Camera Austria International
169 | 2025
- ORIT GAT
Der Brutalist - BERTRAND CAVALIER
- NORA STERNFELD
Welches Ich? Welches Wir? »Das Lebensgefühl der Unzugehörigkeit« in den Arbeiten von Leon Kahane - LEON KAHANE
- ASHIK & KOSHIK ZAMAN
Auf dünnem Eis. Ein kollektives Tagebuch - SANDRA VITALJIĆ
- RAIMAR STANGE
Ideologische Körper, visuelle Radikalisierung - JAKOB GANSLMEIER & ANA ZIBELNIK

Vorwort
Als wir die vorliegende Ausgabe von Camera Austria International konzipierten, geschah dies als Reaktion auf die Wahlergebnisse im Herbst 2024 in Österreich und bevor Mitte Dezember 2024 vorgezogene Bundestagswahlen in Deutschland angekündigt wurden. […] Die Verbreitung und Akzeptanz des Rechtspopulismus, der Umgang mit dem Erbe des Faschismus, die Abgrenzung vom vermeintlich Anderen und ein damit einhergehender Rückzug ins Private sind Themen, die Gesellschaften weltweit in den letzten Jahren und ins besondere aktuell prägen. Jedes für sich und gemeinsam adressieren die in der Märzausgabe von Camera Austria International vorgestellten Projekte von Bertrand Cavalier, Leon Kahane, Sandra Vitaljić sowie von Jakob Ganslmeier & Ana Zibelnik diese dringlichen Themen und öffnen einen vielstimmigen Assoziationsraum, anhand dessen sich die Situiertheit des Individuums in prekären politischen Gemengelagen ablesen lässt.
Volltext →Camera Austria International 169 | 2025
Vorwort
Als wir die vorliegende Ausgabe von Camera Austria International konzipierten, geschah dies als Reaktion auf die Wahlergebnisse im Herbst 2024 in Österreich und bevor Mitte Dezember 2024 vorgezogene Bundestagswahlen in Deutschland angekündigt wurden. Seit her scheinen sich die Ereignisse zu überschlagen: Die an die Öffentlichkeit gedrungenen Details der blauschwarzen Koalitionsverhandlungen, die zeitgleich zur Finalisierung dieser Ausgabe doch noch gescheitert sind, zeigen, mit welcher Rücksichtslosigkeit gegenüber Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie die FPÖ das Ziel verfolgt (hat), Österreich grundlegend umzubauen. In Deutschland hat CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz Anfang Februar 2025 mit seiner geplanten Verschärfung der deutschen Asylpolitik, für die er auf Unterstützung durch Stimmen der rechtsextremen AfD baute, polarisiert und die Brandmauer gegen die AfD gefährlich beschädigt. Währenddessen vollzieht Donald Trump mit seinen Provokationen, Grönland in die USA einzugliedern, den Gazastreifen zu übernehmen, um ihn in eine »Riviera des Nahen Ostens« zu verwandeln, sowie mit dem rasanten Erlass von Dekreten, die weitreichende Konsequenzen für die amerikanische Zivilgesellschaft wie auch für in die USA eingewanderte Personen haben, nahezu täglich aufs Neue ein Leugnen und Instrumentalisieren von faschistischer Geschichte. Die hier beispielhaft genannten politischen Manöver bringen auch zahlreiche Errungenschaften liberaler Demokratien in Gefahr, beispielsweise jene, die die Rechte von marginalisierten, schwächeren und ärmeren Bevölkerungsgruppen sichern.
Die Verbreitung und Akzeptanz des Rechtspopulismus, der Umgang mit dem Erbe des Faschismus, die Abgrenzung vom vermeintlich Anderen und ein damit einhergehender Rückzug ins Private sind Themen, die Gesellschaften weltweit in den letzten Jahren und ins besondere aktuell prägen. Jedes für sich und gemeinsam adressieren die in der Märzausgabe von Camera Austria International vor gestellten Projekte von Bertrand Cavalier, Leon Kahane, Sandra Vitaljić sowie von Jakob Ganslmeier & Ana Zibelnik diese dringlichen Themen und öffnen einen vielstimmigen Assoziationsraum, anhand dessen sich die Situiertheit des Individuums in prekären politischen Gemengelagen ablesen lässt.
