Presseinformationen
Ines Schaber
Notes on Archives
Infos
Pressevorbesichtigung
21.9.2018, 9:30
Eröffnung
22.9.2018, 12:00
Zeitraum
23.9.–18.11.2018
Öffnungszeiten
Di – So, 10:00 – 17:00
Kuratiert von
Reinhard Braun
Zur Ausstellung erscheinen die ersten drei Bücher einer fünfteiligen Publikationsreihe in Kooperation mit Archive Books.
Die Ausstellung findet im Rahmen von steirischer herbst 2018 statt.
Pressedownloads
Pressetext
Seit 2004 verfolgt Ines Schaber in ihrer Arbeit die Idee eines »working archive«. In einer Reihe von Fallstudien, Texten und künstlerischen Projekten untersucht sie Aspekte des Archivs, die jedoch nicht das Sammeln und Ordnen von Dingen betreffen, sondern Möglichkeiten, aus der Konstellation des jeweiligen Archivs heraus dessen Wissensproduktionen zu befragen: Was fehlt den Archiven? Stößt man auf falsche Zuschreibungen? Wie beziehen sich Archive auf das Nicht-Sichtbare, das Undokumentierte, das Verschwundene – die vielen und vielfältigen Geister der Archive? Wie handhaben Archive die Krise des Dokuments, des Dokumentarischen und die Krise der Wahrheitsproduktion? »Ausgehend von der Annahme, dass das Archiv nicht nur ein Ort des Aufbewahrens, sondern auch ein Ort der Produktion ist, an dem sich unser Verhältnis zur Vergangenheit materialisiert und an dem sich unsere Gegenwart in die Zukunft einschreibt, verstehe ich das Archiv als einen Ort des Verhandelns und Schreibens.« (Ines Schaber) Oftmals ist der Ausgangspunkt ein bestimmtes Bild eines Archivs, das die Aufmerksamkeit der Künstlerin erregt oder das sie an etwas erinnert, zu dem sie (auch in Zusammenarbeit mit anderen KünstlerInnen und AutorInnen) recherchiert und um das herum sie eine Geschichte konstruiert, die sich jedoch nicht bestätigen lässt, weil die Personen, die darauf abgebildet sind, bereits verstorben sind und die offenen Fragen nicht mehr beantworten können (»Unnamed Series«, »Dear Jadwa«). In anderen Fällen finden sich widersprüchliche Angaben darüber, was auf dem Bild zu sehen ist (»Culture Is Our Business«), oder die ursprünglich mit den Bildern verfertigten Notizen und Kommentare wurden von den Bildern getrennt (»Picture Mining«). Ines Schaber besucht die Orte, an denen sich die Archive befinden oder Orte, an denen die Bilder entstanden sind, die sie aus den Archiven für ihre Arbeit »entwendet«. – An diesen Orten entstehen Landschaftsaufnahmen, die ihrerseits vom Verschwinden, vom Verschwundenen handeln; davon, dass Geschichte nicht repräsentierbar, sondern ebenfalls ein Gespenst der Gegenwart ist. Es ergeben sich also Fragen der verschiedenartigen Zirkulation von Bildern in verschiedenen Archiven, die unterschiedliche Lesarten bereitstellen oder für die überhaupt erst Leseweisen entwickelt werden müssen und für die sich immer die Fragen stellen: Wie lassen sie sich in unsere Gegenwart vermitteln? Was geschieht, wenn die Gespenster der Archive wieder zum Leben erweckt werden? In dieser Weise entwickelt Ines Schaber eine archivarische Praxis, in der eine Vielzahl von Problemen, die die Archive selbst hervorrufen, Teil eines Prozesses werden, der die künstlerische Praxis vorantreibt. So arbeitet Ines Schaber nicht primär über oder mit bestimmten Archiven, sondern verwandelt die Praxis an Archiven in eine Praxis künstlerischer Forschung. Für die Ausstellung bei Camera Austria, ihre erste institutionelle Einzelausstellung in Österreich, erarbeitet die Künstlerin neue Bezüge zwischen folgenden Serien der letzten Jahre: »Culture Is Our Business« (2004), »Picture Mining« (2006), »Unnamed Series« (mit Stefan Pente, seit 2008) und »Dear Jadwa« (2009).
