ADAM SZYMCZYK

Karneval der Knappheit

AS Wie fühlte es sich an, als du 1991 nach über zehn Jahren Aufenthalt in Moskau wieder nach Bratislava zurückkehrtest?
AD Ich wurde irgendwann richtig deprimiert, weil ich ein ganz anderes Leben gewohnt war. Bei Tschechoslowaken machte man sich verdächtig, wenn man sich für das Leben in der UdSSR interessierte. Ich erschien ihnen womöglich als regimetreue Karrieristin. Und den Leuten in Moskau kam ich ebenfalls komisch vor. Ich war kein Parteimitglied, und hatte doch beschlossen, in der Sowjetunion zu leben und Sowjetbürgerin zu werden. Überdies passte ich mich gut an und wurde eine der ihren, einfach aus privaten Gründen. Es gab da ein Leben und Menschen; mein Kreis war einfach wundervoll und ich würde es wieder tun, klar?
AS Wie würdest du dieses Leben beschreiben?
AD Es glich einer ständigen Notsituation, in dem Sinn, dass es einen täglichen Kampf um die einfachsten Dinge des Lebens gab. In meinem Fall kam hinzu, dass ich von der Polizei und vom KGB verfolgt wurde. Zum Glück setzte die Perestroika ein, und es kam nicht ganz so schlimm, denn auf Homosexualität standen fünf bis acht Jahre Lager, und ich lebte in einer homosexuellen Beziehung. Ich nenne es Homosexualität, weil wir damals kein anderes Wort dafür hatten. Für meine Freunde und mich hatte es nichts Krankhaftes oder Abnormales. Angesichts dessen, dass man in der UdSSR schnell in psychiatrische Behandlung (eigentlich ein Gefängnis) geriet, wenn man sich irgenwelche Freiheiten herausnahm – und das fing schon bei der kleinsten Kritik des Regimes oder davon abweichenden Meinung an – war uns allen klar, dass es absolut normal ist.
AS Es passierte alles völlig im Geheimen?
AD Ja, ganz im Geheimen. Ich machte auf Hetero, spielte der Künstlerunion, dem offiziellen Betrieb, eine heterosexuelle Existenz vor. Ich gab nie etwas aus meinem wirklichen Leben preis. Ich lebte in einer Beziehung mit einer heterosexuellen Frau, was in unseren Kreisen überhaupt kein Problem war. Im Allgemeinen kümmerte man sich nicht um das Leben der anderen; die größte Sorge war das Beschaffen von Lebensmitteln, solche alltäglichen Notwendigkeiten, die unsere ganze Energie erforderten. Außerdem lebten wir in einer Großstadt. Du konntest also mit einer Frau auf der Straße Händchen halten, ohne dass das zum Problem wurde. In Bratislava oder Prag hätte ich das zu der Zeit gar nicht erst versucht, weil man damit aller Wahrscheinlichkeit nach feindselige Reaktionen auf sich gezogen hätte.

Textbeitrag in Camera Austria International 148/2019, S. 9–18.