Orit Gat beschäftigt sich in ihrem Essay über das Projekt Concrete Doesn’t Burn (2018/2020) von Bertrand Cavalier mit den Spuren, die Krieg und Zerstörung in verschiedensten europäischen Städten hinterlassen haben und wie diese nachwirken, auch wenn sie nicht immer unmittelbar sicht- und greifbar sind. Wie die Autorin schreibt, geht es Cavalier um das Wechselverhältnis zwischen Individuum und Architektur, die Frage, wie sich die Menschen in den gebauten Umgebungen, die der Künstler in seinen Schwarz-Weiß-Fotografien in den Blick nimmt, verorten und darum, welchen Platz sie in dem Gefüge von Geschichte, Erinnerung und zeitgenössischer Urbanität einnehmen (können): »Wer ist jemals durch eine Stadt gelaufen und hat nicht von den Ruinen eines vergangenen Konflikts, einer Katastrophe oder eines Traumas erfahren?«
In ihrem Text über die langjährige – die Medien Fotografie, Film und Installation einschließende – Arbeit von Leon Kahane arbeitet Nora Sternfeld heraus, wie der Künstler Bilder und deren komplexe Verwicklungen in politische Vergangenheit und Gegenwart betrachtet und dabei immer wieder auch die ideologische Vereinnahmung dieser Bilder reflektiert. Scheinbar selbstverständliche Repräsentationen werden hinterfragt, wobei Kahane »mit und an Formen und Methoden, mit denen dies geschehen kann [arbeitet]. Dabei gelingt es ihm, den Anschein der Unschuld und Unmittelbarkeit künstlerisch zu durchkreuzen und dabei sowohl etwas zu zeigen als auch die Mechanismen der Repräsentation selbst zu repräsentieren«.
Sandra Vitaljić wiederum nimmt ihre eigene Erfahrung als Migrantin in Schweden zum Ausgangspunkt, um die persönlichen Berichte verschiedener ebenfalls nach Schweden eingewanderter Frauen mit Fotografien, Herbaren und textbasierten Elementen zusammenzubringen und aus diesem Material ein »kollektives Tagebuch« zu generieren. Im Zentrum dieser mehrstimmigen Erzählung über weibliche Migrationserfahrung und die damit verbundene(n) Assimilation(sschwierigkeiten) steht die »Hinterfragung der prekären Position einer Einwanderin: zum Beispiel der Tatsache, dass man trotz Überqualifikation nie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wird oder dass man aufgrund eines ›fremd‹ klingenden Namens nicht einmal eine Antwort auf eine Wohnungsanzeige er hält.« Ashik und Koshik Zaman, die in einer von Bangladesch nach Schweden ausgewanderten Familie aufgewachsen sind, haben Vitaljić in Stockholm getroffen und mit ihr über die unterschiedlichen Bezugspunkte in I Just Greet Back (seit 2019) gesprochen.
Das Gespräch, das Jakob Ganslmeier & Ana Zibelnik für diese Ausgabe mit Raimar Stange geführt haben, nimmt die Installation Bereitschaft (2024) des Künstler*innen-Duos zum Ausgangs punkt. In der auf zahlreichen TikTokVideos basierenden und mithilfe von MotionDesign entwickelten Arbeit hinterfragen Ganslmeier & Zibelnik die Unreflektiertheit, mit der im Nationalsozialismus verankerte (militaristische) Ästhetiken auf unterschiedlichen Social-Media-Plattformen nicht nur von der rechten Szene vereinnahmt, sondern auch von einer auf »Bro Kultur« basieren den Mainstreamkultur aufgegriffen und idealisiert werden. Das Gespräch thematisiert auch die frühere Arbeit Haut, Stein (2017– 2020) sowie das fortlaufende Projekt Fault Line (seit 2023), welches sich Klimakatastrophen an verschiedenen Orten im Süden Europas und den Schlussfolgerungen der betroffenen Menschen widmet.
