Presseinformationen
Die Stadt & Das Gute Leben | Site-Specific (Public) Lessons
Infos
Eröffnung / Staffellauf
18. September 2020, 17:00
Zeitraum
19.9.2020 – 21.2.2021
Site-Specific (Public) Lessons
Eggenberg – Echoraum
Ein Aktions- und Handlungsfeld von Nicole Six & Paul Petritsch
18.9. – 22.11.2020
If Time Is Still Alive
Ausstellung kuratiert von Urban Subjects
(Sabine Bitter, Jeff Derksen, Helmut Weber)
11.12.2020 – 21.2.2021
What Needs to Come Together in the End (Arbeitstitel)
Symposion
13. & 14.2.2021
In Kooperation mit Forum Stadtpark Graz
Ein Projekt für »Graz Kulturjahr 2020« von und mit:
BAWO Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe / Daniela Brasil / Gruppe »Bussi«, Abteilung für Ortsbezogene Kunst, Universität für angewandte Kunst, Wien / Camera Austria / Georg Dinstl & Uwe Gallaun / Eggenberger Vielfalt / Stadtteilprojekt EggenLend / Forum Stadtpark Graz / green.LAB Graz / Mathias Heyden & Dagmar Pelger / inspire – Bildung und Beteiligung / Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie, Karl-Franzens-Universität Graz / Jugend am Werk – housing first / Natur.Werk.Stadt / Büro für Pessi_mismus / Klaus Resch / Sara Selimagic / Nicole Six & Paul Petritsch / Department »Soziale Arbeit« der FH Joanneum / Spitze Nadeln / StadtLABOR / Stories2go / Talenteküche / topothek Graz, GrazMuseum / Universität zu Köln – Labor für Kunst und Forschung / Urban Subjects / Ultra-red / VinziNest / vor.ort | Stadtteilmanagement u. a.
Pressetext
»Nicht mehr der Markt, sondern die Aufteilung, nicht mehr die Werbung, sondern die Kunst durch und für jeden, nicht mehr die Konkurrenz, sondern die Solidarität, nicht mehr der Wettbewerb, sondern das Gemeinsame.«1
»Die Frage, in welcher Art von Stadt wir leben wollen, kann nicht von der Frage getrennt werden, welche Art von Mensch wir sein wollen, welche Formen von sozialen Beziehungen wir anstreben, welches Verhältnis zur Natur wir pflegen, welchen Lebensstil wir uns wünschen, an welchen ästhetischen Werten wir festhalten.«2
Die Frage nach dem guten Leben in der Stadt führt nicht zu einer Liste von Aufgaben oder zu erreichenden Zuständen – mehr Grünraum, weniger Arbeit, mehr Arbeitsplätze, mehr Vernetzung, bessere Infrastruktur, mehr Kultur, bessere Raumordnungspläne, weniger Subventionen, etc. –, sondern ist ein aufwendiges und auch mitunter anstrengendes work in progress. Schließlich, so schrieben wir – die Gruppe, die dieses Projekt gemeinsam entwickelt hat – in einem der zahllosen Texte, die zur Vorbereitung entstanden sind, ist das gute Leben kein Ideal, das zu erreichen wäre und auch kein fixes Konzept, das es umzusetzen gälte, sondern ein ständiger Prozess der Ausverhandlung und des Neuüberdenkens, des Teilens und der Teilhabe, des Revidierens und Wiederanknüpfens. Ein Vor und Zurück, ein Hin und Her. Aus diesem Grund stellten sich für uns zu Beginn eine große Anzahl von Fragen, die das Feld der Recherchen und des Engagements zunächst erheblich ausweiteten, als dass es sich hätte eingrenzen lassen.
Was wurde überhaupt aus der Idee des guten Lebens in der Stadt im fortschreitenden 21. Jahrhundert? Hat sie eine Geschichte? Wenn ja, welche? Muss sie verteidigt, rekonstruiert oder erneuert werden? Von wem, von welchen Interessen wird sie bedroht? Welche Aspekte unserer Gegenwart müssen zur Beantwortung dieser Fragen untersucht werden in einer Zeit, in der die Stadt, oder besser der Komplex des Urbanen, zu einem zentralen Phänomen vieler Gesellschaften geworden ist, leben doch immer mehr Menschen weltweit in immer größeren Städten oder Metropolen? Worauf stoßen wir, wenn wir uns in unserer lokalen Umgebung umsehen? Welche Rolle spielen Städte angesichts zahlreicher gesellschaftlicher, sozialer und kultureller Konflikte und Krisen?
