Pierre Bourdieu: Das Archiv
Infos
Seit 2001 betreut Camera Austria in Zusammenarbeit mit der Fondation Bourdieu, das Archiv von Fotografien des französischen Soziologen Pierre Bourdieu mit dem Ziel, diesen bis dahin nahezu unbekannten Bereich seiner Arbeit in einer Ausstellung und Publikation zugänglich zu machen.
Das Archiv ist zu Studienzwecken zugänglich. Bedingt durch die Fragilität des Materials können Negative, Originalfotografien und persönliche Notizen Pierre Bourdieus von Forscherinnen und Forschern nur nach persönlicher Terminvereinbarung eingesehen werden. Arbeits-Prints aller Fotografien sowie eine umfangreiche Auswahl von Veröffentlichungen Pierre Bourdieus können nach Anmeldung in der Studienbibliothek von Camera Austria eingesehen werden.
Intro
Fotoarchiv Pierre Bourdieu: Images d’Algérie, 1957 – 1961
In seinem ersten Buch Sociologie de l’Algérie (1958) nennt Pierre Bourdieu es als sein vorrangiges Ziel, Zeugnis abzulegen von den tatsächlichen Vorgängen in Algerien zum Zeitpunkt des Befreiungskrieges der 1950er-Jahre: Im Versuch, die Krise der algerischen Gesellschaft als »gesellschaftliches Laboratorium« zu verstehen, entwickelt er das anthropologische und soziologische Instrumentarium für seine wissenschaftliche Arbeit – für die er, neben anderen Methoden, auch die Fotografie einsetzt.
In seinen Untersuchungen und Dokumentationen widmet sich Pierre Bourdieu den tief greifenden Veränderungen und Auswirkungen der französischen Kolonialpolitik seit 1830: Die Zerstörung der Familienstrukturen und Solidarität, die den traditionellen Gesellschaften zugrunde liegen, führte zu sozialer, kultureller und ökonomischer Entwurzelung. Während des Befreiungskrieges kommt zur oktroyierten Modernisierung und der Verdrängung traditioneller Lebensformen die systematische Deportation von Millionen aus ländlichen Regionen (die zu verbotenen Zonen erklärt wurden, um der Befreiungsarmee die Unterstützung durch die bäuerliche Bevölkerung zu entziehen) in Umsiedlungslager (Centres de regroupement) und damit in die Abhängigkeit der Militärverwaltung. In den Städten herrscht Arbeitslosigkeit, die »Ökonomie des Elends« in den Elendsvierteln wird eines der zentralen Themen Bourdieus.
Die Fotografien Bourdieus zeigen die Widersprüche und Brüche in dieser Gesellschaft von Entwurzelten, zeigen die nebeneinander und gleichzeitig existierenden Unterschiede, die im urbanen Raum aufeinandertreffen. Sie zeigen auch Bourdieus affektive Bindung an dieses Land, seinen Respekt für die Menschen und die Bemühungen um eine Rehabilitierung traditioneller Kulturen.
Das vollständig digitalisierte Fotoarchiv »Images d’Algérie, 1957 – 1961« von Pierre Bourdieu umfasst einen Fundus von nahezu 1.200 fotografischen Aufnahmen, geordnet nach Archiv-Nummern. In enger Zusammenarbeit mit der Fondation Bourdieu wird das Archiv seit 2001 kuratorisch und editorisch von Camera Austria betreut. Unsere Arbeit mit dem Archiv zielte zu jeder Zeit darauf ab, diesen besonderen, davor kaum bekannten Aspekt im Werk Pierre Bourdieus im Kontext seiner Forschungen zu Algerien zu situieren. Zum einen, um seinem politischen und wissenschaftlichen Anspruch gerecht zu werden, aber auch, um einer vorwiegend ästhetisch begründeten Leseweise im Kunst-Zusammenhang vorzubeugen.
