TOBIAS ZIELONY

Nan Goldin: Ein Gespräch

Zielony Wie siehst du deine neue Arbeit eigentlich? Sie wirkt eher dokumentarisch. Du fährst an diesen Ort, hast begrenzt Zeit …
Goldin Ich kehrte immer wieder zu denselben Leuten zurück. Aber nur für eine Woche, nicht für Jahre oder Monate. Anfangs wollten die von uns, dass wir einfach alle Aspekte im ganzen Land abdecken.
Zielony Journalistisch?
Goldin Ja. Ich will noch einmal nach Kiew. Da sind immer noch ein paar Leute, die ich befragen und fotografieren möchte. Wir planen auch, nach Odessa zu gehen. Aber ich mag die Arbeiten, die wir gemacht haben. Im Pinchuk zeige ich eine frühere Diashow zum Thema AIDS, das »Cookie Portfolio« (1976 – 1989), und dann haben wir noch diese neue Vier-Minuten-Show gemacht, die ich sehr schön finde. Und die drängen mich immer noch, mehr zu machen. Aber was soll’s, wir wollen ohnedies mehr machen.
Zielony Weil du das für wichtig hältst?
Goldin Ja. Aber nicht der Galerie wegen, sondern für die Leute in der Ukraine. Wie viele Leute gehen schon in diese Galerie? Wie viele von denen, die wirklich in dieser Situation sind, gehen dahin? Man erzählt mir, dass da täglich Tausende hinkommen. Aber wie viele von denen, die das wirklich betrifft, werden es sich in einer Galerie ansehen? Das ist das Problem.
Zielony Ich weiß – das ist etwas, das mich die ganze Zeit beschäftigt. Andererseits, denk daran, was du in New York erreicht hast. 1989, als du die erste Ausstellung über AIDS kuratiert hast.¹ 15.000 kamen zur Eröffnung.
Goldin Der Red Ribbon entstand da, und der Day Without Art.
Zielony Das war unglaublich! Aber ich verstehe dieses Gefühl.

¹ “Witnesses: Against our Vanishing”, Artists Space, New York City,
16.11.1989 – 6.1.1990.

Textbeitrag in Camera Austria International 125/2014, Seite 9–22.

MAREN LÜBBKE-TIDOW

Seiichi Furuya: Staatsgrenze

»Wo kommt ein Staat an seine Grenze?«¹ Es ist diese rhetorisch vieldeutige Figur, die Seiichi Furuya gezielt einsetzt, um die Motivation für seine Arbeit »Staatsgrenze« zu beschreiben, eine Arbeit, die in den Jahren 1981 bis 1983 in Österreich entstanden ist. Die Grenzen eines Staates auffinden – das klingt nach einem utopischen Unterfangen. Mit einem simplen konzeptionellen Zugriff jedoch dringt Seiichi Furuya zum zweifelsfrei brüchigen Kern jener nationalstaatlichen Ordnungen, wie sie sich nach den zwei Weltkriegen in Eu-ropa zu etablieren versucht hatten: indem er die Grenzgebiete seiner Wahlheimat Österreich aufsucht, sie abschreitet und ihre ordnenden Organe – die Zollwache resp. Grenzpolizei – wie auch die Bevölkerung nach ihren Erfahrungen befragt. Entstanden sind so Schwarzweiß-Fotografien von Orten entlang der österreichischen Grenze zu den damaligen sogenannten Ostblockstaaten Jugoslawien, Ungarn und Tschechoslowakei sowie ein paar zu ihnen gehörende Textsentenzen, denen Seiichi Furuya eine Landkarte wie auch ein Nachwort aus seiner Feder hinzufügt und zu einer zunächst 23-teiligen, später erweiterten Serie zusammenfasst. Ein zweites Nachwort zur Arbeit entsteht 1990 nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. 2013 wird diese Arbeit erstmals in Berlin ausgestellt,² 2014 wird »Staatsgrenze« – um Aufnahmen von sechs weiteren Orten ergänzt – erstmals in Buchform vorliegen.³

¹ Seiichi Furuya im Gespräch mit der Autorin.
² In der Galerie Thomas Fischer, »Seiichi Furuya – I prefer to be on this side«. Berlin, 16.11.2013 – 18.1.2014.
³ Staatsgrenze / Border. 1981 – 1983 wird anlässlich einer Ausstellung im Heidelberger Kunstverein (Eröffnung: 29. August 2014) von Spector Books, Leipzig, und dem Izu Photo Museum, Shizuoka, herausgegeben.

Textbeitrag in Camera Austria International 125/2014, Seite 23–34.

