Un-Curating the Archive
Infos
Un-Curating the Archive
Basierend auf einem Handapparat von Nicole Six und Paul Petritsch
Teil I: 1974–1989
Ausstellungspreview und Vortrag
von Christiane Kuhlmann (Kuratorin Museum der Moderne Salzburg)
22.6.2017, 18:00
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Eröffnung
23.6.2017, 20:00
Zeitraum
24.6.–13.8.2017
Öffnungszeiten
Dienstag bis Sonntag, 10:00–17:00
Mitarbeit
Jiri Tomicek und Florian Hofer
Dank an
Architekturzentrum Wien, Karin Lux
AZW Bibliothek, Wolfgang Heidrich
Gratis Shuttle zur Eröffnung
Wien – Graz – Wien
Abfahrt Wien: 23.6.2017, 15:00, Haltestelle Oper, Bus 59 a
Abfahrt Graz: 23.6.2017, 22:30,
Burgring 2, 8010 Graz
cmrk.org
Intro
In den letzten Jahren waren in den Ausstellungen von Camera Austria und in der Zeitschrift Camera Austria International eine Vielzahl von künstlerischen Positionen präsent, die sich um Fragen des Archivs drehen. Dabei geht es einerseits darum, notwendige Archive zu imaginieren, die es allerdings nicht gibt, andererseits darum, Archiven etwas hinzuzufügen, das diese ausschließen oder unterdrücken. Die Beschäftigung mit dem Archiv von Camera Austria versucht, diese Fragestellungen zusammenzuführen. Handelt es sich um ein Archiv, das den etablierten Narrativen über die Relevanz zeitgenössischer künstlerischer Fotografie etwas hinzufügen könnte, welche andere Geschichte könnte es erzählen? Wie ließe es sich mit der Idee eines »Anti-Archivs« (Peter Friedl) in Verbindung bringen? Und wie sieht es mit der unangenehmen Frage nach der Macht dieses Archivs aus? Nicole Six und Paul Petritsch haben ein Publikationskonzept entwickelt, durch das das Archivmaterial als Handapparat in einer Ausstellung aufgelegt wird. Das Archiv erobert sich den Raum der Ausstellung zurück, ohne jedoch zum Ausstellungsgegenstand zu werden. Es verlässt den Aktenschrank, um sich der Frage nach der Aktualität seiner »Wahrheitsproduktion« auszusetzen.
Volltext →Un-Curating the Archive
In short, we need to describe the emergence of a truth-apparatus that cannot be adequately reduced to the optical model provided by the camera. The camera is integrated into a larger ensemble: a bureaucratic-clerical-statistical system of ‘intelligence’. This system can be described as a sophisticated form of the archive. The central artifact of this system is not the camera but the filing cabinet.
Allan Sekula
Dieter Roelstraete hat sich 2009 kritisch zum archival oder historiographic turn geäußert: »The retrospective, historiographic mode—a methodological complex that includes the historical account, the archive, the document, the act of excavating and unearthing, the memorial, the art of reconstruction and reenactment, the testimony—has become both the mandate (›content‹) and the tone (›form‹) favored by a growing number of artists (as well as critics and curators) of varying ages and backgrounds«. Die Rückwendung zur Vergangenheit, so Roelstraete, brächte die Zukunft und jede Utopie zum Verschwinden.
Nun mag aber die Beschäftigung mit Geschichte weniger mit Nostalgie oder einer nach-postmodernen Rückkehr der »großen Erzählungen« zu tun haben, auch nicht primär mit dem Verlust der Zukunft in einer permanenten Gegenwart, die ausweglos in die Analyse ihrer – bruchstückhaften – Geschichte vertieft ist, als vielmehr mit einer Neuüberprüfung der Konstruktionen von Gegenwart selbst – in Zeiten einer auf Dauer gestellten Krise der Glaubwürdigkeit und der geltenden politischen, sozialen und ökonomischen Übereinkünfte.