All diese Fragen führen zu weiteren Fragen: Wie übersetzen wir hier in Graz diese Konflikte und Krisen im Hinblick auf lokale Situationen? Welche Bereiche umfasst überhaupt »unsere« Stadt, wie groß denken wir sie, was zählen wir alles zu »unserer« gemeinsamen Stadt? Welche Grenzen oder Schwellen durchziehen sie, welche sozialen Hierarchien? Welche Widersprüche lassen sich gemeinsam überwinden, welche gemeinsamen Interessen lassen sich identifizieren, welche Ansprüche an ein gutes Leben in der Stadt lassen sich gemeinsam formulieren? Wer wird Teil, wer kann Teil haben an diesem gemeinsamen Unterfangen?
Durch die krisenhaften Monate seit März 2020 kamen dann weitere Fragen hinzu: Welche Rolle spielen Fürsorge, Anteilnahme und gemeinschaftliche Initiativen? Welche Ressourcen, Netzwerke und Partizipationsmöglichkeiten für ein gutes Leben in der Stadt haben die vor allem ökonomisch orientierten Hierarchien der neoliberalen Stadt vernachlässigt? In welchen sozialen Formationen muss dieses gute Leben in Zukunft neu gedacht werden? Gegen welche Regulierungen und Regierungstechniken muss diese Idee des guten Lebens in Zukunft verstärkt eingefordert werden?
Welche Form müsste das Projekt »Die Stadt & Das gute Leben« annehmen, um in Hinblick auf diesen ausufernden Fragenkatalog ein Stück weiterzukommen?
Die Idee des guten Lebens hat in Europa eine lange gemeinsame Geschichte mit der Stadt. Bereits bei Aristoteles wurde die polis, das Gemeinwesen der Stadt, zusammen mit den höchsten Zielen und gemeinsam mit dem Wesen der Politik gedacht. Er definierte die polis als eine Gemeinschaft, die besteht, um das gute Leben und das Glück des Menschen zu suchen. Sie gründet sich, um ein Vorhaben zu beginnen, dessen Ende und Zweck in der Errichtung einer Gemeinschaft des guten Lebens besteht.3
Auf der anderen Seite der Welt, in Südamerika, bedeutet sie etwas völlig anderes. Sie stellt die westlichen Werte von »Wachstum« und »Entwicklung« in Frage, um das gute Leben gemeinschaftlich, ökologisch ausgewogen und kulturell einfühlsam zu erreichen. Die Erlangung eines »Guten Lebens für alle« – »buen vivir« oder »vivir bien« – hat in Ecuador (2008) und Bolivien (2009) Verfassungsrang erhalten und wird seitdem auch verstärkt international als Alternative für die Zerrüttung des sozialen Lebens und des Ausbeutens natürlicher Ressourcen durch den grassierenden Neoliberalismus debattiert. Auf diese Weise fordert dieses subalterne Konzept das hegemoniale Konzept von Entwicklung europäischen Ursprungs (und den Dialog damit) heraus. »In der Tat kann buen vivir als das erste großangelegte Experiment einer Kommunikation zwischen modernen und nichtmodernen Konzeptionen des guten Lebens betrachtet werden, zwischen Konzeptionen also, die unter dem eurozentrischen Prisma der Traditions- versus Modernitätsdichotomie als antagonistisch betrachtet wurden.«4 Das gute Leben stellt also auch »unser westliches« Leben in Frage.
Was das Format des Projekts anbelangt, haben wir – die Projektentwicklungsgruppe – uns dazu entschlossen, Akteur*innen einzuladen, die bereits im Feld sozialer Arbeit aktiv sind oder in Stadtteilzentren engagiert oder die über verschiedene Projekte an der Verbesserung des Lebens der Vielen arbeiten und »unsere« Stadt besser kennen als wir selbst. Und wir haben uns entschlossen, das institutionelle Profil von Camera Austria für eine gewisse Zeit auf den Kopf zu stellen. Wir gehen also hinaus in die Stadt, lassen unseren Raum für die Stadt und ihre Öffentlichkeiten zurück, und kehren dann nach einer gewissen Zeit mit den Partner*innen wieder zurück, um davon zu berichten oder zu zeigen, was wir vorgefunden haben, was wir uns gegenseitig gezeigt oder erzählt haben, mit welchen Menschen wir welche Dinge getan haben, wo wir uns eingemischt haben. Das ist die Idee hinter den – von den Künstler*innen Nicole Six & Paul Petritsch entwickelten – »Site-Specific (Public) Lessons«. Sie eröffnen einen Rahmen für Aktivitäten, sie ermöglichen ein Handlungsfeld, das durch Partizipation, Austausch und Transfer gekennzeichnet ist. Die Stadt und die Institution reagieren aufeinander wie Echos.
