Walid Raad
Sweet Talk: Commissions (Beirut)
Infos
Zeitraum
29.1.2010 – 5.4.2010
Eröffnung
28.1.2010, 18:00
Im Rahmen der Eröffnung wird der Camera Austria-Preis für zeitgenössische Fotografie der Stadt Graz 2009 an Sanja Iveković verliehen.
Walid Raad
Sweet Talk: Commissions (Beirut)
Intro
In den späten 1980er Jahren, mitten in den „heißen“ Libanonkriegen, verschrieb ich mich der Produktion von Fotografien in Beirut. Ich gab diesem Vorhaben den Titel Sweet Talk und bezeichnete die fotografischen Aufträge, die ich mir selbst erteilte, als „Commissions“. In ihrem Zentrum standen die BewohnerInnen, Gebäude, Straßen, Ladenfronten, Gärten sowie andere Gegenstände, Situationen und Räume von Beirut.
Prägend für das Projekt war aber auch das Ende der Libanonkriege im Jahr 1989. 1992 hatte sich die Sicherheitslage in Beirut so weit gebessert, dass große Teile der Stadt für ihre BürgerInnen wieder in einer Art und Weise zugänglich wurden, wie es seit 17 Jahren nicht mehr der Fall gewesen war. Bald darauf wurde auch mit dem Wiederaufbau des zerstörten Stadtzentrums begonnen, was innerhalb wie außerhalb des Libanon die Hoffnung nährte, das Land könne sich wieder aus den Trümmern erheben. Leider ist es dazu nie gekommen. Vielmehr haben sich neue Trümmer auf die alten gehäuft, ist weiteres Blut geflossen und die Verzweiflung gewachsen angesichts
der nicht enden wollenden Übergriffe und Invasionen der Israelis, der Verstärkung von Syriens politischem, militärischem, ökonomischem und geheimdienstlichem Würgegriff, der immer neuen Lähmung der Stadt durch die unzähligen Bombardierungen und Attentate, der Verdichtung des latenten Gestanks politischer und sozialer Zwietracht, der bis heute die Luft verpestet, die wir atmen.
Walid Raad: Sweet Talk: Commissions (Beirut)
In den späten 1980er Jahren, mitten in den „heißen“ Libanonkriegen, verschrieb ich mich der Produktion von Fotografien in Beirut. Ich gab diesem Vorhaben den Titel Sweet Talk und bezeichnete die fotografischen Aufträge, die ich mir selbst erteilte, als „Commissions“. In ihrem Zentrum standen die BewohnerInnen, Gebäude, Straßen, Ladenfronten, Gärten sowie andere Gegenstände, Situationen und Räume von Beirut.
Prägend für das Projekt war aber auch das Ende der Libanonkriege im Jahr 1989. 1992 hatte sich die Sicherheitslage in Beirut so weit gebessert, dass große Teile der Stadt für ihre BürgerInnen wieder in einer Art und Weise zugänglich wurden, wie es seit 17 Jahren nicht mehr der Fall gewesen war. Bald darauf wurde auch mit dem Wiederaufbau des zerstörten Stadtzentrums begonnen, was innerhalb wie außerhalb des Libanon die Hoffnung nährte, das Land könne sich wieder aus den Trümmern erheben. Leider ist es dazu nie gekommen. Vielmehr haben sich neue Trümmer auf die alten gehäuft, ist weiteres Blut geflossen und die Verzweiflung gewachsen angesichts
der nicht enden wollenden Übergriffe und Invasionen der Israelis, der Verstärkung von Syriens politischem, militärischem, ökonomischem und geheimdienstlichem Würgegriff, der immer neuen Lähmung der Stadt durch die unzähligen Bombardierungen und Attentate, der Verdichtung des latenten Gestanks politischer und sozialer Zwietracht, der bis heute die Luft verpestet, die wir atmen.