Das Forum, welches von Lucie Stahl gemeinsam mit elf Studierenden ihrer Klasse für Künstlerische Fotografie an der Kunstuniversität Linz über das Wintersemester 2024/2025 hinweg entwickelt wurde, nimmt ebenfalls die vielen Stimmen, die uns täglich in den Medien wie auch in sozialen Netzwerken begegnen, auf. Dabei be fassten sich die Studierenden mit Fragen nach künstlerischen Zugängen als Gegenimpuls zum empfundenen Stillstand und experimentierten mit verschiedenen formalen und technischen Möglichkeiten der Bildproduktion.
Die Vielfalt der Medienlandschaft, und mit ihr ein unabhängiger und kritischer Journalismus, wird in Zeiten politischen und wirtschaftlichen Drucks verstärkt infrage gestellt. Wir möchten uns an dieser Stelle einmal mehr für Ihr Interesse und Ihre Unterstützung von Camera Austria International bedanken, halten Sie uns auch in Zukunft die Treue! Denn Ihre Unterstützung – unserer Institution wie auch der zahlreichen anderen Medien, Kunst und Kulturinitiativen, die einem der Komplexität unserer Gegenwart gerecht werdenden Diskurs Raum geben – ist wichtiger denn je.
März 2025
June Drevet, Christina Töpfer
Cover: Leon Kahane, aus der Serie: FRONTEX, 2008. Analoge großformatige Fotografie. Courtesy: der Künstler und Galerie Nagel Draxler, Berlin / Köln / München.
Beiträge
Forum
Vorgestellt von Lucie Stahl
Florentin Kurz & Viktor Szeberin
Katharina Maria Wimmer, Jonas Heigl
Nora Mühlögger
Eleonora Hrybniak, Johanna Ines Bräunig
Luka Vidak, Morten Johannsen
Ali Yaghoubi, Wendelin Haas
Ausstellungen
To the Tune of . . .
Alain Géronnez: Espérance de bon cap
Ètablissement d’en face, Brüssel, 15. 11. – 15. 12. 2024
YOAN VAN PARYS
Sphären, um zu reflektieren
Mirage
Kunstverein Braunschweig, 7. 12. 2024 – 23. 2. 2025
CHRISTINA IRRGANG
Time Won’t Give You Time
Julieta Aranda: Clear Coordinates for Our Confusion
MUAC – Museo Universitario Arte Contemporáneo, Mexico City, 23. 11. 2024 – 11. 5. 2025
MOHAMMAD SALEMY
Knowledge Is a Garden. Uriel Orlow in Dialogue with the Migros Museum für Gegenwartskunst
Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich, 28. 9. 2024 – 19. 1. 2025
MARIE-LAURE ALLAIN BONILLA
Tabita Rezaire: Calabash Nebula
TBA21 – Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid, 8. 10. 2024 – 12. 1. 2025
ESTELLE NABEYRAT
Nico Mureş: The Office After Dark
Sandwich Gallery, Bukarest, 14. 11. 2024 – 31. 1. 2025
MAXIMILIAN LEHNER
Andrea Orejarena & Caleb Stein: Viral Hallucinations #1. Tactics and Mythologies
PHOXXI, Deichtorhallen Hamburg, 7. 9. 2024 – 26. 1. 2025
MARINUS REUTER
Crisfor: capricci – ohne KI mit Aura
FOX, Wien, 26. 11 – 10. 12. 2024
Belinda Kazeem-Kamiński: Ire T’ónlọ Lọ́wọ́ / Blessings, ongoing
Wonnerth Dejaco, Wien, 31. 10. – 19. 12. 2024
Ins Dunkle schwimmen. Abgründe des kreativen Imperativs
Kunstsammlung und Archiv im Heiligenkreuzerhof, Wien, 16. 10. 2024 – 1. 2. 2025
Beatrice Santiago Muñoz: Elogio al disparate
Secession, Wien, 6. 12. 2024 – 23. 2. 2025
Marysia Paruzel: Svetlana
Can, Wien, 12. 12. 2024 – 30. 1. 2025
CHRISTIAN EGGER
Rineke Dijkstra: Beach Portraits
