TOM HOLERT

Sanja Iveković: Vom Summen der Gemeinschaft. On The Barricades

Was bedeutet es, den Toten die Augen zu verschließen? Man kennt die Geste aus unzähligen Filmen. Eine Leiche wird gefunden, die Hand einer Hinterbliebenen oder eines Polizisten streicht über deren Gesicht. Die Lider der offenen Augen der Toten zu schließen – dieser Vorgang wirkt unendlich vertraut, obwohl nur wenige ihn aus der Wirklichkeit kennen. So vertraut, dass selten danach gefragt wird, was er eigentlich bedeutet. Auch Sanja Iveković hat den Toten die Augen geschlossen. Im Rahmen ihres Projekts »On the Barricades« für die 8. Gwangju Biennale 2010, die von Massimiliano Gioni unter dem Titel »10.000 Lives« kuratiert wurde, verwendete die kroatische Künstlerin Porträtfotografien von Menschen, die seit dreißig Jahren tot sind oder als vermisst gelten. Alle Porträtierten sind dem mehrtägigen Massaker, das in den Tagen seit dem 18. Mai 1980 von Militär und Polizei an der Bevölkerung Gwangjus verübt wurde, zum Opfer gefallen. Auf den insgesamt 325 Bildern, die Iveković von dem Archiv der May 18 Democratic Association for Honorable Persons and Victim’s Family zur Verfügung gestellt worden sind, sind die Toten oder Vermissten zu Lebzeiten zu sehen, die Augen geöffnet. Mit Hilfe von Photoshop und teilweise unter Verwendung zusätzlicher Fotografien senkte Iveković die Lider der Fotografierten auf digitalem Weg. So entstand eine Galerie etwa 316 rekonfigurierter, teilweise aus verschiedenen visuellen Informationen komponierter Schwarzweißbilder von Menschen, die den BetrachterInnen mit geschlossenen Augen gegenübertreten. Die also blicken, ohne zu schauen. Die den Blick nicht erwidern, sondern gestisch verweigern. Die sich dem Dunkel hingeben. So könnte man sprechen und schreiben. Aber kommt man so den Intentionen und Effekten der Intervention Ivekovićs tatsächlich näher? Welchen Status haben diese Porträts? Wie und was bedeuten sie? Warum ärgerte sich die Künstlerin so maßlos, als sie im Begleitheft der Gwangju Biennale und als Wandtext im Ausstellungsraum lesen musste, dass sie den Porträtierten die Augen geschlossen hätte, »um zu zeigen, dass diese ihre letzte Ruhe gefunden haben«?

Textbeitrag in Camera Austria International 113/2011, S. 11–22.

SEBASTIAN CICHOCKI

Yael Bartana: We Will Be Strong in Our Weakness

Auszug aus einem Eintrag vom

18. April

In der Nacht hat jemand in riesigen Buchstaben L.A.S.T.L.E.A.K. auf den Zaun des Kibbutz geschmiert. Ich weiß nicht, wofür die Abkürzung steht. Keiner weiß es. Ich fürchte, es könnte ein böser Zauber sein, ein polnischer Fluch, der uns allen den Tod wünscht, und dass wir in unserer eigenen Hölle schmoren. Das sind die schmerzlichsten Augenblicke – wenn man sich nicht auskennt, nichts versteht, die Sprache zerfällt. Sie scheint in einem Haufen dazuliegen, all diese Buchstaben und komischen Wörter mit ihren Zischlauten am Ende.

Ich frage noch einmal, wird man uns verstehen?

Eine falsche Annahme muss unweigerlich zu falschen Vergleichen führen.

Und was ist mit den Historikern?

Historiker sind in Polen unglaublich mächtig. Sie gelten fast so viel wie die Nationaldichter, deren Bedeutung zu Recht mit der der Propheten im alten Israel verglichen wurde. Die Verantwortung polnischer Historiker ist enorm. Es sind Personen, denen der Schatz der Identität anvertraut wurde, den sie sicher durch das Chaos bringen müssen. Um diesen Schatz zu bewahren, reicht es nicht, ihn einfach gut zu verstecken. Vergrabenes Geld verrottet, Währungen verfallen, Metallschmuck rostet. Unsere
Historiker unterziehen ihr Depot selten einer Revision. Sie denken nicht einmal daran, das historische Tabu zu verletzen, oder auch nur das Prinzip der Diskretion infrage zu stellen, das ihrem Club zugrunde liegt. Nach diesem Prinzip wäre das Eingeständnis, dass die von einem Historiker beschriebenen Ereignisse auf diesen selbst zurückwirken – ihn oder
sie erschrecken, berühren, verfolgen oder zur Aufgabe des Themas zwingen könnten –, etwas absolut Undenkbares.

