JENS ASTHOFF

Natalie Czech: Bildlektüren

Czech erforscht Sprache als Möglichkeitsraum, reizt Grenzen des Bedeutens aus, experimentiert mit Schrift-Bild-Relationen und lässt Texte in Schichtungen von Intertextualität einander kreuzen und durchdringen.
Ihre Sprachbilder basieren auf knappen, bildhaften Gedichten ausgewählter Autoren – bisher etwa Robert Creeley (1926 – 2005), Frank O’Hara (1926 – 1966), Rolf Dieter Brinkmann (1940 – 1975), E.E. Cummings (1894 – 1962), Welimir Chlebnikow (1885 – 1922) und einige mehr. Czechs Interesse richtet sich auf Texte, die eine besondere Visualität hinsichtlich Sprache und/oder Schriftgestalt in sich tragen, oft gepaart mit dem Hang zu bildhafter Abstraktion und text- und schreibbezogener Selbstreferenzialität. Das wird in neueren Serien wie »A small bouquet by Frank O’Hara« (2011) oder »Il pleut by Guillaume Apollinaire« (2012) deutlich. Die Ausgangstexte evozieren bereits visuell, also durch spezielle Anordnung der Buchstaben, ein Bild, das dann zu Textgehalt und Lektüreakt thematisch in Beziehung tritt. Solche literarischen Text-Bild-Verknüpfungen sind für Czech Material und Inspiration, die sie in ihrer konzeptuellen Fotografie aufgreift und dann Grenzen zwischen Text- und Bildcharakter des Sprachmaterials in Fluss bringt. Daher sind ihre Arbeiten oft auch eine Kreuzung der Gattungen, also sowohl literarisch im Sinne von Konkreter Poesie oder surrealistischer Dichtung lesbar, zugleich aber visuell im Sinne von Objekt- und konzeptueller Fotografie aufzufassen. Ihre Fotografie operiert mit jener Doppelung oder Ambivalenz, die in den Ausgangstexten schon angelegt ist: Dass zum einen ein Text stets auch in sich bereits ein »Schriftbild« ist, zum anderen ein fotografiertes Gedicht zwar Bildobjekt wird, dabei aber weiterhin Text ist, also lesbar bleibt. Oft sind im Bildprozess noch weitere Medien relevant, Computerprogramme oder Druckverfahren etwa, die für Gehalt und Gestalt der Arbeiten Czechs eine Rolle spielen. Doch die verschiedenen Text- und Bildebenen laufen dann im fotografischen Bild zusammen, werden hier oft durch Reihung oder Farbzuweisung noch weitergehend formalisiert.

