WENDY VOGEL

Fantasie-Fakes

Beginnen wir mit einem Abstecher ins Internet. – Auf der Suche nach einem Titel zu Laura Schawelkas Arbeiten fand ich die kurze Stellungnahme eines Creative Directors, der eine Werbekampagne für Coca-Cola aus den späten 1960er-Jahren lobte.¹ In dem Artikel wurde sie mit zwei ähnlichen Slogans verglichen, die ich auf der offiziellen Website von Coca-Cola bestätigt fand.² Zusammengenommen, getrennt von Dutzenden anderer Mottos, die das Getränkeunternehmen im Laufe seiner Geschichte eingesetzt hat, erwecken die Zeilen den Eindruck von Found Poems, also gefundener Gedichte.

»It’s the Real Thing« (1969)
»Can’t Beat the Real Thing« (1990)
»Make it Real« (2005)

Ich war fasziniert davon, wie sie, zusammen gelesen, die Realität eher zu bezweifeln als zu bestätigen schienen. Pocht der Slogan von 1969 noch freiheraus auf die Authentizität von Coke, so rühmt die Version von 1990 die wahre Überlegenheit gegenüber Konkurrenten auf dem Soft-Drink-Markt. Der Slogan von 2005 macht jedoch etwas noch viel Seltsameres. Hier übermittelt die Botschaft eine direkte, geradezu neurotische Bitte an die Konsument*innen: »Make it real«, also »Mach es echt« – aber was ist dieses »es«? Die Wahl eines Getränks? Oder die in Coca-Colas Werbekampagnen verpackte Illusion? In der Welt der Werbung, die ständige Neuerfindung fordert, scheint Coca-Colas Botschaft der »Realness«, also der Echtheit, sich selbst aufzuheben. Anstatt sein Produkt als echt zu vermarkten, überlässt es das Unternehmen den Konsument*innen, das Maß der Wirklichkeit zu bestimmen. Der Slogan bedient sich dabei des Imperativs: (Du) Mach es echt. Die Marke verlangt von den Konsument*innen, ihre Echtheit zu bestätigen. Die Werbetreibenden ersuchen die Konsument*innen also, auf jene Fantasie zu setzen, die sie geschaffen haben.

1 D’Arcy/McCann Erickson, »13: Coca-Cola (1940s) – It’s the Real Thing«, Creative Review, https://www.creativereview.co.uk/its-the-real-thing-coca-cola. Siehe auch »History of Coca-Cola Advertising Slogans«, The Coca-Cola Company, https://www.coca-colacompany.com/about-us/history/history-of-coca-cola-advertising-slogans.
2 »History of Coca-Cola Advertising Slogans« (wie Anm. 1).

Textbeitrag in Camera Austria International 168/2024, S. 9–20.

FIONA VILMER

Atmosphärenbilder

In seinem Text »Postmodernism, or The Cultural Logic of Late Capitalism« (1984) schreibt Fredric Jameson über die halluzinatorische Erfahrung während eines Spaziergangs durch das Westin Bonaventure Hotel in Los Angeles,¹ das von dem Architekten und Bauunternehmer John C. Portman geplant und 1976 eröffnet wurde. Innerhalb dieses labyrinthischen Raumgeflechts, dem fast schon eine postmoderne Erhabenheit² anhaftet, begibt sich Jameson in die Rolle des orientierungslosen Wanderers. Der narrative Streifzug wird »vergegenständlicht«, eingekapselt in gläserne Rolltreppen und Aufzüge, die gleichermaßen von innen wie außen sichtbar sind, und markiert einen Bruch in den Bewegungen eines Individuums, das nun losgelöst, entfremdet, fragmentiert ist. Die Böden dieses in sich geschlossenen Raums bilden eine Mise en abyme der erdrückenden Stadt – eine zementierte Repräsentation en miniature der spätkapitalistischen Gesellschaft. In der sich kontinuierlich drehenden Bar im obersten Stock sind die Besucher*innen dazu eingeladen, die Stadt eingehend zu studieren, wobei die Tiefenräumlichkeit durch die dabei entstehenden Bilder derselben aufgehoben wird. Von außen betrachtet verbirgt sich das Hotel hinter seinen vier schimmernden zylindrischen Glastürmen, in deren Fassaden sich »Los Angeles [spiegelt, sich] atemberaubend, ja sogar bedrohlich vor uns ausbreitet.«³ Das Bonaventure Hotel ist nicht nur ein Symbol für das kollektive Bewusstsein, sondern auch ein generisches Bild des Spätkapitalismus und der Stadt mit all ihrer Fragmentiertheit und Weite, ein »Atmosphärenbild«.

1 Erstmals wurde der Text 1984 veröffentlicht als: Fredric Jameson, »Postmodernism, or The Cultural Logic of Late Capitalism«, in: New Left Review 1/146 (Juli–August 1984), S. 53–92. Später wurde er veröffentlicht als: Fredric Jameson, Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham, NC: Duke University Press 1991, S. 80–85.
2 Hierzu siehe Claire Geddes Bailey, »The Postmodern Sublime: Fredric Jameson’s Bonaventure Hotel«, in: The Garden Statuary (29. November 2018), https://thegardenstatuary.com/archives/2856.
3 Jameson, Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, S. 83.

Textbeitrag in Camera Austria International 168/2024, S. 21–32.