Textbeitrag in Camera Austria International 113/2011, S. 23–34.

RAIMAR STANGE

Heidrun Holzfeind: Zur Innenseite der Aussenseite(r). 4 Fragmente

1. — AußenseiterInnen stehen immer wieder im kritischen Fokus der künstlerischen Arbeit von Heidrun Holzfeind, in ganz unterschiedlicher Weise. So zum Beispiel in dem Video »Demo Derby« (2001), in dem die gleichsam als asozial zu bezeichnenden Crash-Autorennen aus den USA porträtiert werden, die nichts anderes zum Ziel haben als Wagen zu Schrott zu fahren. In »The Romanians« (2002) steht die Geschichte eines 1990 vor dem Ceauşescu-Regime nach Österreich geflohenen Mannes und seiner Frau im Mittelpunkt des filmischen Geschehens, in »The Mystery Of God Revealed« (2004) ein 63-jähriger Sänger, Schauspieler und Schriftsteller und seine drei Jahre währende Odyssee durch diverse Obdachlosenheime und andere Sozialeinrichtungen. Die Videoprojektion »Exposed« (2005) stellt die Innenwelt einer 35-jährigen Tänzerin aus den USA vor, die an Chemieintoleranz leidet, aufgrund dieser chronischen Krankheit allergisch auf ihre Umwelt reagiert und daher gezwungen ist »außerhalb der Normen der Gesellschaft zu leben« (Heidrun Holzfeind). In 18 Videos der Arbeit »Mexico 68« (2007) werden ProtagonistInnen der 1968er Studentenbewegung in Mexiko interviewt, in »Colonnade Park« (2011) schließlich spricht die Künstlerin mit BewohnerInnen der titelgebenden Apartment-Anlage in Newark, die in diesen – für Amerika typischen – videoüberwachten und von Sicherheitsangestellten kontrollierten Wohnblöcken isoliert von ihrer Umgebung zu leben scheinen. So verschieden die Lebensgeschich-ten der hier vorgestellten (vermeintlichen) Außenseiter auch sind, gemeinsam ist ihnen, dass signifikante Probleme der Gesellschaft, in der ihr Leben stattfindet, in ihren Geschichten ablesbar werden. Die destruktiv-rücksichtslosen Aktionen der demolierenden Rennfahrer in »Demo Derby« etwa werden in dem Video, das mit der US-amerikanischen Nationalhymne – interpretiert von Jimi Hendrix – beginnt, dann auch treffend von einem Stadionsprecher mit den Worten »This is what America is all about« kommentiert. Aber nicht nur das: Die Essenz des unser aller Lebensraum gnadenlos zerstörenden Automobils steht in dem lapidar gefilmten und kommentarlos präsentierten Film zur ästhetischen Disposition.

Textbeitrag in Camera Austria International 113/2011, S. 35–46.

JULIA BRYAN-WILSON

Sharon Hayes

Was heißt: in Bildern sprechen? Wir haben versucht, einen Dialog über Bilder zu führen – als Teil eines längeren formellen wie informellen Gesprächs, in dem wir seit Jahren stehen. Es ist zum einen der Versuch, aus dem vorgesehenen KritikerIn-schreibt-über-KünstlerIn-Muster auszubrechen, zum anderen aber auch eine Möglichkeit, zu neuen Formen des Hindenkens zum Visuellen und Hindurchdenkens durch das Visuelle zu gelangen. Und drittens ist es auch eine Möglichkeit, die komplexen und miteinander verflochtenen Genealogien offenzulegen, die zu unserer jeweiligen Identität als Schreiberin bzw. Künstlerin beitragen. Worin besteht die Ethik eines solchen Denkens durch Bilder, eines solchen »Gebrauchs« von Bildern zum Auslösen von Gedanken, eines solchen Ziehens von vielleicht arbiträren Parallelen zwischen ihnen und weg von ihnen? (Oder ist die Frage müßig, da Bilder ja von Natur aus promisk sind?) In der Folge lassen wir die Bilder unser Gespräch leiten und achten dabei auf die eigenen Ambivalenzen.[…]

