Presseinformationen
Isa Rosenberger
. . . das weite Land, woher sie kommt
Infos
Hrsg. von Reinhard Braun.
Anlässlich der Ausstellung »Isa Rosenberger . . . das weite Land, woher sie kommt«,Camera Austria, Graz, 2. 6. – 30. 8. 2020.
Mit einem Textbeitrag von Nora Sternfeld (ger./eng.).
Edition Camera Austria, Graz 2020.
32 Seiten, 13 × 21 cm, zahlreiche Farbabbildungen.
€ 10,– / ISBN 978-3-902911-56-8
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Pressetext
Auszug aus dem Text »Sich von den Lücken her das Material erschließen, ohne sie zu schließen« von Nora Sternfeld
Die Installation von Isa Rosenberger umkreist ein Material, über das wir allzu wenig wissen. Der Ausgangspunkt, um den sich die künstlerische Recherche dreht, ist eine Tanzaufführung am Sonntag, dem 29. April 1934, im Volksheim Ottakring – wie die Volkshochschule, die bis heute wesentliche populäre Bildung quer zum akademischen Betrieb anbietet, damals hieß.
Das Programmheft, das Isa Rosenberger im Österreichischen Volkshochschularchiv in Wien gefunden hat, kündigte einen Tanzabend von Gertrud Kraus und ihrer Gruppe an, an dem das Tanzspiel »Die Stadt wartet« aufgeführt werden würde. Ausgehend von diesem Moment geht die künstlerische Arbeit dem Material nach, stellt Fragen, die Rosenberger mit den Mitteln der Recherche beantworten kann, und verfolgt konsequent auch jene, die keine endgültige Antwort zulassen, deren Lücken und Widersprüche offenbleiben. Wir erfahren also von einem weitgehend unbekannten Text von Maxim Gorki und seiner Adaption als Tanzstück, wir folgen der Geschichte von Gertrud Kraus, einer Tänzerin und Choreografin, die den Ausdruckstanz geprägt hat, begegnen dabei einem Kapitel expressionistischer Wiener Tanzgeschichte, das wesentlich von Frauen, wesentlich von Jüdinnen, getragen war, wir erahnen etwas von der Bedeutung der Avantgardegeschichte der Wiener Volksbildung, aber auch von dem, was fehlt, weil all dies mit den Nazis ein abruptes Ende fand und die Geschichte hier nicht weitergeschrieben werden konnte. Wir begegnen also auch einer Migrationsgeschichte, einer Geschichte der Brüche, des Exils und des Neuanfangs, und erhalten dabei wiederum Einblicke in die zionistische Tanzgeschichte. […]
Eine Serie von Fotografien, die aktuelle Aufnahmen der Performance-Künstlerin Loulou Omer auf der historisch erhaltenen Bühne der heutigen Volkshochschule zeigen, führt in das Thema ein. Gemeinsam mit Loulou Omer, die in Tel Aviv geboren ist und seit 2016 in Wien lebt, hat Isa Rosenberger einen Weg gefunden, sich einem Material anzunähern, das gerade dadurch etwas verständlich macht, indem es mehr Fragen offenlässt, als es beantwortet. […] Die Fotoserie bezieht sich auf da Tanzstück »Die Stadt« von Marcel Rubin, das szenisch am 5. März 1933 im Volksbildungshaus Stöbergasse unter dem Titel »Die Stadt wartet« mit einem verbindenden Text von Elias Canetti uraufgeführt und dann eben am 29. April 1934 in Ottakring gezeigt wurde. Das Stück selbst wiederum hat ein Märchen von Maxim Gorki als Vorlage. Thema ist die Stadt der 1930er-Jahre und so ist es wohl geprägt von Anziehung, Licht und Tanz, von Arbeitslosigkeit, Not und aufsteigender Gewalt. Isa Rosenberger hat die Noten und den Text des Stücks gefunden. Wir wissen daher, dass das erste der insgesamt neun Musikstücke des Werkes den Titel »Der Knabe auf dem Weg in die Stadt« trägt. Rosenberger hat auch das kurze Märchen von Maxim Gorki mit dem klingenden Titel »Musik der Großstadt« gefunden, hat seine vier Seiten abfotografiert, sodass wir die Geschichte lesen können. Das Märchen erzählt von einem Jungen, der sich der großen Stadt annähert. Eigentlich erzählt es von einem Musiker, der eine Musik über einen Jungen schreiben will, der sich auf den Weg in die Stadt macht. Während vor dem Hintergrund »[des] weite[n] Land[es], woher er kommt«, alles anfangs gefährlich wirkt, wird die Stadt immer attraktiver, je mehr er sich ihr nähert. Sie ruft ihn geradezu. Das Märchen endet damit, dass der Musiker nachdenklich lächelnd feststellen muss, dass aber dies, nämlich der Ruf und die Erwartung, »natürlich nicht in Musik gesetzt werden« kann. Was lässt sich schon darstellen von dem, was zurückgelassen wird, von dem, was kommt? Und natürlich geschah gerade das ja doch. Und mit großem Erfolg. Gertrud Kraus’ expressionistische Inszenierung, in der sie selbst die Rolle des Knaben übernahm, war offensichtlich »voller Dynamik und ekstatischer Vision«, wie wir aus der Ankündigung der Veranstaltung im Volksheim Ottakring erfahren, ebenso wie, dass die Uraufführung auf großes Interesse gestoßen war. Ein Pressebericht wird zitiert: »Das war mehr als brillante Choreographie, das war schon Raumdichtung.