BARRY SCHWABSKY

Natalie Czech: Fragment einer Sprache der Liebe

Wenn Ihnen jemand einen Liebesbrief schreibt, wie lesen Sie den?
Oder genauer gefragt: Können Sie ihn überhaupt lesen?
Sollten Sie nämlich imstande sein, den Brief von Anfang bis Ende durchzulesen, könnte es sein, dass er nicht seinen Bestimmungsort erreicht hat. Denn sein Adressat ist nicht unbedingt die Person, deren Name auf dem Umschlag steht, jedenfalls nicht das empirische Individuum, das durch den Namen, den der Briefträger auf dem Postkasten der Zieladresse ausfindig zu machen vermochte, mit einer juridischen Identität ausgestattet wird. Der Adressat ist ein Phantasma, das imaginäre Wesen, welches der Schreiber durch seinen Text ins Leben zu rufen versuchte: der einzig wahre Leser, einer, der das Geschriebene zu begreifen vermag und bereit ist für eine solche das Innerste erschütternde Form der Rede. »Diese Tür war nur für dich bestimmt«, sagt der Türsteher in Kafkas Parabel zum sterbenden Mann vom Lande, als er sich daran macht, sie für immer zu schließen. »Dieser Brief war nur für dich bestimmt« ist auch die ganze Botschaft des wahren Liebesbriefs an den Leser und erlischt während ein neues Selbst geboren wird. Aber so ein Brief ist zu überwältigend, um ihn von Anfang bis Ende zu lesen; das erstaunte Auge kann nur dran picken wie ein Vogel, der halb verrückt ist vor Hunger und doch von der Fülle eines einzigen Korns zu platzen fürchtet. Logik und selbst die Zeit geraten durcheinander, wenn das Begehren seine Bedeutung auf einmal jederzeit und allerorten findet.
Für mich – und vielleicht nur für mich? – besteht die Kunst von Natalie Czech genau aus solch verliebtem Lesen und Schreiben. Ist es möglich, sie als einen einzigen großen Liebesbrief zu sehen: ein Billetdoux an die Dichtung? Ihre Kunst ist in die Dichtung vernarrt und will ihr so nahe wie nur möglich sein. Und diese Liebe wird, so glaube ich, erwidert. Die Dichtung lässt diese Kunst sehr nahe an sich heran. Denken Sie nur an Paare, die so miteinander verschmelzen, dass sie sich ähnlich zu sehen beginnen und ihre Sätze gegenseitig zu Ende führen. Bei der Betrachtung oder – wie ich genauso gut sagen könnte – der Lektüre von Czechs Arbeiten weiß ich nicht mehr, ob ich sie als Kunst oder Dichtung bezeichnen soll. Die beiden werden eins, vereinigen sich wie Liebende, die die »andere Hälfte« gefunden haben, welche sie nach dem Mythos, den Platon im Gastmahl Aristophanes in den Mund legt, vervollständigt.

Textbeitrag in Camera Austria International 118/2012, S. 19–22.

KENNETH GOLDSMITH

Erica Baum: Hintergrundtext

Erica Baums Arbeiten betrachte ich ebenfalls als literarisch, auch wenn es sich dabei um Fotografien handelt, und sie veranschaulichen vielleicht am besten die komplexen Beziehungen von Text, Bild und Verweissystemen, von denen ich hier gesprochen habe. Ihre Elemente sind nie deutlich voneinander geschieden – hier Bild, da Bildunterschrift und dort Haupttext –, sondern sie sind alle gleich gewichtet, so dass ein Spielraum für Wechselwirkungen und Interpretationen entsteht. Wörter werden zu Bildern, Bilder zu Wörtern und Verweissysteme in ihrer Funktion blockiert, also zu freier flottierenden Elementen umgewendet.
Gleichwohl drängen sich bestimmte Ordnungen, Rhythmen und Hierarchien auf, wenn ich ihre Arbeiten zu lesen versuche. Aber anders als bei traditionellen Erzählungen läuft deren Entfaltung nicht auf eine glatte Auflösung hinaus, sondern sie bleiben als lose, untereinander austauschbare Elemente erhalten. Bei der Lektüre von »Irma« aus der Serie »Naked Eye« zum Beispiel sind mehrere semiotische Systeme gleichzeitig am Werk, die in einer bestimmten Reihenfolge zutage treten. Mein erster Decodierungsversuch läuft über die literarischen Zeichen: ein offenes Buch und der damit verbundene Textcharakter. Als nächstes sehe ich mehrere Filmstills. Ich versuche, sie narrativ zu verknüpfen, aber das führt mich nirgendwo hin: Es handelt sich um unverbundene Einzelbilder. Mit dieser Methode – der Verkettung einer Reihe von Schwarzweiß-Bildern – lande ich geradewegs im Bereich des Kinematografischen. Meine nächste Ebene der Auseinandersetzung ist eine bildbezogene, da mir die starken geometrischen Vertikalen und ihre Unterteilungen, Wiederholungen und Gewichtungen auffallen, welche die Bilder an Ort und Stelle halten. Nun stammen meine Referenten aus der Welt der Kunst: Die regelmäßige Streifengeometrie erinnert mich an Daniel Buren, die Textualität an Joseph Kosuth und die Verwendung der Filmstills an John Baldessari. Trete ich einen Schritt zurück, nehme ich die Gesamtheit des Bildes als Fotografie wahr und beginne ihre historischen Formen mitzudenken (dokumentarisch, künstlerisch, journalistisch usw.).
Letztlich aber muss ich damit rechnen, dass dies keine Fotografie ist und auch niemals eine war. Es ist ein aus Pixeln bestehendes digitales Bild, das auf analoge Medien Bezug nimmt. Ich werde dazu verleitet, es für eine Fotografie zu halten, obwohl es eigentlich etwas äußerst Fließendes ist: Während ich dies auf meinen Laptop schreibe, ist »Irma« ein PDF, in der Galerie vermutlich ein Inkjet-Print und in der Zeitschrift, die Sie in Händen halten, eine Farb- oder Schwarzweißreproduktion – so Sie überhaupt eine Papierausgabe in Händen halten. Wahrscheinlich werden Sie es eher als Webseite sehen, mit »Irma« als Bild zum Downloaden; eines, das dann per E-Mail ständig weiter geschickt, weiter gebloggt und weitergetweetet wird, ohne verbindliche Herkunftsangabe.