Liebe Sharon,
das übermäßige Posieren und die Gruppe der Augenzeugen hinter der Absperrung im Hintergrund fiel mir sofort auf … ich stimme dir zu, die Rassenpolitik wirft hier viele Fragen auf.
Ich musste bei diesem Bild an die Wiederkehr vergangener Traumata denken, das zwanghafte »Durcharbeiten«, wie es Freud nannte. Die Künstlerin Allison Smith, die sich in ihrer Praxis ständig mit Formen des Erinnerns und des Wiederholens beschäftigt, hat viel über Reinszenierungen des Bürgerkriegs gemacht. Für ein neueres Projekt von ihr hat sie in Militärmuseen zu Stoffgasmasken aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg recherchiert. Sie baute die Masken – an sich schon überaus zerbrechlich und merkwürdig aussehende Objekte, die zu fragil erscheinen, um Schutz vor den Schrecken des Giftkriegs zu bieten – in Handarbeit aus gewöhnlichen Materialien nach und machte dann nachgestellte Archivaufnahmen davon. Ich schicke dir eine, die auf unheimliche Weise an den Ku Klux Klan erinnert; sie passt zu dem Bild, das du gerade geschickt hast. Diese Schreckensgeschichte per Hand zu überarbeiten, wie es Allison tut, heißt, Handarbeit – die ja gewöhnlich als häusliche und konservative Produktionsweise gesehen wird – gegen den Strich zu bürsten. Allison hat diese Masken als eine Art verborgene Geschichte des textilen Handarbeitens beschrieben und zitiert Peter Sloterdijks Buch Luftbeben, in dem die Behauptung aufgestellt wird, die Moderne habe mit dem Gaskrieg begonnen. — Julia

Textbeitrag in Camera Austria International 113/2011, S. 47–58.

WALID SADEK

A Time to See 1/4. Die Gegenwart des Bildes

Stehen wir vor dem »Tod des Marat«, so tun wir das stets nachträglich, nach dem erfolgten Mord. Wir befinden uns in Gegenwart noch feuchter Tinte und ungeronnenen Blutes und halten bedauernd Ausschau nach einem Leben, das wir nur knapp verpasst haben. Mit dem Wunsch, das bedauerliche Zuspätkommen ungeschehen zu machen, indem wir durch das Gemälde zu dem zurückkehren, was es erzählt und verbirgt, arbeiten wir an der Gegenwart des Bildes mit. Davids Gemälde hängt in einer erweiterten Gegenwart, weil es von einem Mangel getragen ist, der mehr als nur unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht: Er zieht uns hinein in einen Affekt, in dem das visuell Gegebene dem Nicht-mehr-Sichtbaren zum Greifen nahe ist. Die Gegenwart des Bildes bleibt bestehen, solange das Nicht-mehr-Sichtbare noch nicht in die Emotion des Verlusts eingekapselt oder fest als Repräsentation encodiert ist. Es ist eine alles ergreifende Gegenwart, weil eine Rückkehr zum unweigerlich Vergangenen, eine Umkehrung der Ereignisse, ein Wiederaufrichten des Gefallenen fast noch möglich erscheint. Die Gegenwart des Bildes ist der Raum eines alles ergreifenden Affekts, der, anders als eine mehr oder weniger in den Grenzen der Subjektivität erlebte Emotion, eine den Betrachter durchflutende Intensität darstellt, die ihn stets in ein vorstellbares und nahezu greifbares Davor zurückversetzt.
In einer erweiterten Gegenwart hängend, unterzieht Davids »Der Tod des Marat« den konventionellen Akt der Bildbetrachtung einer impliziten Revision: Vor diesem Bild zu stehen, heißt, am Blick in eine Vergangenheit teilzuhaben, die wir uns wieder als Zukunft wünschen. Doch das Beunruhigende an Davids Gemälde ist das in der Idealisierung der Haut enthaltene Wissen, dass das, was wir vor Augen haben, nichts anderes ist als das letzte Bild einer angehaltenen Zeit. Jenseits davon könnte es geschehen, dass die Gegenwart des Bildes ihre Kontrolle über die Gegenwart des Sehens aufgeben muss, um auf verschlungenen Pfaden den unzähligen Lebenswegen verkörperter Augen zu folgen, die nicht mehr im Affekt des Zurückblickens aufgehen.

Textbeitrag in Camera Austria International 113/2011, S. 73–74.