Culture Is Our Business
Im Januar 1919 nahm der Berliner Fotograf Willy Römer eines seiner bekanntesten Bilder der deutschen Revolution auf: »Strassenkämpfe in Berlin«. Die Arbeit »Culture Is Our Business«, verfolgt das Bild durch verschiedene Archive, den Lebensweg des Fotografen und einen Irrweg an Verwertungsrechten. Ines Schaber stößt dabei auf zwei sehr unterschiedliche Archive: das Online-Bildarchiv von Corbis und die Agentur für Bilder zur Zeitgeschichte, ein privates Archiv in Berlin, die heute beide nicht mehr existieren, wenn auch aus gänzlich unterschiedlichen Gründen. Obwohl Willy Römers Fotografie seit Jahren gemeinfrei ist, haben beide Archive das Bild verwertet, der Rechtsnachfolger von Corbis – Unity Glory, ein Unternehmen der chinesischen Visual China Group – tut das bis heute, die Sammlung der Agentur für Bilder zur Zeitgeschichte wurde 2009 an die Bildagentur der Stiftung Preussischer Kulturbesitz verkauft. Man kann die Kämpfer nur von hinten sehen – zusammengekauert hinter riesigen Papierrollen warten sie darauf, zu schießen. Sie kommen aus unterschiedlichen Schichten – Arbeiter, Soldaten, jung und alt – aber sie sind vereinigt gegen die kaiserlichen Truppen, um das Druckhaus, das sie gerade erobert haben, zu verteidigen. Bei Corbis heißt es jedoch, es handele sich um kaiserliche Truppen, die Teile der Stadt gegen Aufständische verteidigen – eine Umkehrung der Geschichte, die aus dem Bild ein Dokument gegensätzlicher Bedeutungen macht. Am Ende schreibt Ines Schaber einen Brief an Bill Gates: »Ich war überrascht, dass diese Kämpfer einen Weg gefunden haben, sich in Deinen Kalksteinstollen einzuschmuggeln, immer bereit, weiterzukämpfen. Lebendig begraben, agieren sie wie Geister – immer bereit, zu kämpfen, auch wenn Du sie tief unter der Erde an einem Ort versteckst, der schwer zu finden ist. […] Hast Du manchmal Angst, dass sie zurückkommen? Es muss so sein. Wenn ich Du wäre, würde ich versuchen, sie gehen zu lassen.« Die Fotografie von Willy Römer eröffnet also einen Raum, der möglicherweise dem (Corbis-)Archiv selbst verborgen und den Regeln seiner Entstehung und Ordnung unzugänglich bleibt. Vielleicht muss in Archiven zuallererst dasjenige gesucht werden, das in ihnen nicht gefunden werden kann. Und vielleicht findet sich in dem, das nicht gefunden werden kann, die Möglichkeit, die Gespenster der Archive beim Namen zu nennen. Und vielleicht blitzt so etwas wie eine Wahrheit (der Geschichte) in jenen Momenten auf, in denen die Gespenster zum Sprechen gebracht werden.
Picture Mining
Im Januar 1911 fotografierte Lewis Hine im Auftrag des National Child Labor Committee (NCLC) in einer Kohlenmine in Pittston, Pennsylvania. Die Fotografien entstanden an zwei aufeinanderfolgenden Tagen und geben einem Jungen namens Angelo Ross breiten Raum. Wir wissen dies, da Hine seine Fotografien beschriftete und auch mit Kommentaren versah. Doch heute fehlen in den allermeisten Archiven, in denen Fotografien von Hine zu finden sind, diese Textergänzungen. In Butler, Pennsylvania – nicht fern von jenem Ort, an dem Hine die Kinderarbeit der kapitalistischen Moderne dokumentiert hat – findet sich heute eines der größten unterirdischen Archive. In dieser ehemaligen Kalksteinmine lagern auch viele Bilder Lewis Hines, darunter manche der Aufnahmen, die er in Pitts-ton gemacht hat. Wurden hier früher Ressourcen für die industrielle Produktion gefördert, beherbergt die Mine heute die staatlichen Archive des Verteidigungsministeriums der USA, die Sozialversicherungsdaten aller US-BürgerInnen sowie Bilder, Filme und Dokumente vieler Konzerne wie Disney und MGM. Und weil sich auch das Corbis-Archiv vor seiner Übernahme durch Unity Glory dort befand, war die Mine eine Zeit lang auch die »Heimat« der Bilder von Angelo Ross. Ähnlich wie Willy Römers Aufständische, die sich heute nicht mehr sicher sein können, für welche Seite sie eigentlich gekämpft haben, ist es auch ungewiss geworden, welcher Geschichte Angelo Ross angehört: jener der amerikanischen Dokumentarfotografie, jener der politischen Aufklärung und der Bürgerrechtsbewegungen oder jener des Niedergangs der Industrieproduktion der Moderne? Im Grunde können die Bilder von Angelo Ross für fast jeden erdenklichen Zweck gekauft werden, das Post-Industrielle trifft auf das Post-Faktische, die Dokumente der Archive sind zu Geistern ephemerer, und sich ständig ändernder Bedeutung geworden. Ines Schaber hat in der Umgebung der Mine Landschaftsaufnahmen gemacht, die ebenfalls einer geisterhaften Dokumentation gleichen: Sie zeigen einen Ort, der vom Niedergang der Ökonomie gekennzeichnet ist, eine post-industrielle Landschaft, die wie aus der Zeit gefallen scheint und selbst ein geisterhaftes Terrain geworden ist. »Picture Mining« ist von Fragen nach dem durchdrungen, was Bilder überhaupt zeigen können und welche Wirkung ihre Repräsentationen haben können: Glauben wir heute noch daran, wie es vermutlich Lewis Hine tat, dass das, was auf den Bildern zu sehen ist, die Welt verändert?