MARK PRINCE

Gedanken sind nur in Dingen. Die Kunst & das Schreiben von Pati Hill

Wie Diane Arbus, die sie kannte, hatte auch Pati Hill vor ihrer bekannteren anderen Laufbahn – beziehungsweise ihren Laufbahnen – eine Karriere in der Mode. Hill war Model, Arbus Werbefotografin, die sich im Tandem mit ihrem Mann auf Aufnahmen für jene Hochglanzzeitschriften der 1950er-Jahre spezialisiert hatte, für die Hill posierte. Irgendwann fotografierte Arbus auch Hill, die fast im gleichen Alter wie sie war. Beide ließen ihre ersten Berufe hinter sich: Arbus für eine Solokarriere als Kunstfotografin, Hill, um Romane und Kurzgeschichten zu schreiben, und später, um Kunst und Künstlerinnenbücher mit Bildern zu erschaffen, für die sie einen Fotokopierer einsetzte. Es mag ein Zeichen dafür sein, wie wenig Kontrolle eine Künstlerin Mitte des 20. Jahrhunderts über ihr Leben – und damit auch über ihre Kunst hatte, dass sowohl Arbus als auch Hill, im Gegensatz zu den meisten ihrer berühmten männlichen Zeitgenossen, den Zwischenschritt über einen praktischeren Beruf nehmen mussten, der – vielleicht nicht ganz zufällig – auf dem Ablichten von Frauen für den Massenkonsum beruhte. Arbus gab später an, sie habe »die Modewelt gehasst«. Hill, die, ganz typisch für sie, das Ausgeliefertsein gegenüber den Umständen in etwas Positives umwandelte, schrieb, dass »viele Copy-Künstler*innen Frauen sind und ausschließlich sich selbst kopieren. Ich kopiere mich nicht selbst, aber ich habe selbst jahrelang gemodelt, aufgrund des merkwürdigen Gefühls von ›Realität‹, das es mir verschaffte. Die Realität eines Objekts, vielleicht.«¹ In einer ironischen Symmetrie ging sie von der eigenen Objektifizierung in Form von Bildern zur Herstellung von Bildern von Objekten über, die in den 1970er-Jahren zur Grundlage ihrer künstlerischen Praxis wurde. […]
Diese zehn Jahre andauernde Unterbrechung zwischen Perioden, in denen sie ausschließlich schrieb und kopierte/schrieb, veranschaulicht, wie voreingenommen ihre gleichzeitige Hinwendung zur bildenden Kunst und zum literarischen Schreiben in einem kulturellen Umfeld rezipiert wurde, das vom Druck, sich zu spezialisieren, geprägt war. Die Aufmerksamkeit, die ihr Schreiben als Schreiben erfuhr – beispielsweise eine Reihe von Beiträgen, die in den 1950er-Jahren für The Paris Review unter der Herausgeberschaft von George Plimpton erschienen – war eher zufällig, bedingt durch das kurz zuvor aufgeflammte Interesse der Kunstwelt an den Fotokopien, die sie in den 1970er-Jahren veröffentlicht und ausgestellt hatte. Die Voreingenommenheit übersieht, wie zentral die Beziehung zwischen den Medien für ihr Projekt war.

1 Pati Hill, Letters to Jill. A Catalogue and Some Notes on Copying, New York: Kornblee Gallery 1979, S. 100.

Textbeitrag in Camera Austria International 168/2024, S. 33–34.

JON DAVIES

Der Tatort

»Viele Künstlerinnen und Künstler suchen ständig nach neuen Wegen, um das zu verarbeiten, was sie als ungelöst betrachten – sei es formal oder konzeptionell; dies kann in Form einer Wiederholung von Themen oder eines erneuten Aufgreifens von Kunstwerken geschehen, die sie zuvor produziert haben – eine Rückkehr zum ›Tatort‹, wenn man so will.« – Lyle Ashton Harris¹

Der amerikanische Künstler Lyle Ashton Harris (geb. 1965) wurde kürzlich mit einer großen Personale gefeiert, die gemeinsam vom Rose Art Museum der Brandeis University und dem Queens Museum organisiert wurde. Die von Lauren Haynes und Caitlin Julia Rubin kuratierte Ausstellung Our first and last love umfasste Werke aus seiner fast vierzigjährigen Karriere. Die Schau wurde durch eine beeindruckende Serie mit dem Titel Shadow Works strukturiert, die Harris zwischen 2017 und 2020 geschaffen hatte: Jede einzelne Assemblage ist eine Art Miniatur-Retrospektive, mit Farbtransferdrucken, die Montagen seiner eigenen Fotografien, gefundene Bilder und Textfragmente zusammenstellen, die durch leuchtende Farbfilter eingefärbt und durch Ephemera (wie Haarsträhnen des Künstlers) ergänzt werden, alles umrahmt von gemusterten Stoffen aus Ghana. Die Werke zeichnen die Untrennbarkeit des Lebens des Künstlers von seinem Werk und die Kontinuität zwischen dem, was sich innerhalb des Rahmens befindet, und dem, was außerhalb liegt, auf hervorragende Weise nach, indem sie auf frühere Kunstwerke und auf wichtige Referenzbilder, Zeitungsausschnitte und Notizen zurückgreifen, um neue Bedeutungen für die heutige Zeit aufzurufen.

1 Lyle Ashton Harris, Lauren Haynes, and Caitlin Julia Rubin, »Conversation«, in: Lyle Ashton Harris: Our first and last love, hg. Lauren Haynes and Caitlin Julia Rubin, Ausst.-Kat. Queens Museum and Rose Art Museum (New York: Gregory R. Miller & Co., 2024), S. 12.

Textbeitrag in Camera Austria International 168/2024, S. 45–56.