Presseinformationen

Karina Nimmerfall: Indirect Interviews with Women

Infos

Hrsg. von Reinhard Braun.

Anlässlich der gleichnamigen Ausstellung, Camera Austria, Graz, 19.5. – 1.7.2018.
Mit einem Textbeitrag von Ben Highmore (ger./eng.).
Edition Camera Austria, Graz 2018.
160 Seiten, 20,4 × 25,5 cm, 120 Farbabbildungen.
€ 27,– / ISBN 978-3-902-911-43-8

 

Weitere Publikationen

Karina Nimmerfall: 1953. Possible Scenarios of a Discontinued Future

Karina Nimmerfall: cinematic maps

Pressedownloads

Pressetext

Für ihr Projekt “Indirect Interviews with Women” hat die Karina Nimmerfall im Mass Observation Archive der Universität Sussex recherchiert und Interviews ausgewählt, die im Jahr 1941 – während der Bombardierung Londons – mit Frauen über deren Lebenssituation, ihre Wünsche und Hoffnungen für die Zeit nach dem Krieg geführt wurden. Diesen – redigierten – Interviews stellt sie Fotografien gegenüber, die in jenen Stadtteilen aufgenommen wurden, in denen auch die Interviews stattfanden. In unterschiedlichen Registern – Sprache und Bild – werden vergangene Zukunftsvorstellungen einer Gegenwart gegenübergestellt, die sich kaum aus jenen ableiten lässt. Sosehr das Projekt auf einer umfangreichen Recherche beruht, besteht es im Wesentlichen aus einer wohlkalkulierten Leerstelle. Die Montagen in »Indirect Interviews with Women« erklären nicht, sie spannen Zeit und Raum als Widersprüche auf, als eine Kollision, als einen Konflikt, der nicht aufgelöst werden kann. Mit Bertolt Brecht könnte man davon sprechen, dass die Wirkung Nimmerfalls Arbeit, wie die jeder Montage, darin besteht, die Botschaft, die sie vermeintlich transportiert, in eine Krise zu stürzen. Um welche, um wessen Krise aber handelt es sich?