Unnamed Series (mit Stefan Pente)
Im April 1923 hält Aby Warburg, der durch seinen »Mnemosyne Atlas« der Kulturwissenschaft des 20. Jahrhunderts bedeutende Impulse lieferte, im Sanatorium in Kreuzlingen in der Schweiz einen Vortrag zum Schlangenritual der Hopi-Indianer, der seine geistige Gesundheit unter Beweis stellen soll, ist er doch dort wegen paranoider Schizophrenie seit 1921 in Behandlung. 2008 sehen Ines Schaber und Stefan Pente, mit dem Ines Schaber dieses Projekt realisiert hat, im Studio befreundeter KünstlerInnen in New York einen Kontaktabzug der Fotografin Karen Peters, auf dem Aufnahmen des Palace Hotel in Santa Fe zu sehen sind, das 1930 abgebrannt ist und seitdem mehrmals umgebaut wurde. In diesem Hotel traf Aby Warburg 1898 den Hopi-Priester Cleo Jurino, der dem Historiker bei diesem Treffen das Ritual aufzeichnete. Der Vortrag im Kreuzlinger Sanatorium und das dabei verwendete Bildmaterial sollten auf Wunsch Warburgs niemals veröffentlicht werden. Nach seinem Tod wurde das Material jedoch als Teil seines Nachlasses gesichtet und, wie es sich so ergibt, sind die Bilder Jahrzehnte später plötzlich da, hochglanzgedruckt in gebundenen Büchern und womöglich auch in Ausstellungen. Wie, so fragen sich Ines Schaber und Stefan Pente, soll man sich Bilder ansehen, die nie gemacht hätten werden sollen und die man folglich nie hätte sehen sollen? Mit welcher Erfahrung waren sie verbunden, die jedoch von Warburg selbst unterdrückt wurde? Heute lassen sie sich nicht mehr ungesehen machen, man kann sie nicht einfach wieder verschwinden lassen. Was sollten sie ursprünglich repräsentieren oder belegen? Was repräsentieren oder belegen sie heute? In einem Brief an Aby Warburg stellen Schaber und Pente diese Fragen. Es ist dieser Umgang mit den Bildern, über den sie – unmöglicherweise – mit Aby Warburg sprechen wollen würden. War im Falle Willy Römers und Lewis Hines etwas verschwunden, das die Bedeutung der Bilder im Augenblick ihres Entstehens maßgeblich bestimmt hat, so ist im Falle Aby Warburgs plötzlich etwas zu sehen, das eigentlich unsichtbar hätte bleiben sollen. Was aber tun mit dieser Mehr-als-Sichtbarkeit? Etwas wird dem Archiv vorenthalten, weil es seiner Ordnung zu widersprechen scheint, weil es die Ordnung eines Archivs in Unordnung bringen könnte, so lässt sich vermuten. Laut Warburg war er selbst nicht in der Lage, über das Ritual zu sprechen, so lange er noch gesund war, sondern nur in einem Zustand der Ver-Rücktheit, weshalb er wohl später die Publikation untersagte. »Du konntest nie darüber sprechen, was du unter dem unermesslichen westlichen Himmel erfahren hast. Etwas muss dich überwältigt haben, das unaussprechlich geblieben ist. Aber wie kann jemand einen Weg finden, das Unaussprechliche auszusprechen?« (Pente und Schaber)
Dear Jadwa