Von dieser Krise sind auch – oder insbesondere – die Institutionen der zeitgenössischen Kulturproduktion betroffen: Ihre Relevanz wird angezweifelt, der Vorwurf des Elitismus zum wiederholten Mal in den Raum gestellt, eine Politik der Umfrageergebnisse scheut immer mehr davor zurück, dem Widerständigen einen Raum unabhängiger Bedeutungsproduktion zu gewährleisten. Die Creative Industries verstricken die Kulturproduktion mit ihren Spektakeln für den Tourismus in eine Aufmerksamkeitsökonomie der großen Zahlen. Wenn die Herstellung von Verbindlichkeiten über die Bedeutung zeitgenössischer Kunst und Kultur für die Vorstellungen über unsere Gegenwart bestenfalls schwierig erscheint, kommt möglicherweise gerade der »Archäologie« (oder Genealogie) der Gegenwart verstärkte Bedeutung zu – wie könnte die Geschichte der Dekulturalisierung der Gegenwart geschrieben werden? Bieten die Archive ein Potenzial für die Rekonstruktion jener »diskursiven Formationen«, als die sie Michel Foucault in seinen Analysen der Macht bezeichnet hat, die dazu führten, dass sich heute Technologie und Ökonomie als vorherrschende Signifikanten präsentieren? Lassen sich die Archive also politisieren?
In den letzten Jahren waren sowohl in den Ausstellungen von Camera Austria als auch in der Zeitschrift Camera Austria International eine Reihe von künstlerischen Positionen präsent, die sich mit Fragen des Archivs beschäftigen. KünstlerInnen wie Özlem Altin, Sven Augustijnen, Eric Baudelaire, Peggy Buth, Martin Beck, Peter Friedl, Maryam Jafri, Stephanie Kiwitt, Tatiana Lecomte, Uriel Orlow, Ines Schaber, Shirana Shahbazi, Ala Younis und andere mehr konstruieren in ihren Arbeiten eine Art – temporäres, vorläufiges – Archiv, legen Sammlungen an, nehmen ihren Ausgangspunkt für Recherchen von in Archiven gefundenem Material oder von Funden, die in Archive führen. Einerseits geht es also darum, Archive zu imaginieren, die es nicht gibt, die aber notwendig wären, andererseits darum, Archiven etwas hinzuzufügen, das diesen fehlt, das sie unterdrücken oder ausschließen. Künstlerische Praktiken intervenieren dabei auch in einem allgemeinen Sinn in Wissensproduktion, sie instituieren gewissermaßen Verfahren einer Produktion von Wissen, das fehlt, und übernehmen dabei teilweise Funktionen anderer kultureller Institutionen.
Die Beschäftigung mit dem Archiv von Camera Austria versucht, diese unterschiedlichen Fragestellungen zusammenzuführen. Handelt es sich um ein (bisher nicht publiziertes und nicht öffentliches, daher) fehlendes Archiv, das den etablierten Narrativen über die Relevanz von zeitgenössicher Kunst, bzw. genauer: zeitgenössischer künstlerischer Fotografie, etwas hinzufügen könnte, das bisher fehlt? Wie wären mit Peggy Buth diejenigen »Orte« im Archiv auszumachen, an denen eine Sichtbarmachung ansetzen müsste? Wie ließe es sich mit der sprunghaften Rekonstruktion von Geschichte durch Eric Baudelaire oder der Idee des »Anti-Archivs« von Peter Friedl in Verbindung bringen? Und wie sieht es mit der unangenehmen Frage nach der Macht dieses Archivs aus? Hat auch dieses Archiv so etwas wie ein Anderes produziert? Mit welchen Praktiken wären also die kritischen Punkte aufzufinden, die ein »Unbehagen an der Geschichte« (Georges Didi-Huberman) sichtbar machen könnten? Welche Geschichte wird überhaupt in und durch dieses Archiv erzählt, welche anderen könnte es – auch – erzählen?