DUNCAN FORBES

Der letzte Straßenfotograf

Im Mai 1983 reiste der 1954 geborene japanische Fotograf Keizo Kitajima von Tokio nach Westberlin, wo er sich für achtzehn Monate niederließ, um in Europa, im Osten wie im Westen, als peripatetischer Straßenfotograf zu arbeiten. In Japan hatte er gerade den Kimura-Ihei-Preis gewonnen, eine hohe Auszeichnung für einen jungen Fotografen. Nach seiner kurzen, sieben Jahre zurückliegenden Ausbildung an der Tokioter WORKSHOP-Fotoschule hatte er bereits aufsehenerregende Serien in den Straßen von Okinawa, Tokio und New York aufgenommen. Kitajimas spezifisches Interesse am kommunistischen Block war ziemlich ambitioniert und er musste jede Menge Hindernisse überwinden, um seiner Arbeit nachgehen zu können. Die Übersiedlung erwies sich aber auch als aufschlussreich, weil ihm in Folge jenes »Wahrnehmungssystem«, wie er es nannte, das bis dato seine Praxis dominiert hatte, bewusst wurde.¹ Tatsächlich wurde die Straßenfotografie für Kitajima, während er Europas Städte durchwanderte, ein Ding der Unmöglichkeit.
Wie ist Kitajima in diese ausweglose Situation geraten? Welche merkwürdigen Wege haben ihn quer durch das dynamischste Genre der Nachkriegsfotografie dorthin geführt? War sein Zaudern womöglich repräsentativ für das Schicksal der Straßenfotografie als solche? Diese Frage ist viel zu umfassend, um sie hier zu beantworten, was aber besonders ins Auge sticht, ist der Zusammenhang zwischen Kitajimas Arbeit in Europa und dem beginnenden Niedergang des Kalten Kriegs. War das Wandern des Fotografen weit über Berlin hinaus vielleicht sogar ein diagnostisches Manöver und der Versuch, die individualistischste Form der Fotografie in der Konfrontation mit ihrem kollektivistischen Anderen bloßzustellen? Oder ist diese Serie als eine weitere japanische Abwendung vom Medium Fotografie zu verstehen – Adieu, Straßenfotografie, sozusagen? Kurzum, war Keizo Kitajima der letzte große modernistische Straßenfotograf?
Zur Straßenfotografie kam Kitajima durch seinen Lehrer und engen Weggefährten Daido Moriyama. Im Jahr 1975, nachdem er sein Jurastudium abgebrochen hatte, trat er in eine Klasse von Moriyamas WORKSHOP-Fotoschule ein, die mit Abstand beste aller Ausbildungen. Die Schule sollte die nächste Welle japanischer Fotograf*innen hervorbringen, war aber gleichzeitig auch ein Weg, um Luft zu holen, produzierte sie doch eine Art von Kontinuität, die Mitte der 1970er-Jahre half, die bestehenden sozialen und (in Moriyamas Fall) kreativen Krisen durchzustehen.

¹ Kitajima Keizo 1975–1991. Koza, Tokyo, New York, Eastern Europe, U. S. S. R., Tokio: Sankei Shinbunsha 2009, S. 206.

Textbeitrag in Camera Austria International 148/2019, S. 19–28.

FRANZISKA SCHMIDT

Ich-Körper

Bröckelnde Festungen¹ – Lebenslinien
»ich bin eine frau aus einem land / das es nicht mehr gibt / und gehe durch länder / die es für mich nie gab«² Sich immer wieder gegen Widerstände behaupten zu müssen und sich von diesen nicht beirren zu lassen, sondern sie zu überwinden, um Neuem offen und bestimmt entgegentreten zu können, ist bis heute eine von Gabriele Stötzers3 großen Stärken. Mit ihren künstlerischen Selbstbehauptungen und -erkundungen agiert sie seit Anfang der 1980er-Jahre bis heute in einem unermüdlichen Mit-sich-Ringen als Frau, Schriftstellerin und bildende Künstlerin. Wie ein lebendiges Gewebe spinnt sich das vielschichtige Œuvre Stötzers zu einem ganz eigentümlichen, kraftvollen Kosmos. Dieser ist in seiner »parallelen Vielfalt«4 an Zeichnungen, Malerei, Bildhauerei, Textilkunst, Keramik, Mode sowie Performances, Filmen, Fotografien, Künstlerbüchern, Prosawerken, Gedichten und Texten eindrucksvoll und überbordend zugleich. Von der eigenen Existenz und Identität, der körperlichen sowie seelischen Präsenz im Bild und Text durchdrungen, findet das Werk gleichsam seinen Ausdruck in mannigfaltigen künstlerischen Codes sowie Zeichensystemen. Stötzers Arbeiten richten sich dabei nicht nur gegen tradierte Rollenmuster, sondern auch gegen eine vom damaligen System DDR betriebene Auslöschung der individuellen Persönlichkeit.
Bereits während ihres Studiums der Germanistik und Kunsterziehung an der Pädagogischen Hochschule Erfurt übertrat Stötzer mit ihrer Unterschrift unter einer Petition gegen die Exmatrikulation eines kritischen Kommilitonen die vom Staat auferlegten Grenzen, was zu einem Hochschulverweis und der »Bewährung« in der Produktion führen sollte. Ihre Unterschrift gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns im August 1976 brachte sie dann in Haft, verurteilt zu einem Jahr wegen »Staatsverleumdung«. Ihre künstlerische Kraft und Intensität begründen sich letztendlich vor allem aus den psychischen und physischen Seinserfahrungen, die sie während dieser Zeit im Frauengefängnis Hoheneck durchleben musste.
Nach ihrer Entlassung und einer dreijährigen »Reintegrationsmaßnahme« in einer Schuhfabrik begann mit dem Kauf eines Webstuhls ihr Dasein als Künstlerin, unabhängig und im sogenannten Untergrund. Das Arbeiten mit Textilien, das Weben, Spinnen und Nähen finanzierten nicht nur ihr Leben, zugleich war die Rückbesinnung auf alte Frauenkünste ein reinigender Prozess, der Erfahrenes und Traumatisches in neue Denkräume lenken und das innere Chaos disziplinieren konnte. Die Kunst und das Schreiben wurden zur Überlebensnotwendigkeit, die Fotografie letztendlich zum Bilddokument einer inneren Transformation.

