verwundet oder sind auf der Flucht aus den völlig zerstörten Gebieten. Wir möchten Sie einladen, Ihnen nahestehende Organisationen, die sich für humanitäre Hilfe in Syrien und der Türkei (und auch in der Ukraine) einsetzen, zu unterstützen, um den Menschen vor Ort zu helfen. Wir möchten Sie aber auch dazu aufrufen, kritisch die Rhetoriken um eine Politik über die Anderen zu verfolgen, die sich immer wieder parasitär in die Berichterstattung über derartige Katastrophen einnisten und unsere Wünsche nach Empathie, Fürsorge und Gemeinschaft untergraben.

Margit Neuhold, Jakob Thaller, Christina Töpfer
März 2023

Cover: Zineb Sedira, Detail aus: Dreams Have No Titles, 2022, geloopte Videoprojektion in einem Cinema Set Design mit vintage Stühlen; Dreams Have No Titles, 2022, Set Design für die Neuverfilmung des Films F for Fake von Orson Welles, 1973. Ausstellungsansicht auf der 59. Internationalen Kunstausstellung – La Biennale di Venezia, 2022, ko-kuratiert von Yasmina Reggad, Sam Bardaouil und Till Fellrath; Generalkommissar: Institut français. Foto: Thierry Bal.

Beiträge

Forum

Vorgestellt von Kateryna Radchenko
Nazar Furyk
Olia Koval
Marisya Myanovska
Lisa Bukreyeva
Maryna Brodovska
Vitali Galanzha

Ausstellungen

Sven Johne: Vom Verschwinden. Videos und Fotografien
Kunstsammlung Jena, 26. 11. 2022 – 5. 3. 2023
JULIA DEBUS und TOBIAS NEUMANN

Anna Jermolaewa: Number Two
Schlossmuseum Linz, 23. 11. 2022 – 5. 3. 2023
SUSANNE NEUBURGER

Gloss, Matt, Colour: Photography and Warsaw in the 1990s
Muzeum Warszawy, Warsaw, 20. 10. 2022 – 19. 2. 2023
EWA BORYSIEWICZ

Sanja Iveković: Works of Heart (1974–2022)
Kunsthalle Wien, Vienna, 4. 10. 2022 – 12. 3. 2023
ANNA BARFUSS

Maryam Mohammadi, Joachim Hainzl: Wir schaffen das!
Arbeiterkammer Wien, 18. 11. 2022 – 28. 4. 2023
WALTER SEIDL

On Multiplicity, Difference, Becoming and Heritage. Bamako Encounters – African Biennale of Photography
Various venues, Bamako, 8. 12. 2022 – 8. 2. 2023
EVA MARIA OCHERBAUER

Documentary Genealogies: Photography 1848–1917
Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid, 16. 11. 2022 – 27. 2. 2023
ALEXANDRA SYMONS-SUTCLIFFE

Ölrausch und Huzulenkult. Fotografische Streitobjekte aus Galizien und der Bukowina
Volkskundemuseum Wien, 18. 11. 2022 – 26. 3. 2023
ANTON HOLZER

Sasha Huber: You Name It 
Turku Art Museum, Turku, 9. 6. – 27. 8. 2023
Autograph, London, 11. 11. 2022 – 15. 3. 2023
The Power Plant, Vancouver, 4. 2. – 1. 5. 2022
Kunstinstitut Melly, Rotterdam, 9. 4. – 12. 9. 2021
MAX L. FELDMAN

FLIGHT: Kudzanai Chiurai, Frida Orupabo & Eric Magassa
Malmö konsthall, 4. 2. – 9. 4. 2023
FRIDA SANDSTRÖM

Rosana Paulino: The Liability of Threads
Kunstverein Braunschweig, 3. 12. 2022 – 19. 2. 2023
ANA HUPE

Marina Gržinić and Aina Šmid: Dissident Histories
Loža Gallery, Koper, 25. 11. 2022 – 28. 2. 2023
FRANCESCA LAZZARINI

Günther Selichar: Schirmherrschaft
Museum der Moderne Salzburg, 26. 11. 2022 – 12. 3. 2023
Kunstsammlung Gera – Orangerie, 6. 4. – 11. 6. 2023
JAKOB THALLER

Matthias Groebel: A Change in Weather (Broadcast Material 1989–2001)
Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen Düsseldorf, 10. 12. 2022 – 26. 2. 2023
CHRISTINA IRRGANG

Gottfried Jäger: Photographs of Photography. Generative Systems from 1960 to 2020
Sprengel Museum Hannover, 8. 2. – 23. 4. 2023
STEVEN HUMBLET

Bücher

Susanne Altmann, Katalin Krasznahorkai, Christin Müller, Franziska Schmidt, Sonia Voss (Hg.), Hosen haben Röcke an
Hatje Cantz, Berlin 2023
Gabriele Stötzer, Der lange Arm der Stasi
Spector Books, Leipzig 2022
PETER KUNITZKY

Mame-Diarra Niang, The Citadel: a trilogy
MACK, London 2022
EIKO GRIMBERG

Andrew Dewdney, Forget Photography
Goldsmiths Press, London 2021
TACO HIDDE BAKER

Erika Balsom, Hila Peleg (eds.), Feminist Worldmaking and the Moving Image
The MIT Press, Cambridge, Massachusetts 2022
NAOKO KALTSCHMIDT

Bibliothek
Anna Voswinckel
Annelies Štrba: Shades of Time – Lars Müller Publishers,
Zürich 1997

Re-Readings
Reinhard Braun
Roland Barthes’ Die helle Kammer, revisited 

Impressum

Herausgeber: Verein CAMERA AUSTRIA. Labor für Fotografie und Theorie.

Verlag, Eigentümer: Verein CAMERA AUSTRIA. Labor für Fotografie und Theorie.
Lendkai 1, 8020 Graz, Österreich

Redaktion: Margit Neuhold, Jakob Thaller (Redaktionsassistenz), Christina Töpfer (Chefredaktion)

Übersetzer*innen: Dawn Michelle d’Atri, Elena Helfrecht, Amy Klement, Lea Kostenick, Katrin Mundt, Wilfried Prantner

Englisches Lektorat: Dawn Michelle d’Atri.

Dank: Reinhard Braun, Maryna Brodovska, Lisa Bukreyeva, Leslie Compan, Alix de La 
Chapelle, Rosalyn D’Mello, Nazar Furyk, Vitali Galanzha, Melanie García, Eiko Grimberg, Sky Hopinka, Steven Humblet, Alexandra Juhasz, Susanne Kappelmann, Carlos Kong, Olia Koval, Tanya Lee, Tanya Leighton, Margarethe Makovec, Gavin 
McCormick, Andrew McNeely, Alexandra 
Migacz, Maryam Mohammadi, Christin 
Müller, Marisya Myanovska, Chiara 
Bardelli Nonino, Hila Peleg, Kateryna 
Radchenko, Jorge Ribalta, Aykan Safoğlu, Zineb Sedira, Anna Voswinckel, Sabine Weier, Emir West, Alba Zari, Zheng Zhang, Karin Zimmer, Sarah Zürcher

Copyright © 2023
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit vorheriger Genehmigung des Verlags. Für übermittelte Manuskripte und Originalvorlagen wird keine Haftung übernommen.

ISBN 978-3-902911-73-5
ISSN 1015 1915
GTIN4 19 23106 1800 9 00161