Eine Sonderausgabe von Camera Austria International, die im Juni 2017 erscheint, unternimmt einen ersten Schritt zur Veröffentlichung des Archivs. Das Material dieser Ausgabe umfasst die Jahre zwischen 1974 und 1983 – die Anfänge der Ausstellungstätigkeit im Schillerhof in Graz, die Übersiedelung 1975 ins Forum Stadtpark, die Durchführung der ersten Symposien über Fotografie ab 1979, die Herausgabe der Zeitschrift Camera Austria – Zeitschrift für Fotografie ab 1980 und der ersten Bücher ab 1982, bis hin zu einer Phase der – prekären – Konsolidierung des Projekts.
Parallel zu dieser Ausgabe der Zeitschrift bereiten wir seit Frühjahr 2015 das vorliegende Ausstellungsprojekt vor, in dem das komplette Archiv der Jahre 1974 bis 1989 präsentiert wird. Nicole Six und Paul Petritsch haben ein Publikationskonzept entwickelt, in dem das komplette Archivmaterial in einer Reihe von zu losen Mappen zusammengefassten Faksimiles, quasi als Handapparat, aufgelegt wird. Dazu werden die Videomitschnitte der Symposien über Fotografie der entsprechenden Jahre gezeigt. Im zweiten Teil dieses Ausstellungsprojekts, ab Dezember 2017, wird das Material aus den Jahren zwischen 1990 und 2002 gezeigt, bevor Camera Austria 2003 in die heutigen Räume des Eisernen Hauses übersiedelt ist. In Zusammenhang mit dieser Ausstellung werden auch die Ausstellungsräume von Camera Austria umgebaut: Die Bibliothek wird geöffnet, wodurch der gesamte Raum in den von den Architekten Peter Cook und Colin Fournier vorgesehenen Originalzustand rückgebaut wird. Diese Öffnung der Bibliothek zielt darauf, dem mit den Bildern untrennbar verbundenen Gegenspieler mehr Präsenz einzuräumen: dem Text.
Das Publizieren von Künstlerbüchern und von Ausstellungen begleitenden Büchern nimmt seit 2014 in einer neuen Publikationsreihe zur zeitgenössischen Fotografie wieder einen größeren Stellenwert ein. Mobile Bücherregale – ebenfalls ein Entwurf von Six und Petritsch – beanspruchen Raum innerhalb des Ausstellungsparadigmas, dem sich nahezu alle Museen und Institutionen in den letzten 20 Jahren unterworfen haben, zu Lasten der Forschungsaufgaben und der Sammlungspflege. Mit dieser Ausstellung erobert sich das Archiv – eine Sammlung von diversesten Texten und Bildern – den Raum der Ausstellung zurück. Doch wird es dabei gerade nicht zum Ausstellungsgegenstand, sondern behält seine heterogene Form als »diskursive Formation«: das Resultat eines kollektiven Netzwerks an AkteurInnen, die beständig in einer Arbeit an den Bildern diesen ihre Räume der Bedeutung eröffnet, diese Räume beständig neu definiert und die Bedeutungen der Bilder beständig umgeschrieben haben. Eine Arbeit an den Bildern als Raum des Lesens.
Wir haben uns also zunächst entschlossen, keine Auswahl des Archivs zu präsentieren, sondern das Archiv möglichst vollständig zu veröffentlichen – der Handapparat wird nach den Ausstellungen in unserer Bibliothek aufliegen und zugänglich bleiben. Er bildet den Ausgangspunkt der weiteren Recherche – das Archiv verlässt den Aktenschrank und kehrt in einer noch nicht vollständig definierten Form zurück, um sich der Frage nach der Aktualität seiner »Wahrheitsproduktion« auszusetzen.