2008 präsentierte die Galerie in Umm el-Fahem (Israel) in einer Ausstellung die Gründung eines fotografischen Archivs, mit der sie den Kunsthistoriker Dr. Mustafa Kabha und den Fotografen Guy Raz beauftragt hatte: »Memories of a Place: The Photographic History of Wadi ‘Ara, 1903–2008«. In Israel existierte bis zu diesem Zeitpunkt keine fotografische Sammlung arabischer Kultur. Das Konzept des Archivs, sich auf den Ort und nicht auf die Identität des Gezeigten oder der Fotografen zu konzentrieren, wurde schließlich zum Ausgangspunkt der Arbeit »Dear Jadwa«. »Was sind die verschiedenen Zugänge, eine Bildgeschichte der PalästinenserInnen aufzubauen?« und »Was soll es ermöglichen?« waren die zentralen Fragen an das Archiv in Umm el-Fahem, was wären die Potenziale und was wären seine Grenzen? Nachdem Ines Schaber bereits Erfahrung mit der Recherche in westlichen Archiven hatte, findet sie – nachdem sie dort nach Fotografien aus der Region gesucht hatte – schließlich in der Matson Collection der Library of Congress in Washington zwei Gruppenfotos der »Arab Ladies’ Union Meetings« im King David Hotel in Jerusalem im Jahr 1944. Zwischen 1881 und 1934 gab es in Israel die Amerikanische Kolonie, eine christliche Sekte, deren Mitglieder aus den USA und Schweden nach Jerusalem emigriert waren. 1944 hatten allerdings die meisten Mitglieder das Land wieder verlassen, bis auf Eric Matson und ein paar andere Fotografen. Die beiden Fotografien sind bemerkenswert, weil es sonst kaum Dokumente der politischen Organisation palästinensischer Frauen gibt, obwohl bereits 1929 die »Arab Women’s Association of Palestine« gegründet worden war. Niemand in Umm el-Fahem kannte die Fotografien oder irgendeine der Frauen, die darauf zu sehen sind. Eine einzige Frau ist allerdings auf beiden Fotografien in der Mitte zu sehen, Ines Schaber nennt sie Jadwa – mittlerweile hat sie herausgefunden, dass ihr Name Huda Sha‘rawi lautet.
»Eine Frage bleibt, jene Frage, mit der ich begonnen habe: Wo dachtest du würde diese Fotografie gezeigt werden und wo würdest du wollen, dass diese Fotografie gezeigt wird? Dachtest du, sie könnte eine Verbindung herstellen zwischen Erinnerung, Wirklichkeit und Sprache? Vielleicht findest du ja einen Weg, mit mir in Kontakt zu treten. Hochachtungsvoll, Ines.« Was hat Jadwa dort getan, worüber haben die Frauen diskutiert und warum und wofür wurde dieses Gruppenfoto aufgenommen? Wie lauteten die Forderungen, die diese Frauen an uns heute stellen?
Das Archiv ist hier – wie in allen erwähnten Projekten – ganz offensichtlich nicht der Forschungsgegenstand, sondern der Ausgangspunkt einer Reihe von Fragen, die das Archiv selbst jedoch nicht beantworten kann. Die Archive erscheinen nicht repräsentativ – repräsentativ wofür überhaupt? Gibt es notwendige illegitime Fragen an die Archive, die ein ebenso notwendiges illegitimes und unterdrücktes Wissen freilegen könnten, ganz so, wie es Michel Foucault in seiner Genealogie formuliert hat? Die Hoffnung auf eine Übereinstimmung zwischen Erinnerung, Wirklichkeit und der Sprache, in der diese Übereinstimmung erzählt werden könnte, ist an die Hoffnung geknüpft, eine Stimme aus dem Archiv möge in die Gegenwart reichen, die Stimme eines Gespenstes könnte mit uns, mit der Künstlerin, Kontakt aufnehmen und die zahllosen Fragen beantworten, die all die in Archiven versunkenen, isolierten, kommerzialisierten, fragmentierten, umbenannten, marginalisierten, vergessenen Fotografien aufwerfen.
Reinhard Braun
Bildmaterial
Die honorarfreie Veröffentlichung ist nur in Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Ausstellung und die Publikation gestattet. Wir ersuchen Sie die Fotografien vollständig und nicht in Ausschnitten wiederzugeben. Bildtitel als Download unter dem entsprechenden Link.