¹ Vgl. Gabriele Stötzer, Die bröckelnde Festung, München: P. Kirchheim Verlag 2002.
² Gabriele Stötzer-Kachold, »weben«, in: dies., grenzen los fremd gehen, Berlin: janus press 1992, S. 3.
3 Von 1973 bis 1979 verheiratete Kachold, bis 1991 Stötzer-Kachold. Im Text wird durchweg ihr heute wieder gebräuchlicher Mädchenname Stötzer verwendet.
4 Beatrice Ellen Stammer, »Parallele Vielfalt. Eine persönliche Annäherung an die Künstlerin Gabriele Stötzer«, in: Ulrike Bestgen, Wolfgang Holler (Hg.), Gabriele Stötzer. Schwingungskurve Leben, Weimar: Klassik Stiftung Weimar 2013, S. 13–19, hier S. 13.

Textbeitrag in Camera Austria International 148/2019, S. 29–38.

KAELEN WILSON-GOLDIE

Ein lockerer, elliptischer Dialog

Als die Künstlerin und Filmemacherin Katia Kameli an ihrem experimentellen, dokumentarischen und mittlerweile mehrteiligen Film »Le Roman Algérien« (Der algerische Roman, 2016, 2017, 2019) zu arbeiten begann, sah sie nicht voraus, dass zu ihrer genauen Studie über einen eigentümlichen Kiosk, der auf einer pittoresken Straße im Zentrum Algiers alte, nostalgische Fotografien verkauft, noch weitere Kapitel hinzukommen würden. Ebenso wenig sah sie voraus, dass ihre Arbeit über das unvollendete Geschäft der Vergangenheit – das Erbe der Kolonisierung und Dekolonisierung in Algerien – in eine zeitgenössische Protestbewegung münden würde – und in die Versuchung, Spekulationen über die Möglichkeit einer besseren, gleich hinter dem Horizont der Gegenwart liegenden Zukunft anzustellen. Während sie 2016 im Auftrag des Marseiller Musée des civilisations de l’Europe et de la Méditerranée (Mucem) an »Le Roman Algérien (Chapitre un)« arbeitete, war Kameli vornehmlich damit beschäftigt, aus den denkbar schlecht verlaufenden Dreharbeiten am Originalschauplatz genügend gutes Material herauszudestillieren, um eine passable Montage zustande zu bringen.
Kurzum, als Kameli an dem Film zu arbeiten begann, ahnte sie nicht, dass er zum ersten Teil einer Trilogie werden würde. »Ich wusste es, als ich mit dem Schneiden begann«, erklärte sie mir vor Kurzem, »und vielleicht ein wenig zu Beginn der Dreharbeiten.« Vordergründiges Thema des Films war ein Wanderkiosk, der seine Waren in der Rue Larbi Ben M’Hidi, an einer Fassade im Parterre eines Kolonialbaus feilbot. Der von einem Mann namens Farouk Azzoug zusammen mit seinem Sohn betriebene Kiosk verkaufte alte Postkarten und Archivfotos mit Motiven aus dem 18. Jahrhundert bis in die 1980er-Jahre. Bei den Bildern handelte es sich vorwiegend um Reproduktionen von Genregemälden, Stadtansichten, Art-deco-Werbung oder Politikerporträts. Für den Film organisierte Kameli Interviews mit einer Reihe von Personen, die im Sitzen in die Kamera sprechen. Aber aus irgendwelchen Gründen erwies sich ein Großteil des Interviewmaterials am Ende als unbrauchbar, sodass Kameli nach einer formalen Lösung suchen musste. Dies ist der Grund für den packenden Rhythmus des Films, der zwischen Stand- und Bewegtbildern oszilliert, während die Interviewpartner*innen aus dem Off sprechen. Es ist ein Film, in dem Zeit und Ort auf verschiedenen Spuren zu laufen scheinen. Kameli wurde klar, dass sie ein größeres Thema – die Zirkulation der Bilder und Geschichten, die wir einander über die Vergangenheit erzählen – gerade erst gestreift hatte.