« Wie lässt sich nun heute auf eine solche Raumdichtung Bezug nehmen? Lässt sie sich, möchten wir fast mit Gorkis Musiker fragen, in bildende Kunst setzen? Und vor allem, wie lässt sie sich verstehen, wie kann eine verborgene Geschichte geschrieben werden, ohne zu überschreiben, was sich nicht rekonstruieren lässt? Diese Fragen führen uns zurück zu den Fotografien, zu der heutigen Volkshochschule, zu Loulou Omer und auf das zentrale Video der Installation. […]
Die Kamera durchstreift die leeren Sitzreihen, die avantgardistisch dreieckig angelegte Bühne des historischen Aufführungssaals, wie er bis heute in der Volkshochschule Ottakring existiert und bespielt wird. Vor der Bühne steht ein Klavier. Loulou Omer, Tänzerin und Musikerin, die wir bereits von der Fotoserie kennen, spielt die Noten des Stücks an, sie erzählt eine Geschichte, ihre Geschichte. Es gibt kein historisches Dokument, das einen visuellen Eindruck darüber vermitteln könnte, wie die Aufführung 1934 aussah. So nimmt Loulou Omer die Musik des Tanzstücks, den Text von Canetti, aber auch historische Zeugnisse und Fotografien von Gertrud Kraus zum Anlass, um es zu aktualisieren und zu verstehen.
Isa Rosenberger, geboren 1969 in Salzburg (AT), lebt und arbeitet in Wien (AT), Studium an der Universität für angewandte Kunst in Wien und an der Jan van Eyck Academie in Maastricht (NL). Unterrichtet als Senior Lecturer an der Akademie der bildenden Künste Wien. Einzelausstellungen (Auswahl): 2019 »… das weite Land, woher sie kommt«, Kunsthalle Exnergasse, Wien; 2014 »Café Vienne«, Skirball Cultural Center, Los Angeles (US); 2011 »Espiral«, Grazer Kunstverein, Graz (AT); 2009 »Nový Most«, Edith-Russ-Haus für Medienkunst, Oldenburg (DE); 2008 »Nový Most«, Secession, Wien. Gruppenausstellungen (Auswahl): 2020 »›Der Traum von einem Feentempel‹: Künstlerische Interventionen zu nie gebauten Festspielhäusern«, Salzburger Festspiele; 2018 »CrossSections Trilogy«, Kunsthalle Exnergasse, Wien; »30 Jahre Generali Foundation: In Dialog mit 1918 1938 1968«, Museum der Moderne Salzburg; 2017 »Spiegelnde Fenster: Reflexionen von Welt und Selbst«, Belvedere 21, Wien; »Auf ins Ungewisse: Peter Cook, Colin Fournier und das Kunsthaus«, Kunsthaus Graz; 2016 »Bergen Assembly«, Bergen (NO); »Putting Rehearsals to the Test«, VOX – Centre de l’image contemporaine, Montreal (CA); 2015 »Hotel Metropole: Der Erinnerung eine Zukunft geben.«, Into The City | Wiener Festwochen, Wien; 2014 »Lenin: Icebreaker«, LENTOS Kunstmuseum Linz (AT) und Murmansk / 5th Moscow Biennale of Contemporary Art (RU); 2013 »It’s The Political Economy, Stupid«, Pori Art Museum, Pori (FI), und Gallery 400 – University of Illinois at Chicago (US). 2008 erhielt sie den Msgr. Otto Mauer Preis und 2012 den Outstanding Artist Award für Video- und Media Art.
Nora Sternfeld ist Kunstvermittlerin und Kuratorin. Seit Januar 2018 ist sie documenta Professorin an der Kunsthochschule Kassel (DE). Von 2012 bis 2018 war sie Professorin für Curating and Mediating Art an der Aalto University in Helsinki (FI). Darüber hinaus ist sie Co-Leiterin des /ecm – Masterlehrgang für Ausstellungstheorie und -praxis an der Universität für angewandte Kunst Wien (AT), im Kernteam von schnittpunkt. ausstellungstheorie & praxis (AT), Mitbegründerin und Teilhaberin von trafo.K, Büro für Bildung, Kunst und kritische Wissensproduktion (Wien) und seit 2011 Teil von free-thought, Plattform für Forschung, Bildung und Produktion (London, GB). In diesem Zusammenhang war sie auch eine der künstlerischen Leiter*innen der Bergen Assembly 2016 (NO). Sie publiziert zu zeitgenössischer Kunst, Ausstellungen, Geschichtspolitik, Bildungstheorie und Antirassismus.
Bildmaterial
Die honorarfreie Veröffentlichung ist nur in Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Ausstellung und die Publikation gestattet. Wir ersuchen Sie die Fotografien vollständig und nicht in Ausschnitten wiederzugeben. Bildtitel als Download unter dem entsprechenden Link.