Textbeitrag in Camera Austria International 118/2012, S. 23–34.

VANESSA JOAN MÜLLER

Shannon Ebner: Nonverbale Restmengen

Wenn Sprache in ihrer buchstäblichen Darstellung – als Bild gewordene Schrift – auf Fotografie trifft, durchkreuzen sich zwei offenkundig unterschiedliche Systeme. Als Bildmedium will die Fotografie eigentlich gar nicht so eindeutig etwas sagen oder sich einschreiben lassen. Bildet sie Buchstaben oder Wörter ab, erhält sie jedoch eine Bedeutung im doppelten Sinne von Inhalt und Relevanz. Das Bild wird dann zu einer besonderen Form des Zeichens, das Sprache als einen materiellen Signifikanten zur Schau stellt, der sich lesen lässt, in dessen exponierter Sichtbarkeit aber auch eine seltsame Abstraktion aufscheint. Wenn der Bedeutungsträger zu sehr mit erkennbarer Bedeutung aufgeladen ist, funktioniert das Alphabet plötzlich nicht mehr ausschließlich als Träger von Sinn.
In diesem Spannungsfeld, von sprachlicher Repräsentation und optischer Präsenz bewegt sich auch die Fotografie von Shannon Ebner, die Wörter wie Skulpturen in Landschaften und abstrakten Bildräumen platziert, eigene Alphabete entwickelt oder aber Buchstaben als surreal in den Alltag eingebettete objects trouvés, in Szene setzt. Der arrangierende Akt, der diese Fotografien häufig begleitet – Buchstaben aus Pappe, Holz oder Ziegelsteinen werden für die Aufnahmen zu Wörtern zusammengestellt – unterstreicht den Charakter des Zitats, der den Arbeiten hintergründig innewohnt. Einen Text zu zitieren bedeutet, seinen Zusammenhang zu unterbrechen. Es ist eine Redeweise, die nicht authentisch ist, sondern entliehen, und wiederholt, was an anderer Stelle bereits gesagt worden ist. Indem sie Bestehendes in einen anderen Kontext implementiert, verändert sie dessen Wahrnehmung.
Tatsächlich beschäftigt die in Los Angeles lebende Künstlerin insbesondere die Entfremdung der Sprache von ihrer Fähigkeit, Wirklichkeit und gelebte Erfahrung zugänglich zu machen und auch zwischen den Zeilen zu sprechen. Ihr Material ist die Sprache unserer Gegenwart, die instabil geworden und insbesondere in den Vereinigten Staaten von einer appellativen Rhetorik des Politischen und Sozialen durchzogen ist. Es ist eine eingeschliffene Rhetorik, die über Wiederholung funktioniert und einprägsame Wortcluster ohne semantische Unschärfen bildet. Ebners schwarzweiße Fotografien zeigten lange Zeit Wörter, die diesem verbalen Entfremdungsprozess zum Opfer gefallen waren.