KAUCYILA BROOKE

Allan Sekula (January 15, 1951 – August 10, 2013)

Seine Fotografien zeigen, wie rastlos er reiste, um Bilder vom Ozean aufzunehmen – und von den Schiffen, die ihn befahren, um in Korea, Kalifornien, China, Polen, Portugal und Japan produzierte Güter zu transportieren. Er lässt auch die Bilder gern oszillieren, zeigt uns oft zwei nur Sekunden auseinanderliegende Aufnahmen ein und derselben Szene. Wie in der »Untitled Slide Sequence« sind diese Bilder instabil, ändert sich die Bedeutung von einem Bild zum anderen. In »Fish Story« (1989 – 1995) machen Rohrschlosser den Maschinenraum eines Thunfischfängers fertig, mit anmutig choreografierten Bewegungen in einer Mise en Scène aus Schläuchen und Rohren, die langen Arme in einem Port de bras von einem Bildrand zum anderen ausgestreckt. In der Hyundai-Werft schneidet eine Arbeiterin Stahl. Auf dem zweiten Bild bewegt sie ihr Schneidegerät zum nächsten Schnitt weiter und hält kurz inne, um – schräg durch die Schutzbrille ins Objektiv blickend – die Anwesenheit des Fotografen zu quittieren. Ein anderer Arbeiter nimmt einen großen Bohrer auf die Schulter und stemmt im folgenden Bild seinen Körper dagegen, um das Gewicht des Gerätes zu stützen. In der Verschiebung von einer Aufnahme zur nächsten zeigen uns all diese paarweisen Aufnahmen einen Aspekt von Sekulas Begegnung mit diesen Menschen. Im Gegensatz zur Monumentalität des ikonischen Arbeiterbildes, wie es durch Lewis Hine oder Margaret Bourke-White Berühmtheit erlangte, beharren diese Bilder auf dem sozialen Moment der fotografischen Begegnung, der Besonderheit jedes einzelnen Subjekts, dem Geschick in der Ausführung der beobachteten Tätigkeiten.

Textbeitrag in Camera Austria International 125/2014, Seite 35–46.

DAN BYERS

Joachim Koester: Some Boarded Up Houses

Sie stehen allein und sind doch tief in ein soziales System eingebunden. Deutlich abgesetzt, aber fast immer von der Überwucherung durch die Natur bedroht, strahlen Joachim Koesters zwangsgeräumte, mit Holzplatten versiegelte Häuser eine trockene, traurige Magie aus: geradlinige totemistische Underdogs, die nicht einmal die Romantik von Ruinen haben. Trotz des bewussten und evokativen Dialogs, den die aktuelle Serie des Künstlers »Some Boarded Up Houses« (2009 – 2014) mit Bernd und Hilla Bechers fotografischen Industrietypologien unterhält, sind die Fotografien jedoch – schon aufgrund der Genealogie von Koesters Praxis und einer fast gespensterhaften, vielleicht sogar den Bildern selbst innewohnenden Qualität – von einer Art des Unheimlichen durchdrungen, die dem seriellen Programm der Bechers fehlt.
Koesters Projekt begibt sich auf die Spur von Häusern in US-amerikanischen Städten, die zum Gegenstand einer Zwangsvollstreckung wurden, und macht damit die Überschneidung von räuberischen Kreditvergabepraktiken, spekulativem Kapitalismus und einem US-spezifischen Umgang mit dem Kauf, Verkauf und der Akzeptanz von Schulden an konkreten Orten fest. Als Thema zahlloser Nachrichtenberichte verweist das Schicksal dieser Häuser – und das Versagen des Kredit-, Bank- und Sozialwesens, für das sie stehen – auf viele der Probleme, die die USA seit einem Jahrzehnt heimsuchen. Dem »Amerikanischen Traum«, zu dem das Eigenheim um fast jeden Preis dazugehört, wird hier ein subtiles Bild von Albtraum und Spuk gegenübergestellt.

Textbeitrag in Camera Austria International 125/2014, Seite 47–58.

ALANNA LOCKWARD

Dekolonisierung des (weißen) Blicks 1/4
Wer peitscht?

»Schwarze und Menschen aus der dritten Welt sollen Weiße über ihr Menschsein aufklären. Frauen sollen Männer aufklären. Lesben und Schwule sollen Heterosexuelle aufklären. Die Unterdrücker halten an ihrem Standpunkt fest und entziehen sich der Verantwortung für ihr Handeln.«¹

Ihren ersten Dokumentarfilm »Reassemblage« (1981) leitet Trinh T. Minh-ha mit dem Satz ein: »Knapp zwanzig Jahre haben gereicht, zwei Milliarden Menschen dazu zu bringen, sich als unterentwickelt zu begreifen.« Auffällig an diesem Satz ist die Abwesenheit jeglicher historischer Kontinuität zwischen dem Begiff »Entwicklung« und seinem Vorläufer, der »Zivilisierungsmission« der europäischen Moderne. Mit der Analyse solcher epistemischer Kontinuitiäten haben Emmanuel Chukwudi Eze und Walter Mignolo wesentlich zu unserem Verständnis dekolonialen Denkens, Fühlens und Handelns als untrennbar von Geschichte und Herkunft beigetragen. Beide beschäftigen sich eingehend mit Immanuel Kants gleichzeitiger Erfindung von Anthropologie und Ästhetik und machen begreifbar, weshalb die Einführung des Weißseins (und anderer auf dem »Rasse«-Trugschluss beruhender Farbunterscheidungen) bis heute die weltweite Hyphenisierung der Kunst prägt.

¹ Audre Lorde, “Age, Race, Class, and Sex: Women Redefining Difference”, in Out There: Marginalization and Contemporary Culture, ed. Russell Ferguson et al. (Cambridge, MA: MIT Press, 1992), p. 281.

Textbeitrag in Camera Austria International 125/2014, Seite 73–74.