In der Stadt selbst engagieren wir uns in Eggenberg beziehungsweise im Stadtbereich Eggen-Lend. Dieser Bereich der Stadt scheint seit einigen Jahren eine immer wichtigere Rolle in der Grazer Stadtentwicklung zu spielen: Zahlreiche Wohnbauprojekte – Campus Eggenberg, die Eggenberge, Smart City und Teile der Reininghaus Gründe – verändern den Bezirk und dessen Infrastruktur und damit das Gesamtgefüge der Stadt; sie bringen neue Bewohner*innen nach Eggenberg mit ihren Geschichten, Erlebnissen, Erfahrungen, Wünschen und Ängsten. Darüber hinaus ist Eggenberg auch insofern interessant, weil sich die einzigen Übergangswohnungen der Stadt Graz in diesem Bezirk befinden und erstaunlich viele Sozialeinrichtungen – etwa das Vinzidorf und die vielen zusätzlichen Einrichtungen wie die Shops, die Ausspeisungen und Notschlafstellen als bekannteste Beispiele –, die viele Bewohner*innen wahrscheinlich gar nicht kennen. In gewisser Weise erscheint der Bezirk also als aktuelles soziales Experiment: Neuer Wohnraum entsteht, gleichzeitig ist die großteils unsichtbare Kehrseite – sozialer Abstieg und Ausgrenzung, Migration, Wohnungslosigkeit – ebenso präsent, fehlt aber in den offiziellen Prospekten der Stadt.
Die »Site-Specific (Public) Lessons« bilden den Rahmen einer Erkundung: Stadtteilrundgänge, Parklets, Workshops zu Gemeingut und Gartengestaltungen, Listening Sessions und Sound Walks, das Dumpstern von Pflanzen zur Wiederverwertung, Graffitis, Birkengulasch, Permakultur in der Stadt, Stories2go, eine Ausstellung auf Balkonen, ein mobiles Kino, das Gestalten und Nähen von Bannern zur Markierung von bestimmten Orten, die über einen Fragebogen erhoben werden, eine Wandzeitung, die unangekündigt an verschiedenen Orten auftaucht, oder die Gruppe »Bussi« aus Wien, die durch flüchtige Eingriffe einen unregulierten Gegensatz zur neuen Wohnraumordnung des Bezirks bildet. Verschiedenste Formate bieten Gelegenheiten, etwas über den Bezirk zu erfahren, sich darüber auszutauschen, Spuren zu hinterlassen, sich Orte zu erschreiben, sich über Filme zu unterhalten, es sich am Parklet auf einem großen Parkplatz für einen Augenblick gemütlich zu machen, der Unsichtbarkeit der Wohnungslosigkeit nachzuspüren, oder sich mit einem Mikrofon die Frage zu stellen: Wie klingt das gute Leben in der Stadt? Die Summe kleiner Gesten der Aneignung gegen die große Geste der Neuordnung.
Im Anschluss an diese Erkundungen kehren wir in die Innenstadt ins Eiserne Haus zurück und bringen mit, was wir gesehen und erfahren haben. Während wir in Eggenberg unterwegs waren, konnte der Ausstellungsraum in anderer Form genutzt werden. Bisher war dieser nur über den Eingang und das Foyer des Kunsthaus Graz zugänglich. Das Konzept der »Site-Specific (Public) Lessons« sieht vor, dass eine Außentreppe von der Straße direkt in den Ausstellungsraum führt und diesen für die Besucher*innen bei freiem Eintritt zugänglich macht: ein für jede*n einnehmbarer Raum der Stadt. Eine Basisausstattung bestimmt den Raum: eine Plakatwand, Schaumstoffelemente, die sowohl Präsentationen als auch das Sitzen oder Liegen während des Aufenthalts möglich machen. Bücherangebote, eine Pinnwand für Nachrichten und die Bewerbung von nichtkommerziellen Aktivitäten sowie weitere Angebote (Filme, Videos, ein Lesezirkel) sollen die Aktivitäten in diesem Raum rahmen.
Nun wird dieser Raum angereichert durch eine Ausstellung zur weiblichen Wohnungslosigkeit und eine anschließende Konferenz zum Thema, zieht die Ausstellung von den Balkonen aus Eggenberg in den Ausstellungsraum, wird ein Herbarium zusammengestellt als eine Form der Kartografierung von Stadt, thematisieren verschiedene »Stationen« das Thema der Wertschätzung, belegt eine Ausstellung die Rodung einer gesamten Straße aufgrund eines Straßenbahnprojekts und die Spuren, die wir in der topothek Graz hinterlassen haben, werden präsentiert.