Städel Museum, Frankfurt am Main, 13. 12. 2024 – 18. 5. 2025
Rineke Dijkstra: Still—Moving. Portraits 1992–2024
Berlinische Galerie, Berlin, 8. 11. 2024 – 10. 2. 2025
MARK PRINCE
Luigi Ghirri: Viaggi. Photographs 1970–1991
MASI – Museo d’arte della Svizzera italiana, Lugano, 8. 9. 2024 – 26. 1. 2025
RICA CERBARANO
Floridas: Anastasia Samoylova and Walker Evans
The Metropolitan Museum of Art, New York, 14. 10. 2024 – 11. 5. 2025
MARCUS CIVIN
Cihad Caner: (Re)membering the riots in Afrikaanderwijk in 1972 or guest, host, ghos-ti
Kunstinstituut Melly, Rotterdam, 20. 9. 2024 – 27. 4. 2025
TACO HIDDE BAKKER
Potential Histories
Zachęta – National Gallery of Art, Warschau, 19. 10. 2024 – 2. 2. 2025
ARKADIUSZ PÓŁTORAK
Bücher
Joy Gregory, Taous R. Dahmani (eds.), Shining Lights: Black Women Photographers in 1980s–90s Britain
MACK Books, London 2024
GABE BECKHURST
Auf Augenhöhe – Das Kind als Maß der Fotografie. Neue Fundstücke aus dem umfangreichen Nachlass von Edith Tudor-Hart
Shirley Read (Hg.), Poverty for Sale. Edith Tudor-Hart in Britain
MuseumsEtc, London 2024
Leyla Daybelge, Stefanie Pirker (Hg.), Through a Bauhaus Lens. Edith Tudor-Hart and Isokon
Isokon Gallery Trust, London; Fotohof Edition, Salzburg 2024
Brigitte Blüml-Kaindl, Kurt Kaindl, Peter Schreiner, Stefanie Pirker (Hg.), Edith Tudor-Hart. Ein klarer Blick in turbulenten Zeiten
Fotohof Edition, Salzburg 2025
ANNE KÖNIG
Spuren von Verwitterung und Erinnerung an Verbitterung
Sophia Kesting und Dana Lorenz, Asphalt, Steine, Scherben
Vexer Verlag, St. Gallen; Berlin 2024
ANNA-LENA WENZEL
Miki Kratsman, Bedouins
Asia Publishers, Ramat HaSharon 2023
AVI BOLOTINSKY
Anja Schürmann, Kathrin Yacavone (Hg.), Die Fotografie und ihre Institutionen. Von der Lehrsammlung zum Bundesinstitut
Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2024
PETER KUNITZKY
Ariella Aïsha Azoulay: Civil Imagination. A Political Ontology of Photography
Verso, London; New York 2012
ANA DE ALMEIDA
Schauplatz der Spur, Praxis der Verräumlichung
Rosalind Krauss, Das Photographische. Eine Theorie der Abstände
REINHARD BRAUN
Impressum
Verein CAMERA AUSTRIA. Labor für Fotografie und Theorie.
Verlag, Eigentümer: Verein CAMERA AUSTRIA. Labor für Fotografie und Theorie.
Lendkai 1, 8020 Graz, Österreich
Chefredaktion: Christina Töpfer.
Redaktion: June Drevet.
Übersetzer*innen: Dawn Michelle d’Atri, Elena Helfrecht, Amy Klement, Clemens Ruthner.
Englisches Lektorat: Dawn Michelle d’Atri.
Dank: Ana de Almeida, Abdul Sharif Oluwafemi Baruwa, Johanna Ines Bräunig, Bertrand Cavalier, Crisfor, Alessandra Ferrini, Jakob Ganslmeier, Orit Gat, Wendelin Haas, Jonas Heigl, Nikolaus Hirsch, Eleonora Hrybniak, Morten Johannsen, Leon Kahane, Kurt Kaindl, Jelena & Dejan Kaludjerović, Sandra Križić Roban, Florentin Kurz, Nora Mühlögger, Robert Müller, Simon Nagy, Mykola Ridnyi, Or Shemesh, Lucie Stahl, Raimar Stange, Nora Sternfeld, Viktor Szeberin, Stefaan Vervoort, Luka Vidak, Sandra Vitaljic, Katharina Maria Wimmer, Ali Yaghoubi, Ashik Zaman, Koshik Zaman, Ana Zibelnik, Jens Ziehe.
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