Der Begriff des Archivs scheint jedenfalls jenseits der Sichtung, Ordnung und Interpretation von Material eine Art Kunstgriff zu erlauben, sich nämlich aus der Kontinuität der nachzuerzählenden oder wieder aufzuführenden Geschichte einer Institution, die sich einer Arbeit an den fotografischen Bildern verschrieben hat, wenn auch nur hypothetisch, hinauszubewegen und sich diese fremd zu machen. Es erscheint notwendig, eine Diskontinuität einzuführen in eine Geschichte dieser Arbeit an den Bildern, die auch ihrerseits –
so viel kann vorweggenommen werden – durch Diskontinuitäten gekennzeichnet ist und durch eine Verschränkung von Theorie und Bild, Text und Bild. »Der eindimensionale Wirklichkeitsbegriff, das lineare Verständnis des Geschichtlichen, bringt prinzipiell auch ein eindimensionales Substitut mit sich: Ich dokumentiere, also bin ich – bin ich historisch.« (Albert Goldstein)
So wenig wie die Fragen, die seit den 1970er Jahren bis heute an die Fotografie gerichtet wurden, als – nicht einmal diskontinuierliche – Entwicklung verstanden werden können, so wenig kann die Arbeit an den Bildern selbst als Entwicklung verstanden werden. Sich diesen langen Zeitraum institutioneller wie künstlerischer und theoretischer Produktion im Gegensatz dazu als ein verstreutes, geradezu unzusammenhängendes Archiv vorzustellen, zwingt uns dazu, keine Rekonstruktion vorzunehmen, sondern Aktualisierungen und Neuordnungen, anstatt sich bequem einer Kontinuität einzuschreiben und diese fortzuschreiben.
Der Begriff des Archivs erlaubt es somit möglicherweise, einen Abstand einzunehmen und sich den Texten, Publikationen, Zeitschriften, Einladungen, Pressetexten, Manuskripten etc. erneut anzunähern, um sich zu überlegen, inwiefern sie sich auf die aktuelle eigene Praxis beziehen oder eben nicht, und worin die Differenzen, der Abstand, anzugeben wären. Beziehen sich dieses Archiv, seine Sprache und seine Weisen zu repräsentieren überhaupt auf dieselbe Art von Dokumenten, wie wir sie heute als Zentrum des Archivs identifizieren würden, namentlich fotografische Bilder? Meinen wir heute dasselbe, wenn wir von fotografischen Bildern sprechen und von ihrem Vermögen, zu zeigen, zu repräsentieren, zu dokumentieren, ein Beschreibungssystem unserer je unterschiedlichen Gegenwarten zu konstruieren, in unser Leben einzugreifen?
Schließlich beinhaltet die Vorstellung vom Archiv auch notwendigerweise die Vorstellung der Unvollständigkeit; jedes Archiv ist unvollständig, weist Fehlstellen auf, Lücken, ist niemals gänzlich einer Ordnungslogik unterworfen, bleibt unabschließbar und entsteht auch zufällig. Ist es ebenfalls einem »Materialismus des Zufalls« (aleatory materialism) unterworfen, wie ihn Nicolas Bourriaud für die Geschichte (auch der Kunst) entwirft? Und
jedes Archiv provoziert die Frage danach, was sich nicht darin auffinden lässt, was es zum Verschwinden gebracht hat. Ist somit nicht auch das Archiv, wie die Fotografie selbst, von Zonen der Sichtbarkeit und Zonen der Unsichtbarkeit durchdrungen? Wie lässt sich zeigen, was nicht sichtbar geblieben ist? Das Archiv als Kunstgriff der Reflexion ermöglicht uns somit zu verstehen, dass es uns nicht an Geschichte erinnert und uns ermöglicht, diese Geschichte zu rekonstruieren, wie lückenhaft auch immer, sondern dass es darauf hinweist herauszufinden, woran uns die Geschichte zu erinnern imstande ist, die vom Archiv preisgegeben werden kann. Möglicherweise liefert uns diese Erinnerung auch Argumente dafür, der zunehmenden Marginalisierung eines Wissens entgegenzuarbeiten, das diese Geschichte verleugnet, ignoriert und ausblendet.
The production of a concept is a provocation, a refusal to answer to the call of the known and an opportunity to intensify our experiences. The archive is therefore not representational, it is creative, and the naming of something as an archive is not the end, but the beginning of a debate.
Pad.ma
Reinhard Braun