Der derzeitige Stand (2021) des Archivs umfasst 994 Negative im Format 6 × 6 cm, 9 Farbdias im Format 35 mm, weiters 216 Kontakt- beziehungsweise Arbeitsabzüge im Format zwischen 6 × 6 cm bis maximal 12,5 × 12,5 cm. Den neben den Negativen wichtigsten Korpus des Archivs bilden 230 großformatige Vintage-Abzüge im Format 24 × 24 cm, eine kleinere Gruppe davon im Format 30 × 30 cm, die von Pierre Bourdieu in drei Alben thematisch zusammengestellt worden waren. Von 107 dieser 230 Abzüge existieren keine Negative, das heißt diese Originalfotografien sind die einzigen Quellen, die uns noch zur Verfügung stehen. Titel und Datierungen stammen ausnahmslos von Bourdieu, ebenso wurde die Nummerierung der Negative als Archivnummer der Bilder beibehalten. Ortsangaben wurden dort, wo sie eindeutig aus vorhandenem Bildmaterial oder aus Publikationen ableitbar waren, ergänzt. Ein System von Buchstaben gibt darüber Aufschluss, ob sich im Archiv ein Originalabzug mit einem existierenden Negativ (N, P), nur ein Negativ (N), oder ein Originalabzug ohne existierendes Negativ (R) befindet. 2019 wurden von allen Negativen und Originalfotografien hochwertige Scans und digitale Arbeitsabzüge hergestellt, um die Originale nicht mehr dem Risiko weiterer Schädigungen auszusetzen. Das digitale Archiv umfasst derzeit 1.153 Objekte.
Pierre Bourdieu hat seit dem Entstehen dieser Fotografien nur wenige für Veröffentlichungen herangezogen, der allergrößte Teil seiner fotografischen Dokumentationen ist bisher unbekannt geblieben. Den Kennern des Werkes Bourdieus werden diejenigen Fotografien vertraut sein, die als Titelbilder für die Erstausgaben seiner Bücher gewählt wurden: »Le Déracinement« (mit Abdelmalek Sayad); »Travail et travailleurs en Algérie« (mit Alain Darbel et al.); »Algérie 60« und »Le Sens pratique« . Auch für Artikel und Interviews in Zeitschriften sind Fotografien aus dem Fundus verwendet worden. Zahlreiche Fotografien, die in Publikationen Verwendung fanden, sind jedoch nicht mehr im Archiv zu finden, zum Teil ist auch das Negativ nicht mehr vorhanden, darüber hinaus sind viele von den vielleicht 2000 Aufnahmen, die in den vier Arbeitsjahren entstanden waren, durch Umzüge verloren gegangen.
Die Fotografien Pierre Bourdieus sind vor allem das Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit, in diesem Sinne sind sie in einem konstruktiven Zusammenhang mit den zeitgleich entstandenen Texten zu sehen, und stehen damit in einem Kontext, sind historisch und thematisch gerahmt. Am Beginn unserer Arbeit stand die Aufgabe, die fotografischen Dokumentationen auf Zusammenhänge hin zu untersuchen, die Pierre Bourdieu in seinen Schriften analysiert. Wir haben das Archiv Pierre Bourdieus und alle Gegebenheiten dieser Sammlung von Negativen und Abzügen, Kommentaren und auch die Sammlung von Skizzen in den »fiches d’Algérie« (Notizensammlung aus Algerien) im Kontext der Studien Bourdieus zu lesen versucht. Von Pierre Bourdieu selbst stammen bereits Entwürfe, Bilder mit Texten zu kombinieren, an denen wir uns orientieren konnten.
Christine Frisinghelli, Kustodin des Fotoarchivs Pierre Bourdieu
Das Archiv
Pierre Bourdieu: Fiches d'Algérie
Materialien
- Franz Schultheis: Pierre Bourdieu und Algerien. Eine Wahlverwandschaft.
- Ein Gespräch zwischen Pierre Bourdieu und Franz Schultheis.
- Christine Frisinghelli: Anmerkungen zu den fotografischen Dokumentationen von Pierre Bourdieu.
- Ein Interview von Cathren Müller, Textbeitrag in Camera Austria International 73/2001, S. 4–8.
- Franz Schultheis, Pierre Bourdieu: Objektivierung als Beruf, Textbeitrag in Camera Austria International 76/2001, S. 3–7.
- Franz Schultheis: Pierre Bourdieu et l'Algérie. De l'affinité élective à l'objectivation engagée.
- Entretien entre Pierre Bourdieu et Franz Schultheis: Photographies d'Algérie.
- Christine Frisinghelli: Observations concernant les documentations photographiques de Pierre Bourdieu
Kontakt
Kustodin
Christine Frisinghelli
frisinghelli@camera-austria.at
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T. +43 / (0) 316 / 81 55 50 12
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