Textbeitrag in Camera Austria International 118/2012, S. 35–46.

SUSANNE HOLSCHBACH

Sven Johne: Die Illusion des ewigen Sommers

Die Bezugnahme auf den Medienverbund Zeitung liegt im Zusammenhang mit Sven Johnes Arbeitsweise nahe. »Wie ein investigativer Reporter nähert er sich Phänomenen, recherchiert Hintergründe von medialen Berichterstattungen und gefundenem Bildmaterial, sucht die dort erwähnten Orte auf und beginnt sie zu dokumentieren«1, so Lilian Engelmann und Holger Kube Ventura im Geleitwort zu Johnes Künstlerbuch Reports from the Crack of Dawn, dessen Cover sich an die Aufmachung der New York Times anlehnt. Die Texte, die Johne in seinen Werkgruppen verwendet, lassen sich fraglos im Genre der Berichterstattung verorten – im Stil sachlich, mit Tendenz zur Lakonie. Zugeordnet werden die dokumentarischen Fotografien im nüchternen Stil der Topografen. Die Art und Weise wie Fotografie, Bildlegende und Narration sowohl inhaltlich als auch formal verknüpft werden, überführt jedoch die Relaisfunktion zwischen Text und Bild in eine ästhetische Konfiguration, die nicht mehr einer Reduktion von Bedeutung, sondern einer Mehrdeutigkeit auf anderer Ebene zuarbeitet. Wie in »Roses from Africa« arbeitet Johne in der Regel seriell, das heißt mit Reihen gleichartiger Bildermotive und -kompositionen.

1 Lilian Engelmann und Holger Kube Ventura, »Geleitwort«, in: Frankfurter Kunstverein (Hg.), Sven Johne: Berichte zwischen Morgen und Grauen, Reports from the Crack of Dawn, Kat., Berlin: Revolver Verlag 2010, S. 101.

Textbeitrag in Camera Austria International 118/2012, S. 47–54.

JAN VERWOERT

Zeuge Bild 2/4 Wie mit Spuk umgehen?

Quält dich eine Erinnerung? Was ist das Quälende an ihr? Dass du nicht weißt, wohin mit ihr. Sollst du sie für dich behalten oder anderen erzählen? Oft hilft weder das eine noch das andere. Denn die Erinnerung findet keinen festen Ort. Nicht in den Geschichten, die du erzählst. Nicht in den Erklärungen, die du dir zurechtlegst. Es bleibt deine Version des Geschehenen. Und irgendwann blickt dir aus dem Spiegel deiner Erzählungen nur mehr der Erzähler entgegen. Der bist du selbst. Also weißt du, dass alles ebenso gut ganz anders gewesen sein könnte. Wenn bloß jemand käme und sagen würde: »Es war so. Das bildest du dir nicht bloß ein. Ich hab’s auch so erlebt.« Das wär die Erlösung. Denn diese Bestätigung würde der Erinnerung einen Ort in der Wirklichkeit geteilter Erfahrung geben. Hoffst du.
Ob das je passieren kann, ist ungewiss. Dagegen spricht, dass sich praktisch die gesamte Menschheit seit eh und je Geschichten von quälenden Erinnerungen erzählt. Gibt es irgendeine Kultur auf der Welt, in der keine Geistergeschichten kursieren? Und was versinnbildlichen Gespenster, wenn nicht genau das, was bestimmte Erinnerungen so qualvoll macht? Dass sie nicht zur Ruhe kommen können! Etwas Unabgegoltenes aus dem vergangenen Leben eines Toten lässt seinen Geist allnächtlich erwachen und ruhelos umherstreifen. Auf ihre Art sind Gespenster also Sinnbild für die besondere Form (Modalität oder Seinsweise), in der sich bestimmte Erinnerungen bemerkbar machen: für die Form der Ruhelosigkeit, des Unbefriedeten, Unverortbaren und von innerem Zwist in Bewegung Gehaltenen.

Textbeitrag in Camera Austria International 118/2012, S. 71–72.