Auszug aus: Ben Higmore, »Alles ist Hinweis«

Alles in der Welt ist Hinweis; nur ist manchmal schwer zu sagen, worauf. In einer Welt aus Steinen und Träumen, Eseln und Theologie, Kopfschuppen und Eifersucht, ist es nicht sonderlich sinnvoll, der klassischen Aufforderung eines FBI-Agenten nachzukommen: »Halten Sie sich einfach an die Fakten, Ma’am«. Natürlich legt schon das Wort »Hinweis« nahe, dass etwas als ursächlich oder als Beweis für irgendein klar benennbares Phänomen gesehen wird. »Hinweise« scheinen in den Bereich der Steine, Esel und Kopfschuppen zu fallen. Was aber tun mit Hinweisen, die uns zu verstehen geben, dass die Welt sich unseren Versuchen, sie zu fassen, ständig entzieht, oder die uns daran erinnern, dass es mehr Dinge im Himmel und auf Erden gibt als unsere Schulweisheit sich träumt? Der erwiesene Unwille der Welt, ihre ganzen Geheimnisse preiszugeben, kann bezwingende Kunst entstehen lassen; und manchmal kommt diese Kunst auch im Gewand des Banalen und Alltäglichen daher.
Im Versuch, eine Welt auf den Kopf zu stellen, in der PolitikerInnen, Rundfunkleute und VerlegerInnen sich anmaßen, für die Bevölkerung zu sprechen, gründete 1937 eine kleine Gruppe von Künstler-JournalistInnen und Amateur-SozialforscherInnen das Projekt Mass Observation. Es wollte eine demokratische Rückkopplungsschleife sein, die die Leute für sich selbst sprechen lässt, statt einem Publikum zu erklären, was die Bevölkerung denkt. Preiswerte Taschenbücher, Radiosendungen sowie Zeitungs- und Zeitschriftenartikel sollten einen Raum schaffen, in dem unzählige gewöhnliche Menschen von ihrem Leben berichten und ihre Meinungen austauschen, und der als Gegenstück zur Meistererzählung des nationalen Common Sense fungiert. Mithilfe eines riesigen Freiwilligen-Pools, der die Aufgabe hatte, regelmäßig Fragebögen zu beantworten und Aufzeichnungen zu bestimmten Tagen zu verfassen, sowie mit endlosen Beobachtungen und Interviews machte sich Mass Observation sofort daran, ein riesiges Archiv des gewöhnlichen Lebens anzulegen. Das Projekt sammelte nicht nur unterschiedliche Meinungen, sondern kümmerte sich auch um Gewohnheiten und Bräuche, Stimmungen und Gefühle, Gerüchte und Einbildungen, mit dem Ziel, »Wetterkarten der populären Gemütslage«¹ zu erstellen. Um herauszufinden, wie die Bevölkerung fühlt, mussten ihre Träume und Albträume aufgezeichnet, ihre Routinen verfolgt und ihre Eigenheiten beobachtet werden. Und eben das hat Mass Observation, wenn auch etwas bruchstückhaft, getan und tut es – nach einem substanziellen Einschnitt in den 1960er und 1970er Jahren – immer noch.
Achtzig Jahre nach seiner Entstehung ist es leicht, das Archiv von Mass Observation als eine Überfülle an Indizien, eine Deponie des Aktuellen abzutun. Aber es fällt auch schwer, nicht vom radikalen Positivismus seiner Mission fasziniert zu sein und der Versuchung zu erliegen, die Unmengen an maschinen- und handbeschriebenem Papier nach Reaktionen auf Kriege und Regierungshandeln oder auf wechselnde Geschmäcker und Moden zu durchforsten. Angesichts von Dokumenten, die etwa auflisten, was 1937 und 1983 auf den Kaminsimsen abertausender Haushalte herumlag, hat man manchmal das Gefühl, in einem nationalen Bestandsverzeichnis von Ersatzknöpfen und Sicherheitsnadeln, ausländischer Münzen, Postkarten und Zahnarztterminzettel zu lesen.² Bisweilen scheint dabei die Vergangenheit transparent zu werden, als könnte man plötzlich hinter die Gardinen tausender Wohnzimmer blicken. Allerdings bilden Transparenz und Offenheit nur eine Seite der Geschichte, die Mass Observation zeigt. Die andere ist von Undurchsichtigkeit und Widerspenstigkeit gekennzeichnet, vom stumpfen Starrsinn des gewöhnlichen Lebens: Was sollen all die überflüssigen Knöpfe, die zweifellos auf britischen Kaminsimsen herumliegen? Was bedeuten sie, wofür stehen sie, wie fühlen sie sich an?
Karina Nimmerfall hat eine Reihe von Interviews ausgegraben, die eine Gruppe für Mass Observation arbeitender Befragerinnen 1941 im Rahmen eines von der Advertising Service Guild finanzierten Projekts führte, das Teil von deren Agenda war, die Kriegsanstrengungen durch Planungen für den nachfolgenden Wiederaufbau zu unterstützen.³ Wie man bei Mass Observation nur zu gut wusste, war die Moral an der Heimatfront am Wanken, und einer der Gründe für die Verzagtheit in den Fabriken und an anderen Arbeitsstätten war das Gefühl, dass das Ethos demokratischer, klassenübergreifender Kameradschaft, die viele erfuhren, nur einem vorübergehenden Zweck diente, und wenn der Krieg einmal vorbei wäre, die Arbeitslosigkeit und mit ihr all die anderen, gegen die Armen gerichteten sozialen Übel wiederkehren würden. Die Mass Observation-Interviews, die zur Grundlage für das Buch People’s Homes wurden, waren von einer zentralen Frage geleitet: »Wie möchte die britische Arbeiterschaft wohnen?« Die implizite Botschaft war: In der Wiederaufbauphase könnten bessere Wohnbauten entstehen, und das könnte angemessene Wohnungen für alle sozialen Schichten bedeuten; die Wohnvorstellungen der Befragten könnten also einen Einfluss auf die Sozialpolitik der Nachkriegszeit haben.

¹   Mass-Observation, Mass-Observation, London: Frederick Muller 1937, S. 30.
²    Die Kaminsimsstudie von 1983 war als Wiederholung der Studie von 1937 konzipiert und ließe sich als Konsolidierung des Selbstverständnisses von Mass Observation als Ressource für zukünftige HistorikerInnen sehen.
³    Zu den Entstehungsumständen dieser Interviews vgl. James Hinton, The Mass Observers: A History, 1937–1949, Oxford: Oxford University Press 2013, Kapitel 10.
   Mass-Observation, People’s Homes, London: John Murray 1943.

 

Bildmaterial

Die honorarfreie Veröffentlichung ist nur in Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Ausstellung und die Publikation gestattet. Wir ersuchen Sie die Fotografien vollständig und nicht in Ausschnitten wiederzugeben. Bildtitel als Download unter dem entsprechenden Link.

/