Textbeitrag in Camera Austria International 148/2019, S. 39–48.

VOLKER WEISS

Biografie der Zeichen – Die Zehner Jahre

Eiko Grimbergs Bildkonvolut »Zehner Jahre« (seit 2010) konfrontiert die Betrachter*in mit symbolischen Raumnahmen und Deutungskämpfen, die sich sowohl synchron als auch diachron entfalten können. Sein Interesse gilt ebenso zeitgenössischen Graffiti wie den baugeschichtlichen Spuren jener Zeichen, mit denen sich der italienische Faschismus in das zukünftige Erscheinungsbild der Städte des Landes einschreiben wollte. Mit archäologischem Blick legt der Fotograf zudem ein Paradox frei: den Umschlag einer geplanten Zukunft in eine ungeplante Vergangenheit. Die heutige Adaption faschistischer Symbolik fungiert dabei wie eine Brücke zwischen den Zeiten. Die Bilder geben Auskunft über das Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach einer die Zeit überdauernden symbolischen Dominanz einerseits und den durch den historisch-politischen Wandel aufgezwungenen Brüchen andererseits. Beide Symbolwelten, die historische wie die gegenwärtige, sind dabei aktiv und passiv selbst immer wieder Gegenstand (um-)gestaltender Intervention. Die Arbeit handelt von der Biografie der Zeichen, ihrer Migration und den Kämpfen durch Aneignungen und Subversionen bis hin zu semantischen wie politischen Wiederbelebungsversuchen.

Die Bilder dokumentieren zugleich eine Dekade im Konflikt komplementärer Kräfte, die sich für die Zukunft rüsten, aber ihre Legitimation aus der Vergangenheit beziehen. Neofaschist*innen und Islamist*innen dringen in den öffentlichen Raum. Grimbergs Aufnahmen entstanden zeitlich fast parallel zu seiner Arbeit »Future History« (2010 – 2019), mit der der Fotograf bereits die Frage nach dem Schicksal der Avantgarde in einer späteren Rückschau gestellt hatte. Schon da zeigt das Gros der Bilder italienische Sujets. Denn dort hatte die architektonische Schule des Razionalismo, eine Adaption des modernen Bauens, den Faschismus aufgrund dessen revolutionärer Rhetorik und totalitären Anspruchs zu seiner politischen Entsprechung erkoren. Wie bereits die vorbereitende Bewegung des Futurismus hatte sich auch der Razionalismo zunächst gegen die im Land allgegenwärtige Vergangenheit gewandt, der bislang die architektonischen Formen entlehnt worden waren. […]

Durch diese historischen Referenzen war der avantgardistische Anspruch konterkariert worden. Grimbergs Bilder stellen nun weiter die Frage, was aus dieser bereits in ihrer Zeit gebrochenen Zukunftsvision wurde. Welche Spuren hat eine Gestaltung hinterlassen, die etwas radikal Neues zu setzen vorgab, sich aber selbst nicht aus der Geschichte zu lösen vermochte? Wie repräsentiert sich diese futuristische Vergangenheit in der Gegenwart, wie präsentiert die Gegenwart diese Vergangenheit und gestaltet sie weiter? Lässt sich an der Pforte der Bedeutung dauerhaft ein Wächter aufstellen?

Textbeitrag in Camera Austria International 148/2019, S. 49–58.