Die 1987 begonnenen und immer noch fortgeführten selbst erteilten Aufträge bestehen jeweils aus Hunderten Negativen und Digitaldateien und wurden in Zeiträumen produziert, die von wenigen Wochen bis zu mehreren Monaten dauerten. Dennoch sind sie weniger durch ihr Produktionsjahr bestimmt als vielmehr durch die ihnen zugrunde
liegenden formalen, technischen und konzeptuellen Parameter. Ursprünglich wollte ich einfach nur Bilder in einer Stadt machen, die sich inmitten eines radikalen urbanen, ökonomischen, politischen und sozialen Umbruchs befand. Mit der Zeit fiel es mir aber immer schwerer, von den Bildern Abzüge zu fertigen und sie auszustellen. Mir wurde klar, dass die von mir aufgenommenen Bilder immer weniger auf die Personen, Situationen, Gegenstände und Räume referierten, die ich im Moment der Belichtung vor der Linse gehabt hatte. Es kam etwa vor, dass ich menschenbelebte Straßen fotografierte, die in den fertigen Bildern als leer erschienen; offene Geschäftslokale, die als geschlossen, Gesichter, die als Rückenansichten erschienen. In einigen Fällen erwies sich das Foto eines Gebäudes in einem bestimmten Stadtteil zugleich als ein Foto von zwei architektonisch ganz anderen Gebäuden in zwei anderen Stadtteilen. Anfangs verwarf ich derlei Dinge als konzeptuelle Verstiegenheiten, als lediglich eine weitere langweilige Reflexion über das Vermittlungsvermögen der Fotografie. Allerdings kam ich nie los von dem Gedanken, dass in Beirut etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Ich musste ständig an die Möglichkeit denken, dass sich die Personen, Straßen, Gebäude und Ladenfronten, die ich fotografierte, vielleicht nicht im Einklang mit der Zeit der Fotografie befänden. Schließlich gelangte ich zur Überzeugung, dass bei einem Gebäude in Beirut eine Belichtungszeit von wenigen Sekundenbruchteilen einer Belichtungszeit von sieben Jahrzehnten an jedem anderen Ort entspricht. In Beirut bewegte sich alles so rasend schnell, dass meine Verschlussgeschwindigkeit nicht mithalten konnte.
Während der letzten beiden Jahrzehnte habe ich ununterbrochen dokumentiert, auch wenn das von tiefen Zweifeln bezüglich dessen begleitet war,was ich da eigentlich dokumentierte. Ich begnügte mich einfach mit einer Praxis, die Beirut für die Nachwelt festhalten sollte. Zur selben Zeit – und ganz unabhängig von mir – erschuf sich der Schriftsteller Jalal Toufic in seinem Buch Forthcoming einen Mitarbeiter – ein Double in Form eines Fotografen –, der „die Dinge in der Geschwindigkeit des Krieges“1 sieht. Toufics Buch beschreibt auch den scheinbar sinnlosen Aufzeichnungszwang, dem ich instinktiv und mitunter verzweifelt seit nunmehr über zwanzig Jahren folge: „Wir müssen einfach Fotos machen, selbst wenn sie aufgrund des Verschwindens ihrer Referenten und bis zur Wiedererstehung derselben nicht als referenzielle Dokumentaraufnahmen zu gebrauchen sind – und selbst auf die Gefahr hin, dassdadurch thematische Facetten als rein formale missverstanden werden könnten.“2
Durch die zufällige Begegnung mit dem Fotografen Toufics, aber auch mit anderen nicht minder inspirierenden KünstlerInnen und SchriftstellerInnen, Konzepten und Formen kann ich heute Dutzende Fotografien aus Sweet Talk: Commission (Beirut) in dieser Grazer Ausstellung zeigen. Diese Fotos bilden nur einen Bruchteil des laufenden Projekts. Sie dokumentieren nicht nur einige Räume und BewohnerInnen Beiruts aus den vergangenen zwanzig Jahren, sondern auch Formen, Linien und Farben, die durch die Stadt, ihre BewohnerInnen, ihre Räume und ihr Tempo geschaffen wurden, sowie meine Suche nach den angemessenen fotografischen Mitteln, um mich mit ihnen auseinanderzusetzen.
1 Jalal Toufic, „Forthcoming“, in: The Withdrawal of Tradition Past a Surpassing Disaster, Los Angeles: Redcat 2009, S. 35.
2 Toufic, S. 30-31.