Im Anschluss daran bereiten wir eine Ausstellung zur Frage der öffentlichen Zeit vor – »If Time Is Still Alive« – und eine Konferenz – »What Needs to Come Together in the End«: Was muss also am Schluss zusammenkommen, um die Frage des guten Lebens in der Stadt nochmals und immer wieder aufzurollen?
Was werden wir aus den Gesprächen, den Erzählungen, dem Gehen und Hören, dem Essen mit Bewohner*innen, den Bildern aus Privaträumen, von den Bäumen, den Herbarien, den Graffitis oder den Markierungen gelernt haben? Zum Zeitpunkt, als dieser Text geschrieben wird, liegen all diese Erfahrungen noch vor uns. Das Projekt »Die Stadt & Das gute Leben« wird also auch von einer Hoffnung getrieben: das Erfahren und das Denken der gemeinsamen Stadt zu verändern, aber auch unsere Rollen im Zusammenspiel dessen, was Stadt sein kann, zu verändern, als Personen wie als Institution.
Welches Denken ist aber notwendig, um Öffentlichkeit als etwas zu entwerfen, das es ermöglicht, »mit vollem Recht zu dieser Welt zu gehören, die uns gemeinsam ist«,5 unser »Recht auf Stadt« (Henri Lefebvre) wahrzunehmen? Wie denken schließlich verschiedene Bevölkerungsgruppen über ihren aktuellen Anteil am öffentlichen Leben und an Öffentlichkeiten? Haben nicht all jene Individuen und Gruppen, die einen Beitrag zur Produktion und Reproduk-tion der Stadt leisten, ein Recht darauf, zu entscheiden, welche Art von Stadtleben wo und wie hergestellt werden soll? Wie kann aber diese Vielstimmigkeit moderiert werden? Müssen wir uns nicht gerade dieser Aufgabe stellen und den schwierigen Weg gehen, die Vielen miteinzubeziehen, anstatt immer wieder mit Methoden der Verdrängung, Ausgrenzung und Abwertung zu antworten?
Der karibische Denker Édouard Glissant fordert gegen die Hegemonie der Einteilung, Ordnung und Klassifizierung, die immer nur Hierarchien hervorbringt, ein »[…] Denken der Spur […], das weder beherrschend noch bezwingend ist, sondern […] intuitiv, brüchig, ambivalent, das der außerordentlichen Komplexität der Welt, in der wir leben, am besten gerecht wird.«6 Insofern erscheinen die – vielleicht marginalen – Spuren, die wir mit diesem Projekt hinterlassen, nicht als Unterordnung unter eine als dominant akzeptierte Ordnung der Stadt, sondern als Zukunft dieser Stadt, in der nicht mehr der Wettbewerb, die Anleger*innen oder der Konsum die Möglichkeiten bestimmen, sich die Stadt anzueignen, sondern, wie es Ludivine Bantigny formuliert, die Solidarität und das Gemeinsame – ein Gemeinsames, dem wir mit diesem Projekt auf der Spur sind, wie wir hoffen.
Daniela Brasil, Reinhard Braun, Nicole Six & Paul Petritsch, Urban Subjects (Sabine Bitter, Jeff Derksen, Helmut Weber), Juli 2020
1 Ludivine Bantigny, “Die Zeit des Möglichen” (The Time of the Possible), in Lettre International 120/2018: May ’68, S. 38.
2 David Harvey, Rebel Cities (London / New York: Verso, 2012), S. 4.
3 Nikolai Roskamm, Die unbesetzte Stadt. Postfundamentalistisches Denken und das urbanistische Feld (Basel: Birkhäuser Verlag, 2017), S. 16–17.
4 Ana Patricia Cubillo-Guevara, Julien Vanhulst, Antonio Luis Hidalgo-Capitán, Adrián Beling, “Die lateinamerikanischen Diskurse zu buen vivir. Entstehung, Institutionaliserung und Veränderung” in PERIPHERIE, 1–2018, S. 8–28, S. 27.
5 Achille Mbembe, Critique of Black Reason (Durham, NC: Duke University Press, 2017), S. 176.
6 Édouard Glissant, Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit (Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn, 2005), S. 21.
Bildmaterial
Die honorarfreie Veröffentlichung ist nur in Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Ausstellung und die Publikation gestattet. Wir ersuchen Sie die Fotografien vollständig und nicht in Ausschnitten wiederzugeben. Bildtitel als Download unter dem entsprechenden Link.